Einordnung in den Kontext
Auch im 9. Kapitel bewegt sich der Hebräerbrief noch immer im Rahmen des Vergleichs zwischen Jesus und dem alttestamentlichen Hohepriestertum, der bereits in Hebräer 4,14 - 5,9 (die ersten beiden Lesungen im diesjährigen Lesezyklus am Sonntag im Jahreskreis) eröffnet wurde. Dieser Vergleich, der dann in den Kapiteln 7 - 10 seine Fortsetzung findet, hat verschiedene Themenschwerpunkte:
4,14 - 5,19: der Hohepriester Jesus ist zugleich wirklicher Mensch und wirklicher Gottessohn
7,1-28: seine himmlische Herkunft erinnert an Melchisedek und unterscheidet ihn von den sich auf Aaron zurückführenden Hohepriestern
dreifache Betrachtung des Hohepriestertums Jesu:
a) 8,1-13: als Hohepriester am "himmlischen Heiligtum" ist er Mittler eines "neuen Bundes" (Leitwort "Bund")
b) 9,1-28: dasselbe Thema wird noch einmal betrachtet, aber diesmal bildlich ganz stark am Zeltheiligtum in der Wüstenzeit unter Mose orientiert (Leitwort: "Zelt")
c) 10,1-18: dritter Durchgang des Themas (Leitwort: "Opfer").
Die Übersicht zeigt: Die heutige Lesung bildet den Schluss des 9. Kapitels, das vom israelitischen Zeltheiligtum inspiriert ist. Für das Verständnis des Lesungstextes sind vor allem die für den Gottesdienst nicht berücksichtigten Verse Hebräer 9,22-23 bedeutsam, die der Lesung direkt vorangehen:
"22 Fast alles wird nach dem Gesetz mit Blut gereinigt, und ohne dass Blut vergossen wird, gibt es keine Vergebung. 23 Durch solche Mittel müssen also die Abbilder der himmlischen Dinge gereinigt werden; die himmlischen Dinge selbst aber erfordern wirksamere Opfer."
Sie besagen: Alle Reinigungsriten des Alten Testaments, ganz besonders diejenigen, die Vergebung schaffen sollen, bedürfen eines Blutritus. Hintergrund: Schuld ist eine Frage von "Leben und Tod", und alttestamentlich wird Blut als der Sitz des Lebens angesehen (Levitikus/3. Buch Mose 17,11: "Denn das Leben des Fleisches ist im Blut."). Nur diese "Materie", die menschlicher Verfügungsgewalt entzogen ist - weder kann der Mensch sie "herstellen", noch darf er sie "genießen" (absolutes Tabu) -, ist von geeigneter symbolischer Kraft [s. auch unter "Kunst etc."].
Allerdings schreibt der Hebräerbrief dem alttestamentlichen Kult nur "vorläufige" und "abbildhafte" Wirkung zu. Wenn aber schon hier auf Erden ein so kräftiger Ritus notwendig ist, wie muss dann erst der himmlische Ritus aussehen, also das Opfer des Hohepriesters Jesus Christus im "himmlischen Heiligtum"?
Vers 24
Ehe der Hebräerbrief auf diese Frage antwortet, bleibt er noch für einen Moment beim Stichwort "Heiligtum". Dabei meint das "von Menschenhand gemachte Heiligtum" das Zeltheiligtum aus der Wüstenzeit unter Führung des Mose (interessanterweise also nicht den zur Zeit des Briefes bereits von den Römern zerstörten Tempel von Jerusalem, sondern das Heiligtum, das dem Tempel als Modell gedient hat). Die den Handwerkern ("Menschenhand") geltenden Bauanweisungen kann man in Exodus 25-27 nachlesen.
Von diesem Zelt, heißt es, habe Mose Gott vom Himmel her ein "Modell" gezeigt (Exodus 25,9.40). Insofern kann man tatsächlich von einem "Abbild" sprechen, wobei der Hebräerbrief wohl mit der Begrifflichkeit der platonischen Philosophie (Urbild - Abbild, Idee - schattenhafte Widerspiegelung) spielt. Auf dieser Basis kann der Verfasser nun Jesus auf die Ebene des "Urbildes", des "Eigentlichen" und "Wirklichen" heben. Jesus überbietet alle menschengemachte Abbilder. Konkret gemeint ist weder ein tatsächliches Zelt im Himmel - der Wortlaut vermeidet für Jesus geradezu das Wort "Zelt" - noch irgendeine priesterliche Prozession ("hineingehen") Jesu. Vielmehr wird sein Heilswirken mit den drei "Stationen" Kreuzestod - Auferweckung - Himmelfahrt als Einheit gesehen und vom Ende, also der Rückkehr zum Vater betrachtet. "Himmel" und "Gott" sind letztlich ein und dasselbe. Der Sohn ist wieder beim Vater und hält ihm fürbittend oder erinnernd diejenigen vor Augen ("Angesicht"), für die er gestorben ist und die auf ihn ihre Hoffnung setzen ("für uns").
Das Alles ist natürlich in sehr menschlichen Bildern gedacht, die aber durch das Alte Testament und damit Gottes Wort selbst vorgegeben sind ("Heiligtum"), teilweise auch durch die vor allem außerbiblisch bezeugte apokalyptische Tradition (Thema "Himmel"), teilweise durch die den Menschen damals vertraute Denkwelt der Philosophie (s. o. Platon). Die Wendung "vor jemandes Angesicht erscheinen" entstammt schließlich der höfischen Sprache (wenn jemand vor dem Angesicht eines Königs erscheinen darf) und verweist damit indirekt darauf, dass die Passion Jesu zu einer herrscherlichen Stellung geführt hat.
