Lesejahr B: 2023/2024

Evangelium (Mk 6,1b-6)

61bJesus kam in seine Heimatstadt; seine Jünger folgten ihm nach.

2Am Sabbat lehrte er in der Synagoge. Und die vielen Menschen, die ihm zuhörten, gerieten außer sich vor Staunen und sagten: Woher hat er das alles? Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist! Und was sind das für Machttaten, die durch ihn geschehen!

3Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm.

4Da sagte Jesus zu ihnen: Nirgends ist ein Prophet ohne Ansehen außer in seiner Heimat, bei seinen Verwandten und in seiner Familie.

5Und er konnte dort keine Machttat tun; nur einigen Kranken legte er die Hände auf und heilte sie.

6Und er wunderte sich über ihren Unglauben.

Jesus zog durch die benachbarten Dörfer und lehrte.

Überblick

Schubladendenken. Jesus gerät in seinem Heimatort Nazaret ins Grübeln

1. Verortung im Evangelium
Der Evangelist Markus unternimmt es als erster eine Jesuserzählung zu schreiben und die zuvor meist mündliche Überlieferung zu einer fortlaufenden Geschichte zusammenzustellen. Das Markusevangelium (Mk) entsteht kurz nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n.Chr.) im Jüdischen Krieg. Der Verfasser ist unbekannt, auch wenn es innerhalb der kirchlichen Tradition eine Verbindung zu Markus einem Judenchristen hellenistischer Herkunft gibt. Dieser ist einerseits Paulusbegleiter (Apostelgeschichte 12,12) und andererseits Vertrauter des Petrus (1. Petrusbrief 5,13).
Das Markusevangelium beginnt in der Wüste (Mk 1,1-13) mit dem Auftreten des Täufers und der Taufe Jesu. Dann schildert es den Beginn der Verkündigung Jesu in Galiläa (Mk 1,14-8,26) und den Weg nach Jerusalem (Mk 8,27-10,52) und endet mit den Ereignissen in Jerusalem (Mk 11,1-16,20). Das ursprüngliche Ende des Evangeliums war die Begegnung der Frauen mit dem Engel am leeren Grab (Mk 16,8). Die Erweiterung um die Erscheinungserzählungen sind später hinzugefügt worden (Mk 16,9-20).
Der Abschnitt Mk 6,1b-6 schließt unmittelbar an die Doppelgeschichte von der Heilung der blutflüssigen Frau und der Tochter des Jaïrus an. Dem wundersamen Wirken Jesu auf dem Weg und im Haus des Jaïrus wird nun die unverständige Haltung der Menschen in seinem Heimatdorf Nazaret gegenübergestellt. Auf diese Szene folgt die Aussendung der zwölf Jünger, so dass die Erfahrungen Jesu in Nazaret auch als direkter Hinweis auf ein Leben in der Nachfolge zu lesen ist.

 

2. Aufbau
Vers 1b verortet die Szene und gibt ihr einen Rahmen. Die Verse 2-3 berichten von der Reaktion und Meinung der Menschen in Nazaret auf Jesu Verkündigung dort. Die Verse 4-6 geben wieder, wie Jesus mit den Fragen und dem Unglauben der Menge umgeht.

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 1b: Der erste und im Evangeliumsabschnitt des Sonntags ausgelassene Teil von Vers 1 lautet: „Von dort brach Jesus auf“. „Dort“ ist das Haus des Jaïrus, in dem Jesus die in jungen Jahren verstorbene Tochter des Synagogenvorstehers vom Tod erweckte. Die Verbindung der beiden Szenen ist deshalb wichtig, weil sich mit dem Synagogenvorsteher einer der religiösen Autoritäten widererwartend voller Glauben an Jesus wendet, obwohl die Schriftgelehrten, Pharisäer etc. sonst in stetigem Widerspruch zu Jesus stehen. Was man von Jaïrus nicht erwarten konnte, ist für die Menschen in Jesu Heimatort genau entgegengesetzt zu vermuten: Sie sollten auf einen so berühmten und vollmächtigen Menschen aus ihrem Ort doch eigentlich stolz sein und ihm aufgrund der gemeinsamen Herkunft vertrauen. Die Erzählung zeigt auch hier, dass die naheliegenden Erwartungen enttäuscht werden.
Dass Nazaret die Heimatstadt Jesu ist, wissen die Leser bereits aus Mk 1,9 und muss hier nicht eigens erwähnt werden.
Wichtig zur Einordnung des Textes in den größeren Zusammenhang ist auch, dass der Evangelist Markus hier sehr direkt vom Nachfolgen der Jünger spricht. In der Szene selbst haben sie keine Rolle, dennoch soll ihr Dabeisein deutlich werden. Als „Jünger“ sind sie Lernende, das bedeutet, sie schauen zu, hören hin und sammeln Eindrücke, die ihr eigenes Handeln prägen sollen. Wenn diese Rolle der Jünger in der Szene unmittelbar vor der Aussendung der Zwölf noch einmal ins Wort gebracht wird, dann sicher nicht ohne Grund.

