Lesejahr B: 2023/2024

2. Lesung (Hebr 7,23-28)

23Auch folgten dort viele Priester aufeinander, weil der Tod sie hinderte zu bleiben;

24er aber hat, weil er in Ewigkeit bleibt, ein unvergängliches Priestertum.

25Darum kann er auch die, die durch ihn vor Gott hintreten, für immer retten; denn er lebt allezeit, um für sie einzutreten.

26Ein solcher Hohepriester ziemte sich in der Tat für uns: einer, der heilig ist, frei vom Bösen, makellos, abgesondert von den Sündern und erhöht über die Himmel;

27einer, der es nicht Tag für Tag nötig hat, wie die Hohepriester zuerst für die eigenen Sünden Opfer darzubringen und dann für die des Volkes; denn das hat er ein für allemal getan, als er sich selbst dargebracht hat.

28Das Gesetz nämlich macht Menschen zu Hohepriestern, die der Schwachheit unterworfen sind; das Wort des Eides aber, der später als das Gesetz kam, setzt den Sohn ein, der auf ewig vollendet ist.

Überblick

Gottessohnschaft statt menschlicher Sterblichkeit, Versuchbarkeit ohne die Schwäche, ihr nachzugeben und ein einmaliges, dafür aber auf ewig gültiges Heilswirken statt regelmäßig wiederholte Opferdarbringung - das sind die entscheidenden Punkte, in denen der "Hohepriester" Jesus Christus das alttestamentlich beschriebene Hohepriestertum am Tempel von Jerusalem überbietet.

 

Einordnung in den Kontext

Nach einem sehr spannenden, in der Leseordnung leider nicht zum Vortrag vorgesehenen Exkurs, der das Ideal einer im Glauben erwachsen gewordenen Gemeinde beschreibt (Hebräer 5,11 - 6,12), lenkt der Briefautor geschickt wieder zum Thema zurück, das am letzten Sonntag anklang: Jesus als "Hohepriester", und zwar "nach der Ordnung Melchisedeks" (s. dazu Übersicht und Auslegung am 30. Sonntag im Jahreskreis/Lesejahr B zu Hebräer 5,1-6). Dazu entfaltet er in Hebräer 7,1-10 zunächst, inwiefern Melchisedek das "passende" Vorabbild Jesu ist, ehe er in den Versen 11-28 - von denen die Lesung einen Teilabschnitt bildet - eine Abgrenzung gegenüber dem Priestertum Aarons vornimmt, auf den sich alle (Hohe-)Priester Jerusalems zurückführten. Zwei Aspekte sind im Vergleich zu den aaronidischen Hohepriestern, die es zur Zeit des Hebräerbriefs schon gar nicht mehr gab, im Blick auf Jesus besonders hervorzuheben: seine Herkunft als Gottessohn (im Gegensatz zu den Hohepriestern als reinen "Menschenkindern") und sein in Herkunft wie Auferweckung gründendes ewiges Priestertum. Beides rückt ihn näher an Melchisedek heran, dessen Eltern in der Bibel nicht genannt und dessen Tod nicht erwähnt werden (vgl. Hebräer 7,3: "... er, der vaterlos, mutterlos und ohne Stammbaum ist, ohne Anfang seiner Tage und ohne Ende seines Lebens, ähnlich geworden dem Sohn Gottes: Dieser Melchisedek bleibt Priester für immer."). Gerade das Letzte, nämlich die Nichterwähnung des Todes, lässt sich von den Jerusalemer Hohepriestern nicht behaupten. Ehe der Briefschreiber genau diesen Gedanken ab Vers 23 ausführt, schickt er noch voraus, dass das auf Aaron sich zurückführende (Hohe-)Priestertum allein auf gesetzlichen und damit auch veränderbaren Bestimmungen beruht, das für Jesus als Vorabbild maßgebliche Priestertum Melchisedeks hingegen auf  einem unlösbaren Eid Gottes beruhe. Im Hintergrund steht immer noch der in  Hebräer 5,6 erstmals (allerdings unvollständig) zitierte Psalmvers 110,4, ("Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks"]. Schaut man in den Psalm selbst hinein, so gehen ihm dort die Worte voraus: "Der Herr hat geschworen und nie wird es ihn reuen: ...". Sie werden in Hebräer 7,21 "nachgereicht" und liefern die Grundlage für die Rede vom "Eid".

