Lesejahr B: 2023/2024

2. Lesung (Hebr 5,7-9)

7Er [Christus] hat in den Tagen seines irdischen Lebens mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört worden aufgrund seiner Gottesfurcht.

8Obwohl er der Sohn war, hat er durch das, was er gelitten hat, den Gehorsam gelernt;

9zur Vollendung gelangt, ist er für alle, die ihm gehorchen, der Urheber des ewigen Heils geworden

Überblick

In der Zweiten Lesung aus dem Hebräerbrief erhält die Bundeszusage Gottes aus der Ersten Lesung des Jeremiabuches "Ich werde ihnen Gott sein" eine dramatische Konkretisierung: Gott stellt sich so sehr auf die Seite der Menschen, dass er  in seinem Sohn sogar ihre Todesangst teilt. Das Johannesevangelium setzt mit der Rede vom "Lamm Gottes" einen deutlich anderen Akzent zur Interpretation des Passionsgeschehens, ändert aber nichts an der Grundaussage aus dem Jeremiabuch.

 

Einordnung der Lesung in den Hebräerbrief

Keine weitere Schrift des Neuen Testaments versucht Wesen und Bedeutung der Gestalt Jesu so intensiv aus der Vorstellung des alttestamentlichen Hohepriestertums zu entwickeln wie der Hebräerbrief. Unter immer neuen Gesichtspunkten werden sehr differenziert Gemeinsamkeiten und vor allem Unterschiede benannt. Denn letztlich sollen die Adressaten des Hebräerbriefs durch die aufgezeigte Einzigartigkeit des Hohepriestertums Christi erkennen, auf wen sie in ihrem Glauben bauen. Das wiederum soll sie darin bestärken, auch in Zeiten der Bedrängnis nicht die "Fahnenflucht" zu ergreifen, d. h. die christliche Gemeinde zu verlassen und den Glauben zugunsten eines besseren Ansehens in der römisch beherrschten Gesellschaft aufzugeben.

Nachdem der Begriff "Hohepriester" vorausverweisend (aber zunächst unerklärt bleibend) in Hebräer 2,17 und 3,1 gefallen ist, folgt in 4,14 - 5,10 eine erste, vergleichsweise kurze Predigt zum Hohepriestertum Christi. Aus ihr ist der schmale, aber sehr dichte Lesungsabschnitt genommen, der am Karfreitag noch einmal als Zweite Lesung gelesen und dabei in den Zusammenhang der Verse 4,14-16 gestellt wird. Nach einer katechetischen Unterbrechung (Hebräer 5,11: "Darüber hätten wir viel zu sagen ...")  wird das Thema erneut nach einer geschickten Überleitung durch 6,20 ("dorthin [in das Innere hinter dem Vorhang] ist Jesus für uns als Vorläufer hineingegangen, er, der nach der Ordnung Melchisedeks Hohepriester geworden ist auf ewig.") in den Kapitel 7 - 10 aufgegriffen und in einer mehrteiligen Predigt zum zweiten Mal und mit neuen Schwerpunkten entfaltet.

Da der Hebräerbrief (wer ihn geschrieben hat, "weiß Gott allein", sagt schon der frühe christliche Schriftausleger Origenes, gest. 253/54 n. Chr.) mit seiner Verkündigung u. a. ganz konkret aus Todesangst angesichts einer christenfeindlichen Gesellschaft herausführen will (Hebräer 2,15: "... um die zu befreien, die durch die Furcht vor dem Tod ihr Leben lang der Knechtschaft verfallen waren"), betont er beim "Hohepriester Christus" das Zusammenkommen von zwei denkbar entgegengesetzten "Eigenschaften": Einerseits ist er "Gottes Sohn", "er ist der Abglanz seiner [Gottes] Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens" (so gleich zu Beginn des Briefes in Hebr 1,3). Diese Herkünftigkeit, also letztlich sein Gottsein,  ermöglicht ihm überhaupt erst, wirksam zu werden, wo menschliche Kraft nichts mehr zu leisten vermag - also auch in den benannten schweren Zeiten römsicher Bedrängnis. Zugleich ist dieser "Hohepriester" aber auch wirklicher Mensch, dem nichts Menschliches fremd ist, auch nicht die Todesangst. 

