Lesejahr B: 2023/2024

Evangelium (Joh 6,1-15)

61Danach ging Jesus an das andere Ufer des Sees von Galiläa, der auch See von Tiberias heißt.

2Eine große Menschenmenge folgte ihm, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat.

3Jesus stieg auf den Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern nieder.

4Das Pascha, das Fest der Juden, war nahe.

5Als Jesus aufblickte und sah, dass so viele Menschen zu ihm kamen, fragte er Philippus: Wo sollen wir Brot kaufen, damit diese Leute zu essen haben?

6Das sagte er aber nur, um ihn auf die Probe zu stellen; denn er selbst wusste, was er tun wollte.

7Philippus antwortete ihm: Brot für zweihundert Denare reicht nicht aus, wenn jeder von ihnen auch nur ein kleines Stück bekommen soll.

8Einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus, sagte zu ihm:

9Hier ist ein kleiner Junge, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische; doch was ist das für so viele?

10Jesus sagte: Lasst die Leute sich setzen! Es gab dort nämlich viel Gras. Da setzten sie sich; es waren etwa fünftausend Männer.

11Dann nahm Jesus die Brote, sprach das Dankgebet und teilte an die Leute aus, so viel sie wollten; ebenso machte er es mit den Fischen.

12Als die Menge satt geworden war, sagte er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrig gebliebenen Brocken, damit nichts ver dirbt!

13Sie sammelten und füllten zwölf Körbe mit den Brocken, die von den fünf Gerstenbroten nach dem Essen übrig waren.

14Als die Menschen das Zeichen sahen, das er getan hatte, sagten sie: Das ist wirklich der Prophet, der in die Welt kommen soll.

15Da erkannte Jesus, dass sie kommen würden, um ihn in ihre Gewalt zu bringen und zum König zu machen. Daher zog er sich wieder auf den Berg zurück, er allein.

Überblick

Das Brotwunder Jesu. Ein wirksames Zeichen mit gefährlichen Konsequenzen

1. Verortung im Evangelium
Das Johannesevangelium (Joh) beginnt mit einem Loblied auf Jesus Christus als das ewige Wort des Vaters (Joh 1,1-18). Er ist in die Welt gesandt, um die Herrlichkeit Gottes sichtbar zu machen und den Menschen den Weg zum Vater zu eröffnen. Diese Sendung Jesu ist als Grundthema in allen Erzählungen zu finden. 
Der vorliegende Abschnitt stammt aus einem umfassenderen Erzählabschnitt, der im weitesten Sinne um das Thema „Brot“ kreist. Die Perikope mit dem Wunder der Brotvermehrung (Joh 6,1-21) bildet den ersten Teil dieses Zusammenhangs. Daran schließt sich die Rede Jesu über das Himmelsbrot in der Synagoge von Kafarnaum an (Joh 6,22-59), die Ausgangspunkt für Diskussionen und Unverständnis unter den Zuhörern ist, so dass der Evangelist mehrfach berichtet, dass „die Juden murrten und sich stritten“. Der Zusammenhang endet mit einer „Spaltung“ unter den Jüngern (Joh 6,60-71), weil auch unter ihnen einige an den Worten Jesu Anstoß nehmen. Ausgangspunkt des gesamten Kontextes ist das Wunder, von dem der Evangelist Johannes in Joh 6,1-15 berichtet.

 

2. Aufbau
Mit den Versen 1-4 wird eine ausführliche Einleitung in das folgende Wunder geschaffen. Die Leser erfahren von einem Ortswechsel Jesu, der Menschenmenge, die Jesus wegen seiner Wundertaten folgt, den begleitenden Jüngern und dem anstehenden Paschafest. In den Versen 5-15 folgt die Erzählung von der Brotvermehrung. Sie wird eingeleitet durch die Frage Jesu und seinen Dialog mit Philippus und Andreas (Verse 5-9). Das eigentliche Wunder wird in den Versen 10-13 geschildert. Die Verse 14-15 geben die unmittelbaren Reaktionen auf die Brotvermehrung wieder.

 