 

Verse 2-3: Das Auftreten Jesu in Nazaret ähnelt der programmatischen Szene in Kafarnaum zu Beginn des Evangeliums (Mk 1,21-28). Es gehört zum normalen Vorgehen Jesu, die Synagogen in den Ortschaften, in die er kommt, zu besuchen und dort zu verkündigen. Zunächst scheint es auch in Nazaret so zu verlaufen, wie es die Leser aus Kafarnaum kennen: Die Menschen geraten in Staunen und denken über den Ursprung der Vollmacht Jesu nach. Anders als in Kafarnaum, wo die Menschen die Lehre Jesu direkt abheben von den bekannten Lehren der Schriftgelehrten (Mk 1,22) und sie als vollmächtig erkennen (Mk 1,27), scheiden sich in Nazaret an dieser Stelle die Geister.
Die „vielen Menschen“ reagieren auf die Lehre Jesu mit insgesamt fünf Fragen. Die ersten drei beziehen sich auf sein Wirken. Sie wollen den Ursprung oder vielleicht eher die Motivation seines Handelns ergründen? Sie fragen nach dem Wissen („Weisheit“) Jesu und wollen die „Machttaten“ einordnen können. Von Wundern in Nazaret hatte Markus bisher nichts berichtet, die Menschen haben also von den Taten Jesu an anderen Orten (z.B. im Haus des Jaïrus) gehört. Dämonen auszutreiben, Kranke zu heilen und Tote aufzuerwecken übersteigt für sie das Normalmaß an charismatischem Handeln – so scheint das Wirken Jesu für sie unduchschaubar. Gleichzeitig weist die Formulierung „durch ihn geschehen“ (wörtlich: durch seine Hände) darauf hin, dass sie Jesus nicht als den eigentlichen Urheber des Wirkens sehen beziehungsweise weitere Kräfte am Werk vermuten. Diese Überlegung öffnet die gedankliche Tür in zwei Richtungen: Zum einen kann es dazu führen, in Jesus mehr als den „bekannten Menschen mit gemeinsamer Herkunft“ zu sehen und die göttliche Abstammung und Vollmacht in ihm zu erkennen. Zum anderen könnten sie in Jesus das Ausführungsorgan einer fremden Macht sehen und sich davon bedroht fühlen. Die Frage nach der „Weisheit“ Jesu verweist sicher zurück auf seine konkrete Verkündigung in der Synagoge vor Ort. Aber auch hier ist daran zu denken, dass nicht nur die Wunder Jesu die Runde machten, sondern beispielsweise auch seine Gleichnisrede und sein darin zum Ausdruck kommendes „Exklusivwissen“ um das Reich Gottes.
Die beiden letzten Fragen zielen auf die Herkunft Jesu und sind bereits durch die erste Frage („woher hat er das alles?“) vorbereitet. Woher soll ein Mann, dessen Abstammung sie kennen und dessen Familie mitten unter ihnen lebt eine solche Weisheit und solche Fähigkeiten haben? Ihre Antwort wird durch die folgende Reaktion gegeben. Für sie passen die Dinge nicht zusammen. Jesus, dessen Herkunft sie kennen und den sie deshalb auch zu kennen meinen, kann (und darf) nicht einer sein, der mit einer solchen Weisheit spricht und Machttaten vollbringt. Obwohl die Menge zuerst staunt und damit eine typische Reaktion auf eine Erfahrung von Gottesnähe und Gottesoffenbarung zeigt, kann sich diese Erfahrung nicht gegen das Vorwissen um die Herkunft Jesu durchsetzen. Die Folge ist eine Distanzierung von der Person Jesu und damit auch von dem offenbarenden Handeln und Sprechen Jesu.

 

Verse 4-6: Der Kritik und Ablehnung der Menschen begegnet Jesus mit einem vermeintlich geflügelten Wort, zu dem es in der griechischen Literatur Parallelen gibt. Das offenbar bekannte Wort: „Der Prophet genießt in seiner Heimat kein Ansehen“ wird vom Evangelisten passgenau erweitert, indem die Familie und die Verwandten auch explizit erwähnt werden und damit Vers 3 aufgenommen wird. So wie auch die Frage nach dem Ursprung der Macht ambivalent zu verstehen war und damit einer einseitig negativen Beurteilung der Menge in Nazaret vorbeugt, so scheint auch das Wort Jesu die Reaktion auf ihn relativieren zu wollen. Ihm widerfährt in Nazaret nur das, was auch andere Propheten in ihrer Heimat erlebt haben.
Die Folge der Ablehnung Jesu durch die Menge, die auf einer falschen Einschätzung beruht, prägt Vers 5. Auch hier wird jedoch die erste Aussage („er konnte keine Machttaten tun“) durch die zweite Satzhälfte und den Bericht über „einige Heilungen“ relativiert. Klar ist aber: Die Ablehnung eines Großteils der Menschen in seiner Heimatstadt führt dazu, dass sich die Erfahrung von Heil nicht wirklich einstellt. So wie in den beiden vorangegangenen Erzählungen ist auch hier Glaube und Heil verknüpft. Es geht nicht um den Glauben als Vorbedingung für ein Heilshandeln Jesu. Vielmehr wird deutlich: Wer nicht dafür offen ist, in Jesus von Nazaret Gott selbst und seinem Heil zu begegnen, der wird diese Erfahrung auch nicht machen können. Wer nicht daran glaubt, Gott könne mitten in der Welt Wunder wirken und gegenwärtig sein, der steht seiner eigenen Heilserfahrung im Weg. Der Evangelist Markus fasst die Skepsis und Ablehnung der Menschen in der Reaktion Jesu mit dem Wort „Unglauben“ zusammen. Die Antwort der Menschen auf sein Heilsangebot verwundert Jesus, nun bleibt er staunend zurück.