 

Eine Frage der Unvergänglichkeit (Verse 23-24)

Nachdem also das Priestertum Jesu Christi auf einer viel verbindlicheren und unerschütterlicheren, ja direkter vermittelten Grundlage aufruht als das aaronidische Priestertum ("Eid" bedeutet einen Schwur Gottes "bei sich selbst"), kann mit Vers 23 in die nächste "Überbietungsrunde" eingebogen werden. Das für die Lesungsfassung ausgelassene Wörtchen "auch" läutet also ein zweites Argument zugunsten Jesu ein. Jetzt geht es um die Frage der zeitlichen Dauer. Dabei setzt die Rede vom "Priestertum" Jesu voraus, dass der Hebräerbrief  seinen Kreuzestod  ("er" in Vers 24 meint Jesus) mit der Bildsprache des Kultes deutet und als Opfer versteht. Dieser "Opfer"-Begriff ist die Brücke zwischen den Jerusalemer Priestern, die Opfer (zumeist Tieropfer) zur Beseitigung der Sündenfolgen der Menschen darbrachten, also letztlich zur Vermeidung göttlicher Strafen, und dem Handeln Jesu, das allerdings ein Selbst-Opfer ist. Das alttestamentliche Denken setzte sowohl eine beständige - tägliche - Wiederholung der Opfer voraus als auch eine ständige Besetzung des Hohepriester-Postens. Dies bedeutete eine geregelte Abfolge (Sukzession), denn als gewöhnliche Menschen starben die amtierenden Hohepriester auch einmal. Außerdem war ihre Dienstzeit überhaupt zeitlich sehr begrenzt. Dagegen stehen der einmalige Kreuzestod Jesu und seine den Tod überwindende Auferweckung, die es diesem "Hohepriester" Jesus Christus ermöglichen, auch in alle Zukunft, also "in Ewigkeit", für die beim Vater einzutreten, die auf ihn ihre Hoffnung setzen. Diese Hoffnung nennt Hebräer 6,19 "einen sicheren und festen Anker der Seele".

 

Eine Frage der "Verfallszeit" (Vers 25)

Vers 25 verstärkt den Gedanken des unvergänglichen Priestertums Christi: Er lebt nicht nur "allezeit" und kann damit unaufhörlich beim Vater für die Seinen eintreten, auf alle Weltzeit hin. Vielmehr gilt auch: Was durch ihn im Tod am Kreuz geschehen ist, hat eine Wirksamkeit "für immer". Nichts ist dem Christusgeschehen hinzuzufügen und nichts ist zu wiederholen. Das Gegenbild sind die täglich zu wiederholnden Opfer der Priesterschaft am Tempel von Jerusalem bzw. das jährlich zu wiederholende große Sühneopfer am "Versöhnungstag" (Yôm Kippûr) durch den Hohepriester, was die - vielleicht sehr menschlich gedachte Vorstellung nahelegt: der durch die Jerusalemer Priesterschaft geleistete Opferdienst hat maximal eine Wirksamkeitszeit von einem Jahr. In Jesus Christus gibt es keine Verfallszeiten und Ablauffristen!

 

Eine Frage der Angemessenheit (Verse 26-27)

Dieser Vers ordnet das bisher Gesagte in eine gewisse Logik und Zwangsläufigkeit ein, die zumindest der Briefschreiber im Heilswirken Gottes erkennt. Das altertümliche Wort "sich ziemen" (griechisch prépō) kann man auch mit "angemessen sein" bzw. "passend [für uns] sein" wiedergeben. Es begegnet bereits an einer früheren Stelle im Hebräerbrief, auch hier, um eine interne Logik im Handeln Gottes bezüglich der Menschen festzustellen:

"Denn es war angemessen, dass Gott, für den und durch den das All ist und der viele Söhne zur Herrlichkeit führen wollte, den Urheber ihres Heils durch Leiden vollendete"  (Hebräer 2,10).

Im Gegensatz zu diesem Vers geht es aber in Vers 25 nicht um die Angemessenheit des Leidens, sondern um die Angemessenheit eines Hohepriesters "der anderen Art", eben "nach der Ordnung Melchsideks".  Dazu gehört das Wirken dieses Hohepriesters Jesus Christus "im Himmel" ("erhöht über die Himmel" meint nichts anderes und beide Ausdrücke verweisen einfach in den direkten Bereich Gottes); aber dazu gehört auch die "Sündenfreiheit" Jesu, die ihre Entsprechung bei Melchisedek in dessen Namen findet, der in Übersetzung lautet: "Mein König ist Gerechtigkeit" (vgl. Hebräer 7,2, etwas vereinfachend: "dessen Name König der Gerechtigkeit bedeutet"). Diese alttestamentlich auf Gott selbst verweisende "Gerechtigkeit" interpretiert der Hebräerbrief im Blick auf Jesus durch die Begriffe "heilig, frei vom Bösen, abgesondert von den Sündern". Weil Jesus also trotz aller Versuchungen, die auch ihm nicht erspart blieben, nicht von Gott gelassen hat und seinen Weg der Liebe konsequent bis in den Tod gegangen ist, ist dieser als (Selbst-)Opfer verstandene Tod als Selbsthingabe aus reiner Selbstlosigkeit zu verstehen: Allein die, für die Jesus starb und die in der Logik des Hebräerbriefs eines Sündopfers bedürfen, sind die Empfänger der guten Wirkung: des ewigen Lebens bei Gott. Jesus selbst bedurfte dessen nicht - im Gegensatz zu den Hohepriestern am Tempel, die auch selbst Sünder waren und daher die Sündopfer auch für sich selbst darbringen mussten.