3. Erklärung einzelner Verse

Verse 1-4: Mit dem Hinweis „danach“ schafft der Evangelist eine lose Verbindung des Brotwunders und der folgenden Szenen zu der vorangegangenen Episode am Teich Betesda in Jerusalem (Joh 5,1-47). Dort hatte Jesus am Sabbat einen Gelähmten geheilt und war in der Folge in einen ausführlichen Dialog mit den anwesenden Juden getreten. Nun wechselt er den Standort und kehrt an den See von Tiberias und damit nach Galiläa zurück. Die Menschenmenge, die ihm nun folgt, hat von der Heilung in Jerusalem nichts mitbekommen. Die Wundertaten, wegen derer sie Jesus folgen, sind die Wunder aus der vorangegangenen Zeit in Galiläa (wie etwa das Weinwunder in Kana, Joh 2,1-12). In Joh 6,26 lässt der Evangelist Jesus eine Einschätzung zu der Motivation der Menschen aussprechen, die sicher nicht nur auf die Zeit „nach der Brotvermehrung“ zutrifft. Seiner Meinung nach ist ihr Interesse vor allem auf das Vordergründige (z.B. die Sättigung) ausgerichtet, aber nicht so sehr auf die Wirklichkeit, auf die die Wunder verweisen: In Jesus wird Gott und seine heilsame Nähe erfahrbar.
Wie an anderen Stellen in den Evangelien ist der Berg ein Ort des Rückzugs vor der Menschenmenge (vgl. Markusevangelium 6,46). Dem biblisch geschulten Leser kommt mit dem Motiv „Berg“ immer auch die Assoziation an die Berge als Orte der Gottesbegegnung in den Sinn (Sinai, Horeb etc.). In der Perikope wird gleich zwei Mal von einem Rückzug auf den Berg gesprochen. In Vers 3 nimmt Jesus seine Jünger exklusiv mit, in Vers 15 wird explizit erwähnt, dass er sich „allein“ zurückzieht. Für den Gottessohn ist der Berg der Ort der Nähe zum Vater, der ihn gesendet hat.
Der Hinweis auf das nahe Paschafest verweist sehr subtil auf einerseits das Paschafest am Ende des Evangeliums, an dem Jesus zu Tode kommt, nachdem man versucht hat, ihn „zum König zu machen“ (Vers 15). Andererseits gehört zu den Festlesungen des Paschafestes die Geschichte von der Speisung des Volkes Israel in der Wüste mit dem Himmelsbrot (Exodus 16).

 

Verse 5-9: In den anderen Evangelien (Markus, Matthäus und Lukas) ist die Brotvermehrung immer verbunden mit einer vorangehenden andauernden Lehrrede Jesu (vgl. Markusevangelium 6,34-44). Sie ist der Grund, warum die Menschen dann ausgehungert sind und gespeist werden müssen. Im Johannesevangelium entfällt diese Verknüpfung, hier steht das Zeichen der wundersamen Speisung deutlicher im Fokus. Dies zeigt auch die Überleitung zum Wunder durch die „Testfrage“ Jesu an Philippus (Verse 5-6). Jesus sieht die Menschen und weiß, welches Zeichen er unter ihnen wirken möchte! Die Reaktion des Philippus, der Jesus als einer der ersten nachfolgte und den Natanaël auf ihn aufmerksam machte (Joh 1,43-46), zeigt, dass er die Absicht Jesu nicht kennt oder erkennt. Er sieht nur das praktische Problem, dass sie zu wenig Geld für den Einkauf haben. Ebenso verweist Andreas auf ein Defizit: Die fünf Brote und zwei Fische können niemals reichen.

 

Verse 10-13: Das folgende Handeln Jesu steht in starkem Kontrast zur Wahrnehmung der beiden Apostel. Jesus weiß als in die Welt gesandter Gottessohn, dass es für alle reichen wird. Also lässt er die Menschen lagern – erst jetzt wird ihre Zahl mit 5000 beziffert – und verteilt die vorhandenen Gaben unter ihnen, nachdem er ein Dankgebet gesprochen hat. Das Wunder selbst wird nur durch seine Folgen sichtbar: alle werden satt und es bleiben zwölf Körbe übrig. Auf diese Weise wird vermieden, dass die Vermehrung der Brote und Fische zu einer Art Zaubertrick wird und sich plötzlich sichtbar Nahrungsmittel vermehren. Die Kernaussage ist: Bei Gott gibt es Leben in Fülle. Die 5000 erleben, was Jesus wenig später in Worte fassen wird: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Vorbild für das Brotwunder ist die alttestamentliche Erzählung von der wundersamen Speisung der Prophetenjünger des Elischa im 2. Buch der Könige (2. Buch der Könige 4,42-44).

 

Verse 14-15: Die Reaktion auf das Zeichen Jesu ist eindeutig. Die Menge kommt zu dem Schluss: Jesus ist „der Prophet, der in die Welt kommen soll“. Philippus hatte dem Natanaël Jesus noch deutlich vorsichtiger vorgestellt als denjenigen, von dem „geschrieben“ wurde (Joh 1,21). Die Einschätzung der Menge ist zwar richtig, aber zugleich gefährlich. Dies erkennt Jesus sofort. Er weiß, dass ihre Sehnsucht nach einem Menschen, der mit Vollmacht ausgestattet ist, groß ist. Er weiß aber auch, dass sie deshalb versuchen werden, sich seiner zu bemächtigen, damit er nach ihrem Willen beziehungsweise ihrer Vorstellung herrscht. Die wirkliche und richtige Vorstellung des Königtums Jesu wird in der Verhandlung vor Pilatus erneut thematisiert werden und zieht sich bis zur Diskussion um die Kreuzesinschrift (Joh 18,28-19,22).
Der Evangelist lässt Jesus sich nun erneut auf den Berg und damit in die Gegenwart des Vaters zurückziehen. Dass er in Vers 15 diese Nähe alleine sucht (im Gegensatz zu Vers 3), hängt sicher mit den Reaktionen der Menschen zuvor zusammen.

