Lesejahr B: 2023/2024

Evangelium (Mk 6,30-34)

30Die Apostel versammelten sich wieder bei Jesus und berichteten ihm alles, was sie getan und gelehrt hatten.

31Da sagte er zu ihnen: Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus! Denn sie fanden nicht einmal Zeit zum Essen, so zahlreich waren die Leute, die kamen und gingen.

32Sie fuhren also mit dem Boot in eine einsame Gegend, um allein zu sein.

33Aber man sah sie abfahren und viele erfuhren davon; sie liefen zu Fuß aus allen Städten dorthin und kamen noch vor ihnen an.

34Als er ausstieg, sah er die vielen Menschen und hatte Mitleid mit ihnen; denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er lehrte sie lange.

Überblick

Von wegen Ruhe… Die Ausgesandten kehren zurück, doch von Erholung kann nicht die Rede sein, zu viele Menschen sind sehnsüchtig nach einem Wort des Heils.

1. Verortung im Evangelium
Der Evangelist Markus unternimmt es als erster eine Jesuserzählung zu schreiben und die zuvor meist mündliche Überlieferung zu einer fortlaufenden Geschichte zusammenzustellen. Das Markusevangelium (Mk) entsteht kurz nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n.Chr.) im Jüdischen Krieg. Der Verfasser ist unbekannt, auch wenn es innerhalb der kirchlichen Tradition eine Verbindung zu Markus einem Judenchristen hellenistischer Herkunft gibt. Dieser ist einerseits Paulusbegleiter (Apostelgeschichte 12,12) und andererseits Vertrauter des Petrus (1. Petrusbrief 5,13).
Das Markusevangelium beginnt in der Wüste (Mk 1,1-13) mit dem Auftreten des Täufers und der Taufe Jesu. Dann schildert es den Beginn der Verkündigung Jesu in Galiläa (Mk 1,14-8,26) und den Weg nach Jerusalem (Mk 8,27-10,52) und endet mit den Ereignissen in Jerusalem (Mk 11,1-16,20). Das ursprüngliche Ende des Evangeliums war die Begegnung der Frauen mit dem Engel am leeren Grab (Mk 16,8). Die Erweiterung um die Erscheinungserzählungen sind später hinzugefügt worden (Mk 16,9-20).
Der Abschnitt Mk 6,30-34 schließt einerseits die Erzählung von der Aussendung der Apostel in Mk 6,7-13 ab (zur Auslegung der Perikope https://www.in-principio.de/sonntags-lesungen/lesung/Evangelium-Mk-67-13/) . Andererseits leitet er über zu der Speisung der 5000, die in Mk 6,35-44 geschildert wird. Die herbeiströmenden Massen der Verse Mk 6,30-34 bilden den Ausgangspunkt für diese Wundergeschichte.

Mk 6,7-13 wird eingerahmt durch die Erzählung von der Ablehnung Jesu in seiner Heimatstadt Nazareth (Mk 6,1-6, hier die Auslegung dazu https://www.in-principio.de/sonntags-lesungen/lesung/Evangelium-Mk-61b-6/) und dem Bericht von der Enthauptung Johannes des Täufers (Mk 6,14-29). Inmitten dieser Geschichten, die die Konsequenzen eines Eintretens für die Botschaft Gottes aufzeigen, entsendet Jesus die Zwölf, da mit sie das Evangelium verkünden.

 

2. Erklärung einzelner Verse

Vers 30: Nur hier, bei ihrer Rückkehr werden die „Zwölf“ im Markusevangelium als Apostel, was wörtlich „Ausgesandte“ heißt bezeichnet. Es ist damit hier kein Amt, sondern eine Tätigkeit beziehungsweise ein Auftrag verknüpft. Sie sind von Jesus losgeschickt worden, um zu verkündigen und zu heilen. Nun kehren sie gemäß dieser Aufgabe zu Jesus, dem Ausgangspunkt ihrer Mission zurück. Ihm erstatten sie Bericht von dem, was sich ereignet hat. Die Formulierung „was sie getan und gelehrt hatten“ verweist zurück auf die Aussendung selbst und die kurze Zusammenfassung ihrer Tätigkeiten (Mk 6,7-13).

 

Verse 31-32: Auf den Bericht der Apostel reagiert Jesus: Sie haben viel erlebt und viel verwirklicht, nun braucht es Ruhe. So fordert er sie direkt auf „kommt mit an einen einsamen Ort“. Er möchte mit denjenigen, die an seiner Vollmacht Anteil haben „allein“ sein. Warum der Rückzug sinnvoll ist, wird daran deutlich, dass nicht einmal Zeit zum Essen bleibt. Selbst wenn dies schon eine geschickte Verknüpfung zur folgenden Erzählung von der Speisung der 5000 darstellt, wird hier auch die Gesamtsituation derjenigen skizziert, die für das Gottesreich eintreten: Sie haben immer Menschen um sich, weil sich diese nach Orientierung und Worten des Lebens sehnen. Die Tatsache, dass die Menschen „kamen und gingen“ zeigt, dass hier nicht einfach an eine Menge gedacht ist, die stetig mit Jesus mitzieht. Vielmehr sind die Menschen im Blick, die nur einen Moment seine Nähe suchen, um von seinen Worten und Taten dann lange zu zehren. Wie zum Beispiel die blutflüssige Frau, die durch eine einzige, beiläufige Berührung geheilt wurde (Mk 5,25-34).

Der Evangelist berichtet dann, wie Jesus und die Apostel den angestrebten Rückzug in die Tat umsetzen wollen. Sie kehren aufs Boot zurück – alles spielt sich seit Mk 4,1 in direkter Umgebung des Sees Genesareth ab – und wollen wohl dorthin fahren, wo nicht direkt am Ufer Häuser etc. sind.