Dazu entwickelt der Hebräerbrief als einzige Schrift außerhalb der Evangelien eine eigene Getsemani-Theologie, auf die die heutige Lesung den Blick fokussiert.

 

Vers 7

Während die Kapitel 1 und 2 des Hebräerbriefs besonders die "Gottessohnschaft" Jesu betonen, lenkt der Absatz Hebräer 4,14 - 5,10 den Blick ganz auf die "Tage seines irdischen Lebens". Dabei stellt Vers 7 in eigenständiger Formulierung jeweils mit doppeltem, also verstärkendem Ausdruck ("mit lautem Schreien und unter Tränen", "Gebete und Bitten") die aus den Evangelien des Markus, Matthäus und Lukas bekannte Szene vor Augen, als Jesus nach dem letzten Mahl mit seinen Jüngern im Garten Getsemani dreimal seinen Vater darum bittet, er möge "den Kelch an ihm vorübergehen lassen" (die entsprechenden Evanglien-Abschnitte sind alle unter "Kontexte" wiedergegeben). Doch den Briefschreiber interessiert weniger der genaue Wortlaut, sondern einzig die Tatsache furchtbarer Todesangst. Dahinter steckt die Botschaft an die Briefempfänger: Durch seinen Sohn weiß Gott, wie sich Todesangst anfühlt. Er hat sie selbst durchlitten. Genau deshalb vermag er auch, aus dieser Todesangst zu befreien. Am ehesten könnte der Briefschreiber die Lukas-Darstellung im Hinterkopf haben: "Und er betete in seiner Angst noch inständiger und sein Schweiß war wie Blut, das auf die Erde tropfte" (Lk 22,42).

Die Todesangst Jesu ist allerdings gepaart mit "Gottesfurcht", d .h. mit einer die Angst übersteigenden Bereitschaft, Gott in allem die Führung zu überlassen, auch in dieser Situation kurz vor der Verhaftung durch die römischen Soldaten. Der Verfasser hat wohl den zweiten Teil des Getsemani-Gebets Jesu in Erinnerung: "Vater, wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen" (Lk 22,42).

 

Vers 8

Während Vers 7 die Getsemani-Szene eher in Erinnerung ruft, nimmt Vers 8 eine theologische Bewertung dessen vor, was da geschehen ist: Dem Hebräerbrief liegt so sehr an der wahren Menschheit Jesu, dass er festhält: Auch der Sohn Gottes musste Gehorsam durch Leiden lernen. Das Motiv des "Gehorsams durch Leiden" ist zur Zeit des Hebräerbriefs im philosophischen Denken bekannt. Es steht für eine mögliche menschliche Erfahrung, die bei Jesus aber noch einmal neue Züge gewinnt. Denn das "Leiden" ist hier nicht etwa der Schmerz von erzieherischen Schlägen oder Krankheit. Vielmehr geht es um das Ringen mit der Frage, wirklich den Weg des Todes als den Heilsweg Gottes auf sich zu nehmen oder nicht. 

 

Vers 9

Im letzten Lesungsvers scheint der Hebräerbrief mit der Formulierung "zur Vollendung gelangt" (kaì teleiōtheìs ẻgéneto) einen Begriff des Johannesevangeliums aufzugreifen: Nur dieses deutet Jesu Sterben am Kreuz und die Überwindung des Kreuzes durch die Auferweckung mit dem Begriff "Vollendung".  Dazu vergleiche man die Einleitung der Johannes-Passion: "Da er die Seinen liebte, die in der Welt waren, liebte er sie bis zur Vollendung (griechisch:eis télos)" [Johannes 13,1b] und das letzte Wort Jesu am Kreuz: "Es ist vollbracht! (griechisch: tetélestai)" [Joh 19,30a]. Hier könnte man auch übersetzen: "Es ist vollendet!", denn beide Johannes-Verse sind durch die Wortwurzel télos "Ende, Ziel, Vollendung" zusammengehalten und das verbindet sie mit Vers 9 der Hebräerbrief-Lesung.