Das "ein für alle Mal" des in Jesus geschehenen Erlösungshandeln Gottes entspricht dem "für immer retten" aus Vers 25. Viermal verwendet der Hebräerbrief die Formulierung "ein für alle Mal": außer innerhalb der Lesung in Vers 27 auch noch in Hebräer 9,12; 10,2 und 10,10. Für den Zugang aller Menschen zu Gott, auch wenn sie Sünder sind, braucht es weder weitere "Jesusse" noch mehrere "Tode" Jesu noch irgendwelche weiteren Opfer.

 

Eine Frage der Vollendung (Vers 28)

Der letzte Vers fasst die gesamte Argumentation Hebräer 7,11-27 noch einmal wie in einem Brennglas zusammen: das Gesetz als Grundlage des alttestamentlichen (Hohe-)Priestertums im Gegensatz zur Eideszusage Gottes an den "Sohn", die "Schwachheit" der Hohepriester, die als Sündhaftigkeit zu verstehen ist und von Jesus fern bleibt  und schließlich die von den Hohepriestern nicht aussagbare "Ewigkeit" und "Vollendung". Die beiden letzten Begriffe verweisen in die himmlische, also göttliche Sphäre im Gegensatz zum irdischen Dienst der Hohepriesterschaft.

[Zur weiteren Bedeutung des Wortes "Vollendung" im Rahmen der Gesamtargumentation s. unter "Auslegung"]

 

 

Auslegung

"die durch ihn vor Gott hintreten" (Vers 25 der Lesung)

Das "Revolutionäre", das in diesem Nebensatz steckt, wird erst deutlich, wenn man einen Blick in das Alte Testament wirft. Dann zeigt sich nämlich, dass das Verb "hin[zu]treten" im Wesentlichen einer besonderen Gruppe vorbehalten ist, nämlich den Priestern, die sich auf Aaron zurückführen. Beispielhaft (für 8 von 11 Belegen) sei Levitikus/3. Buch Mose 7,35 angeführt :

"Das also ist der Anteil Aarons und seiner Söhne an den Feueropfern des HERRN von dem Tag an, an dem man sie herantreten ließ, um als Priester dem HERRN zu dienen".

Mit Jesus wird ein Zugang zu Gott eröffnet, der eine weitere Vermittlung durch "Priester" aufhebt. Was alttestamentlich ihnen vorbehalten war, darf und kann fortan jede und jeder selbst: als Mensch "hintreten vor Gott", wissend darum und glaubend, dass sie/er sich mit hinein genommen wissen darf in die beständige Begegnung zwischen Sohn und Vater. Aus einem Delegationsprinzip an die Priesterschaft wird ein Prinzip der Eigenverantwortung des Menschen, der aber immer noch darum weiß, nicht die letzte Instanz zu sein. Der Grund seiner letzten Hoffnung ist nicht er, der Mensch selbst, sondern eben Gott, der sich in Jesus auf die Bedingungen des Menschen eingelassen hat.

 

"der auf ewig vollendet ist" (Vers 28)

Das letzte Stichwort der Lesung - "vollendet" - greift auf eine nicht ganz einfache Argumentation im 7. Kapitel des Hebräerbriefs zurück, die in der Lesung ausgelassen ist. Auch mit diesem Begriffsrückgriff merkt man, wie sehr Vers 28 vorher Gesagtes bündelt [s. Überblick] und wie der Schreiber klare Struktursignale setzt, wo ein Gedankengang zu Ende ist bzw. ein neuer anfängt. Tatsächlich wird mit Kapitel 8 ein neues Stichwort eingeführt werden: "Bund".

Das Stichwort "vollendet" greift zurück auf Hebräer 7,11:

"Wäre nun die Vollendung durch das levitische Priestertum gekommen - das Volk hat ja darüber gesetzliche Bestimmungen erhalten -, warum musste dann noch ein anderer Priester nach der Ordnung Melchisedeks eingesetzt und nicht nach der Ordnung Aarons benannt werden?"