 

Vers 33: Hatte Markus eben noch den Plan Jesu umrissen, erzählt er jetzt von dessen Scheitern. Der Aufbruch des Bootes mit Jesus und den Aposteln bleibt nicht unbemerkt. Die Menge bewegt sich mit. Die Schilderung, dass sie zu Fuß schneller sind als das Boot, spricht nicht nur dafür, dass Jesus den See nicht überquert. Es soll auch die Ereignisse dramatisieren, die Not der Menschen und ihre Sehnsucht hervorheben.

 

Vers 34: Der Dramatisierung in Vers 33 durch die Bewegung einer Volksmenge und das Herbeieilen weiterer Menschen aus den Städten begegnet Jesus nun mit einer göttlichen Geste. Erbarmen („Mitleid“) ist eines der Wesensmerkmale Gottes (z.B. Psalm 69,17). Jesu Reaktion weist ihn hier als Gottessohn aus, denn er sieht die Menschen und ihre Not und empfindet ihnen gegenüber göttliches Erbarmen. Es äußert sich darin, dass er seinen ursprünglichen Plan des Rückzugs verwirft, ohne dass dies der Evangelist eigens thematisiert. Vielmehr wendet sich Jesus nun seiner ureigenen Aufgabe zu: Er lehrt die Menschen lange. Er speist sie also nicht kurz ab mit einer frommen Geste oder einem klugen Wort, sondern widmet ihnen Zeit. Markus macht dies subtil nur durch die Hinzufügung „lange“ deutlich. Durch die Anspielung auf ein Zitat aus dem Buch Numeri (Numeri 27,17) und allgemein das Bild vom Hirten und der Herde verweist der Evangelist auf das Problem hinter dem Sichtbaren: Die Menschen sammeln sich um Jesus, weil sie von niemandem sonst Orientierung, Hilfe, Zuversicht erwarten.

Auslegung

Wir hätten es den Aposteln (und auch Jesus) doch wirklich von Herzen gegönnt. Nach den letzten Ereignissen hätte eine Ruhepause sicher allen gutgetan. Jesus musste in seiner Heimatstadt Nazareth erfahren, dass man ihn und die Botschaft ablehnt, weil man ihm die Vollmacht, mit der er das Reich Gottes verkündet und es sichtbar macht, nicht abnimmt oder ihren Ursprung in Frage stellt. Die Apostel wurden ausgesandt, sie gehen in die Dörfer ringsherum. Sie lehren, sie tun, was Jesus ihnen aufgetragen hatte. Und als sie zurückkommen, können sie offenbar von ihren Erfolgen erzählen. Gleichzeitig hat die Kunde vom Tod des Täufers seine Runde gemacht (Mk 6,14-29). Es täte also gut, das Erlebte einmal sacken zu lassen, zur Ruhe zu kommen und neue Kräfte zu sammeln. Gleichzeitig bräuchte es auch Raum zum Erzählen und Einordnen der Erlebnisse. Jesus möchte den Aposteln genau diese Auszeit ermöglichen, wenn er sie einlädt, an einen einsamen Ort zu fahren. Als die Zwölf zurückkehren sind sie voller Mitteilungsdrang und wollen „alles“ erzählen. So wie Kinder nach einem gelungenen Ausflug oder einem besonderen Erfolg nahezu übersprudeln, so wollen die Apostel Jesus berichten, wie und wo sie in seinem Auftrag das Reich Gottes tatkräftig verkündet haben. Der Vorschlag Jesu, sich zurückzuziehen, reagiert genau darauf. Er möchte Zeit einräumen, ins Gespräch zu kommen, Kraft zu tanken und sich bereit zu machen für die nächsten Schritte – schließlich weiß er, es gibt noch viele Orte und Menschen, denen das Reich Gottes verkündet werden will.

Doch die Realität in Form der Volksmenge holt Jesus und seine Jünger ein. Die Menschen sind hungrig und sehnsüchtig nach dem, was Jesus lehrt, was er verkörpert und was in seiner Nähe gegenwärtig wird: Gottes Erbarmen. Genau dieses Erbarmen („Mitleid“) wird ihnen in der Reaktion Jesu unmittelbar zuteil. Er sieht die Menschen, er sieht in ihre Herzen, er nimmt ihre Suche, ihre Fragen und Nöte wahr – und er schickt sie nicht weg! Jesus beharrt nicht auf dem „einsamen Ort“ und dem „inner circle“ mit ihm und den Aposteln. Angesichts der Sehnsucht der Menschen kann und will er sich nicht zurückziehen. Er gibt ihnen das, wonach sie suchen. Er „lehrt sie“ und gibt damit Orientierung und einen Rahmen, der ihnen weiterhilft.

Das Ende der Erzählung von der Rückkehr ist zugleich der Ausgangspunkt der Speisungserzählung, sie wird deutlich machen, dass Jesus existentielle Nöte in den Blick nimmt, dass er das Leben in Fülle nicht nur verkündigt, sondern auch real werden lässt. Die Tatsache, dass Jesus sich nicht abwendet oder die Einsamkeit vorzieht, wird zur nächsten Lektion für die Apostel, die Ausgesandten, die gerade erst zurückgekehrt sind: Ihre Aufgabe ist keine, die man erfüllt und abhackt. Ihre Aufgabe, das Reich Gottes gegenwärtig werden zu lassen, geht mit ihnen mit, wohin sie auch gehen. Sie lässt sich nicht abschütteln oder auf bestimmte Zeiten eingrenzen. Apostel zu sein ist kein 9-17 Uhr Job! Es bedeutet sich jederzeit existentiell von den Menschen und ihren Fragen ansprechen zu lassen – und doch zu wissen: ab und an braucht es auch Phasen der Ruhe.