Aus der Perspektive des Bestehens der "gottesfürchtigen Todesangst", ihres Durchleidens, aber damit auch ihres Aushaltens und schließlich der Erfahrung, auch im Tod noch gehalten zu sein und durch ihn hindurch sogar ins Leben geführt zu werden - aus dieser Perspektive entwickelt der Hebräerbrief nun eine Antwort auf die entscheidende Frage: "Und was haben wir Menschen, was habt Ihr, die Ihr diesen Hebräerbrief lest, von alledem?" Und diese Antwort lautet, dass aus diesem ganz und gar einmaligen "hohepriesterlichen" Geschehen Hoffnung für alle erwächst, die sich diesem Christus anschließen - in der Hoffnung auf das je stärkere und immer rettende Handeln Gottes und im Sich-nicht-unterkriegen-lassen auch durch Todesangst. Christus ist "Urheber ewigen Heils" für die geworden, die sich nicht aus lauter Todesangst von dem Christus wieder lossagen, zu dem sie in einem euphorischen oder unbedachten oder wenig gefährlichem Augenblick einmal in der Taufe Ja gesagt haben.

 

Auslegung

Hebr 5,7-9: Zwischen Angst und Vertrauen

Mit dieser Lesung blickt die Kirche auf die letzten Stunden vor der Festnahme und der Kreuzigung Jesu (Gebet „mit lautem Schreien und unter Tränen“) sowie auch schon auf Ostern („ … zur Vollendung gelangt …“). In Jesus kommen zusammen eine zum Himmel schreiende Angst, ein „himmlisches“ Vertrauen und die bis zum letzten Atemzug durchgehaltene Treue zur eigenen Berufung.

Indem die Angst nicht beiseite gelassen wird, kann Jesus zum Ermutiger werden, auch in angstbesetzten Situationen mit Blick auf Gott durchzuhalten.

Insofern aber das Vertrauen Jesu die Angst nicht hat übermächtig werden lassen, konnte an ihm die Angst und Tod beseitigende, lebensschaffende Macht Gottes wirksam werden. Insofern ist sein ausharrendes, „gehorsames“ Leiden und Sterben als Voraussetzung für die Auferweckung nicht nur Vorbild, sondern auch Ursache unseres Heils, unserer eigenen Auferweckung. Die Hoffnung auf sie gründet sich auf genau den Christus, dessen Todesstunde, der auszuweichen Jesus sich nicht hat verführen lassen, der Karfreitags-Gottesdienst in wenigen Wochen vergegenwärtigen wird.

Kunst etc.

Creative Commons Attribution-Noncommercial-Share-Alike 3.0 United States License
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Die Lesung aus dem Hebräerbrief spricht besonders eindringlich vom Todesleiden Jesu, um zu zeigen, wie sehr sich Gott in seinem Sohn auf die Menschennatur eingelassen hat. Dieses Leiden wird mit dem Garten Getsemani auf dem Ölberg in Jerusalem verbunden.  Hier hat Jesus "unter lautem Schreien und Tränen" (Hebr 5,7) gebetet, Gott möge den Kelch des Todes an ihm vorüberziehen lassen. Zugleich hat er sich aber auch dem Willen des Vaters unterstellt. 

Folgt man den Angaben der Evangelien, spricht vieles dafür, dass "Getsemani" der noch heute in Jerusalem zu besuchende kleine Ölgarten am Fuße des Ölbergs ist, auch wenn er zur Zeit Jesu größer gewesen sein dürfte. Der in der zugehörigen Kirche gezeigte blanke Felsboden vor dem Altar erinnert an die Härte und Kargheit der letzten Stunden Jesu. Versuchung und Angst waren seine Gefährten, aber nicht seine Bezwinger. Er blieb seiner Sendung treu - bis zum Tod am Kreuz. Darum wurde er auferweckt.