Noch einmal argumentiert der Hebräerbrief auf der Ebene der Zeit: Diesmal geht es um die Reihenfolge! In der biblischen Erzählung beruht das Priestertum, das sich auf den Mose-Bruder Aaron zurückführt, auf dem durch Mose mitgeteilten göttlichen Gesetz. Dieses regelt damit zugleich auch, dass alle Priester aus dem selben der zwölf Stämme Israels stammen müssen wie Aaron. Das ist der Stamm Levi.

Das in den Psalmen überlieferte Wort Gottes "Du bist Priester auf ewig / nach der Ordnung Melchisedeks." (Psalm 110,4, zitiert in Hebräer 7,17) gehört aber mit Sicherheit nicht in die Zeit des Mose. In jüdischer Lesart werden die Psalmen mit dem König David in Verbindung gebracht, als Israel also nicht mehr durch die Wüste wanderte, sondern den Jordan überschritten, im verheißenen Land angekommen und auf dem Weg zur Staatswerdung war. Wenn der Hebräerbrief das Psalmwort als Rede Gottes an Jesus versteht, rückt es sogar an den Beginn des irdischen Daseins Jesu. Erst dieses Wort Gottes und das damit eingesetzte Priestertum Jesu ist ein "ewig" gültiges. Das aaronidische Priestertum hingegen erweist sich aus dieser Perspektive als ein vorläufiges, durch Jesus abgelöstes und damit eben nicht "vollendetes". Wäre es anders, hätte es ja keiner Ablösung bedurft - so die Argumentation des Hebräerbriefs. Und diese Ablösung durch ein auf einem Gotteseid beruhenden Hohepriestertum schlägt sich auch noch darin nieder, dass die Tradition Jesus einem anderen Stamm zuordnet. Als "Sohn Davids" - wie er in den Evangelien immer wieder angerufen wird - wird er der Linie des Stammes Juda (nicht Levi) zugerechnet (vgl. Hebräer 7,14: "es ist ja bekannt, dass unser Herr aus Juda entsprossen ist.").

 

Kunst etc.

Brandopferaltar Illustration aus Brockhaus und Efron Jüd. Enzykl. 1906-13, PD-Russia-expired (Wikimedia Commons)
Brandopferaltar Illustration aus Brockhaus und Efron Jüd. Enzykl. 1906-13, PD-Russia-expired (Wikimedia Commons)

Das Bild des Brandopferaltars vermag bei aller künstlerischer Freiheit einen Eindruck von dem zu geben, was ein Priester oder gar ein Hohepriester beim Tieropfer zu tun hatte: Vor der Darbringung von einzelnen Teilen des Tierkörpers (z. B. der Fettschwanz von Schafen oder die Keulen) gab es die rituelle Schlachtung des ganzen Tieres, das dazu auf die begehbare Altarplattform heraufgeführt werden musste. Dazu diente die große Treppe bzw. Rampe. Je nach Opferart wurde entweder das ganze Tier oder eben einzelne Teile verbrannt.

Ein wichtiger Anlass für solche Opfer war das Fernhalten der Folgen des menschlichen Fehlverhaltens, also der Nichteinhaltung der göttlichen Weisungen. Diese galt es, vom einzelnen Menschen, aber auch vom ganzen Volk fernzuhalten (Sühneopfer). Der größte und wichtigste Ritus fand einmal im Jahr am großen Versöhnungstag (Yôm Kippûr) statt und durfte allein vom Hohepriester vollzogen werden. Daneben gab es die täglichen Opfer, für die die anderen Priester zuständig waren. Zwischen beiden scheint der Hebräerbrief nicht genau zu unterscheiden. Dies zeigt Vers 27 der Lesung, der von Sündopfern des Hohepriesters "Tag für Tag" spricht. Hier steht wohl nicht Unkenntnis im Hintergrund, sondern dem Schreiber geht es um das Opfer ganz allgemein im Sinne der Darbringung von Tieren, das beständiger Wiederholung bedarf (unabhängig vom Rang des konkret ausführenden Priesters), im Gegensatz zu dem einen Opfer, in dem Jesus sich selbst dargebracht hat (Vers 27: "ein für alle Mal"). An die Stelle des Brandopferaltars tritt das Kreuz, an die Stelle des aufsteigenden Rauchs die "Erhöhung" des Gottessohnes (Vers 26: "erhöht über die Himmel"), der sich ganz auf das Menschsein eingelassen hat.