Der Abschluss der Erzählung (Vers 6b) weist voraus auf die anschließende Aussendung der zwölf Jünger. Jesus setzt unbeeindruckt von der Kritik in Nazaret sein Wirken an anderen Orten fort und wird seine Jünger von nun an explizit mit in den Dienst der Verkündigung einbeziehen.

Auslegung

Auf den ersten Blick wirkt es so als wolle die Erzählung von Jesus in Nazaret einfach demonstrieren, dass auch jenseits der jüdischen Autoritäten, die von Beginn an als „Gegenspieler“ Jesu agieren, viele Menschen dem Handeln Jesu ablehnend gegenüber stehen. Doch die Szene in Mk 6,1-6 ist mehr als der Bericht über die Ablehnung des Propheten in der eigenen Heimat. Sie erzählt, wie es sein kann, dass Menschen auf die Begegnung mit Jesus so unterschiedlich reagieren und für sich vollkommen verschiedene Erfahrungen dabei machen. Und sie ist eine Anschauungsstunde für die Jünger, die wenig später selbst in den Dienst der Verkündigung gestellt werden.

Steht in Kafarnaum das Unglaubliche des Wirkens Jesu im Vordergrund, das alles Bekannte übertrifft, wird in Nazaret das vermeintlich Bekannte zum Deutungskriterium. An unterschiedlichen Orten werden Menschen mit den Worten und Taten Jesu und seiner Botschaft des Gottesreichs konfrontiert. In ihm wird ihnen Gott selbst gegenwärtig, in ihm bricht göttliches Heil mitten im Alltag auf. Jaïrus gelingt es – trotz seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe der vermeintlichen Skeptiker gegenüber dem Wirken Jesu – in ihm die lebensspendende Kraft Gottes zu entdecken und sich ihr anzuvertrauen. Die Menschen in Nazaret, die eigentlich aufgrund der Dinge, die sie gehört haben, sensibilisiert sein sollten für die verändernde Kraft Jesu und deren Ursprung, sie fassen kein Vertrauen. Ihr „Vorwissen“ um Herkunft, Beruf und familiäre Zugehörigkeit steht einer offenen Begegnung mit der göttlichen Macht Jesu im Weg. Wo Jaïrus vertraut, neugierig ist und dem Unbekannten eine Chance gibt, bleiben die Menschen in Nazaret in ihren Erfahrungs- und Denkmustern stehen. Damit zeigt der Evangeliumsabschnitt: Schubladendenken macht die Erfahrung von Heil unmöglich. Denn Heil, Heilungen und die Erfahrung von Gottesnähe trägt immer das Moment des Unerwarteten, des Überraschenden in sich. Gotteserfahrung ist verknüpft mit Neugier und Vertrauen auf das Unerwartbare.

Hinzu kommt: Die Erfahrung Jesu sollte die Jünger nicht nur vorwarnen, welches Schicksal sie selbst erwarten könnte, wenn sie in ihren Heimatorten oder dort, wo sie bekannt sind, das Evangelium verkünden. Die Ablehnung Jesu in seiner Heimat und die Erkenntnis, dass ein Kategorisieren von Menschen, Situationen und Lebensumständen dem Erleben des Gottesreichs entgegensteht, muss die Jünger Jesu (zu allen Zeiten) aber noch auf einer zweiten Ebene sensibilisieren: Auch sie dürfen in ihren Begegnungen, in der Einordnung von Menschen nach Herkunft, Geschlecht, sozialer Schicht etc. nicht in ein Schubladendenken verfallen. Ihre Botschaft braucht die Unvoreingenommenheit und das Vertrauen, dass Gottes Heil überall dort zugegen ist, wo Menschen sich sehnend nach ihm ausstrecken.

Kunst etc.

Auf diesem Cornelis van Dalem zugeschriebenen Gemälde (zwischen 1545 und 1570) spricht Jesus nicht in der Synagoge, sondern in zeitgenössischer Übertragung in einer Kirche zu den Menschen. Allerdings steht er nicht im Mittelpunkt, sondern ist fast unscheinbar an der ersten Säule rechts zu sehen.