Auslegung

Der Evangelist Johannes verzichtet bei seiner Darstellung des vollmächtigen Handelns Jesu auf den Begriff „Wunder“. Was die anderen Evangelisten „Wunder“ nennen, bezeichnet er als „Zeichen“ – und überliefert auch zahlenmäßig deutlich weniger davon. Den Grund dafür lässt das Evangelium Joh 6,1-15 erahnen. Der Evangelist leitet den Grund für die Brotvermehrung bereits anders ein als Markus, Matthäus und Lukas. Bei ihnen besteht quasi eine Notwendigkeit zur Speisung einer nach einer langen Rede Jesu ausgehungerten Menschenmenge, die zudem weit weg von jeglicher Infrastruktur ist (zum Beispiel Markusevangelium 6,35: „Gegen Abend kamen seine Jünger zu ihm und sagten: Der Ort ist abgelegen und es ist schon spät.“). Im Johannesevangelium ist es die bloße Anwesenheit der Menschen, die Jesus zum Handeln motiviert. Er möchte den vielen, die wegen seiner „Zeichen“ gekommen sind (Vers 2), ein weiteres Zeichen geben. Er möchte mit seinem Handeln ihnen zum richtigen Verständnis seiner Sendung verhelfen. Oder man könnte auch sagen: Jesus möchte sich ihnen im Zeichen zu erkennen geben als der Sohn, der vom Vater im Himmel gesendet ist. In diesem Sinne besteht ein enger Zusammenhang zwischen der wundersamen Brotvermehrung und dem Jesus-Wort aus Joh 10,10 vom Leben in Fülle. Denn existentieller Bestandteil der Sendung Jesu ist es, den Menschen das Leben in Fülle, das Gott ihnen schenken möchte, nahe zu bringen und verständlich werden zu lassen. Das Zeichen, dass das Wenige (fünf Brote und zwei Fische) reicht, um 5000 Menschen zu speisen, ist ein Zeichen der göttlichen Herrlichkeit. Sie sichtbar zu machen ist der Auftrag Jesu und die Hinweise dazu liefern zeichenhafte Handlungen wie die Vermehrung des Brotes, das Wandeln des Weins (Joh 2,1-12) oder das Heilen eines Gelähmten (Joh 5,1-9). Doch der Abschluss der Perikope zeigt, dass diese Zeichen allein noch nicht ausreichen, das Hereinbrechen der göttlichen Wirklichkeit in die Welt richtig zu verstehen. Wenn die Menschen nach dem Brotwunder Jesus als „den Propheten“ erkennen, ist dies ein erster Schritt. Sie verstehen, dass Jesus mit Vollmacht und irgendwie in Verbindung mit Gott handelt. Sie verstehen aber noch nicht, dass hier in Jesus von Nazareth Gott selbst bereits in ihrer Welt anwesend und aktiv ist. Ihr unausgesprochener Wunsch, Jesus für ihre Zwecke zu ergreifen („ihn zum König machen“), ist Ausdruck des Zeichenglaubens, den Jesus dann in Joh 6,26 kritisieren wird. Sie sehen das Zeichen, aber sie erkennen dessen wahre Bedeutung noch nicht. Dass Jesus und der Vater eins sind, dass Jesus als das fleischgewordene Wort Gottes in die Welt gesandt wurde, damit seine Liebe zu den Menschen überall sichtbar wird – diese Botschaft hinter dem Zeichen erkennen sie noch nicht. Dafür wird es am Ende des einen Zeichens bedürfen, dass noch nie dagewesen und unwiederholbar ist: Gott gibt am Kreuz seinen Sohn aus Liebe zu den Menschen hin und erweist sich als der „Immer-Stärkere“, indem er den Tod besiegt.
Der Rückzug Jesu aus der Menge ist eine vorbeugende Maßnahme auf die falschen Rückschlüsse, die sie aus seinem Handeln ziehen könnten. Er, der sich als mächtig erwiesen hat, er möchte (und kann) nicht von Menschen zum Mächtigen, zum König gemacht werden. Sein Königtum „ist nicht von dieser Welt“ (Joh 19,36) und nicht menschlichen Regeln der Macht unterworfen. Er ist einzig und allein vom Vater ermächtigt und kann Macht nur nach dem göttlichen Prinzip der Gewaltlosigkeit, des Machtverzichts, der Liebe ausüben. Die Abkehr von der Menge und das Verweilen auf dem Berg als Ort der Gottesnähe am Ende des Evangeliums verdeutlichen die Einheit mit dem Vater und das Übereinstimmen der Macht-Konzepte zwischen Vater und Sohn: Sie sind und handeln anders als die Welt und dennoch ist all ihr Handeln auf die Lebensfülle der Welt angelegt.

Kunst etc.

1

Das Gemälde von Juan de Espinal (ca. 1750) zeigt den Apostel Andreas im Gespräch mit dem „kleinen Jungen“ mit den fünf Broten und zwei Fischen. Mit dem Rücken zu ihnen stehen Jesus und vermutlich Philippus und betrachten die Menschenmenge, die etwas unterhalb des Berges lagert.