Verse 25-26
Vom Ort ("Heiligtum") geht der Hebräerbrief noch einmal zu dem schon mehrmals angesprochenen Aspekt der "Einmaligkeit" und damit "Endgültigkeit" dessen über, was Jesus getan hat. Diesmal wagt er allerdings sogar eine ironische Zuspitzung, wenn er in Parallele zum jährlichen Tieropfer der Jerusalemer Hohepriester am Versöhnungstag (yôm kippûr) den Gedanken entwickelt und ausspricht: Wäre es Jesus um ein solches Opfer gegangen, "hätte er viele Male seit der Erschaffung der Welt leiden müssen". Dass diese Vorstellung Unsinn ist, liegt auf der Hand. Das Argument greift aber tiefer: Die beim Hohepriester notwendige jährliche Wiederholung ist ja nur ein äußeres Anzeichen für die allerhöchtens ein Jahr währende Wirksamkeit der Opferhandlung. Mit der einmaligen Selbstdarbringung Jesu hingegen ist eine endgültige Sündentilgung gegeben.
Hatte der Autor in Vers 24 das Gesamtgeschehen Kreuzestod - Auferweckung - Himmelfahrt vom Ende her betrachtet, schaut er nun vom Anfang her darauf. Das einmalige Erscheinen am "Ende der Zeiten" hat dabei wohl weniger - allerdings auch - die Menschwerdung im Blick, sondern vor allem das irdische Kreuzigungsgeschehen, an dem deutlich wurde, wer in diesem Jesus von Nazareth wirklich als Mensch "erschienen" ist: nämlich Gottes Sohn. Diese Spannung gilt es auszuhalten: Der abscheulichste Ort, nämlich das Kreuz, ist der Offenbarungsort Gottes in dieser Zeit.
Verse 27-28
Abgesehen von der Entsprechung zwischen der Einmaligkeit des Heilstodes Jesu und der Einmaligkeit des Sterbens eines jeden Einzelnen, das nach der Vorstellung des Hebräerbriefs direkt zur Konfrontation mit dem göttlichen Richter zu führen scheint, überrascht vor allem die Schlusswendung von Vers 28. Denn hier wird der Vergleich mit dem alttestamentlichen Hohepriester um eine "Station" erweitert, die bislang im Hebräerbrief noch keine Rolle spielte. Ging es bislang eher um die Menschlichkeit des Hohepriesters und um seine jährlich zu vollziehende Opferhandlung am großen Sühnetag, lässt die Formulierung des "Erscheinens" vor denen, die "ihn erwarten" an den Augenblick denken, wenn der Hohepriester sich am Versöhnungsfest überhaupt erst einmal dem Volk zeigte:
"5 Wie herrlich war er, umgeben vom Volk, / wenn er heraustrat aus dem Haus des Vorhangs; 6 wie der Morgenstern inmitten von Wolken, / wie der volle Mond an seinen Tagen, 7 wie die Sonne, die auf den Tempel des Höchsten strahlt, / wie ein Regenbogen, der in den herrlichen Wolken leuchtet, 8 wie eine Rosenblüte in den Tagen des Frühlings, / wie Lilien an quellendem Wasser, / wie ein junger Trieb des Libanon in Sommertagen, 9 wie Feuer und Weihrauch auf der Räucherpfanne, / wie ein Gefäß aus Gold gehämmert, / geschmückt mit allen kostbaren Steinen, 10 wie ein Olivenbaum, der Früchte trägt, / und wie eine Zypresse, die sich in die Wolken streckt." (Jesus Sirach 50,5-10)
Jesus aber wird "beim zweiten Mal", also nach seiner ersten "Erscheinung" in der Menschwerdung, deren Ziel in Kreuzestod, Auferweckung und Himmelfahrt offenbar wurde, nicht mehr zum bereits erfolgten "Gericht" und nicht mehr "wegen der Sünde", also zur Beseitigung der Sünden erscheinen, die mit dem Kreuzestod bereits erfolgt ist. Sondern bei seiner Wiederkunft, wenn das "Ende der Zeiten" - gedacht als die Zeitstrecke zwischen "Himmelfahrt" und Wiederkunft Christi - sein wirkliches Ende findet, tritt er nur noch als "Retter" auf: Er wird um sich sammeln alle, die seinem Erlösungshandeln getraut haben.
Mit den letzten Worten springt die Lesung in die Gegenwart: Während von Jesus her nämlich ein für alle Mal alles getan ist zum Heil aller Menschen (vgl. Hebräer 2,9b: "es war nämlich Gottes gnädiger Wille, dass er für alle den Tod erlitt"), bleibt für die Menschen, "ihn [zu] erwarten". Dieses "Erwarten" ist kein Abwarten, sondern ein höchst aktiver Zustand, der sich durch motivierende "Hoffnung" (vgl. Hebräer 6,11: "Wir wünschen aber, dass jeder von euch im Blick auf den Reichtum unserer Hoffnung bis zum Ende den gleichen Eifer zeigt") und entsprechendes gestaltendes Handeln (das besonders im 13. Kapitel entfaltet wird) auszeichnet.
In dieser Hinsicht ist die ihren letzten Cent spendende Witwe, von der das heutige Evangelium spricht (Markus 12,41-44), ein grandioses Beispiel für Leben aus der "Erwartung", ohne in Lethargie oder Depression zu verfallen.