Lesejahr B: 2023/2024

2. Lesung (Hebr 1,1-6)

11Vielfältig und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten;

2am Ende dieser Tage hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben von allem eingesetzt, durch den er auch die Welt erschaffen hat;

3er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens; er trägt das All durch sein machtvolles Wort, hat die Reinigung von den Sünden bewirkt und sich dann zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt;

4er ist umso viel erhabener geworden als die Engel, wie der Name, den er geerbt hat, ihren Namen überragt.

5Denn zu welchem Engel hat er jemals gesagt: Mein Sohn bist du, / ich habe dich heute gezeugt, und weiter: Ich will für ihn Vater sein / und er wird für mich Sohn sein?

6Wenn er aber den Erstgeborenen wieder in die Welt einführt, sagt er: Alle Engel Gottes sollen sich vor ihm niederwerfen.

Überblick

Am Anfang dieser Lesung steht ein eindeutiges Bekenntnis: Der Gott des Alten Testaments ist ein und derselbe, der in Jesus Christus Mensch geworden ist. Wenn Jesus spricht, hören wir durch ihn denselben Gott, den ein Abraham vernommen und der sich in den Propheten mutige Sprecher und damit eine Stimme verschafft hat.

 

Einordnung

Hintergründe des Hebräerbriefs

Mit den Worten der Lesung vom Ersten Weihnachtstag beginnt der sogenannte Brief an die "Hebräer". Dessen Verfasser ist unbekannt. Schon der frühe Kirchenschriftsteller Origenes (ca. 185 - 254 n. Chr.) schreibt, dass "Gott allein" über die Identität des Verfassers "die Wahrheit wisse". Dass es nicht Paulus war, darin sind sich alle einig. Sprache, Theologie und thematische Schwerpunkte unterscheiden sich allzu deutlich von ihm. Das durchgehende Bemühen, die Gestalt Jesu Christi bzw. seine Bedeutung für den Glauben auf "Folienbildern" des Alten Testaments zu profilieren (Jesus ist mehr als die "Engel", er ist mehr als der alttestamentliche "Hohepriester", sein "Heiligtum" ist kein irdisches [wie das Zelt in der Wüste oder der Tempel von Jerusalem], sondern ein "himmlisches" usw.), lässt am ehesten an Christen denken, die den Weg aus dem Judentum zum Christentum gefunden haben. Dies soll wohl auch durch die nachträgliche Überschrift  "An die Hebräer" [griechisch: prós hebráious) nahegelegt werden. Andererseits setzt das Schreiben nirgendwo ein wirklich praktiziertes Judentum voraus, scheint sogar eher ursprünglich aus dem Bereich des Vielgötterglaubens stammende Christen vorauszusetzen (vgl. Hebräer 6,1: "wir wollen nicht noch einmal den Grund legen mit der Abkehr von toten Werken und dem Glauben an Gott"). Daher meint besonders die heutige deutsche Forschung zum Neuen Testament, dass wir uns eher eine heidenchristliche Gemeinde oder eine entsprechende Untergruppierung einer größeren Gemeinde, vielleicht im Gebiet Roms (?), vorstellen müssen. Tatsächlich machen die vielen alttestamentlichen Bezüge in Hebräer mehr den Eindruck intensiver Lektüre des Alten Testaments als denjenigen einer "Welt", in der man sich immer schon glaubend bewegt hat. Damit wäre allerdings eine sehr gebildete und wissende Gemeinde vorausgesetzt. Damit deutet sich allerdings zugleich das Problem an, dass heutzutage beim Vorlesen in der Gemeinde Lesungen aus dem Hebräerbrief kaum verstanden werden, weil das vorausgesetzte alttestamentliche Wissen eben nicht vorausgesetzt werden kann! Während heute nach ca. zwei Jahrtausenden viel Erklärungsarbeit ntowendig ist, war es für den Schreiber der damaligen Zeit offensichtlich möglich, mit seinen Worten in die Herzen zu treffen, mit denen er mahnen wollte, den Glauben nicht zu verlieren, und vor allem Mut und Hoffnung machen wollte.

 

Kein wirklicher Brief

Formal ist das Schreiben an die "Hebräer" kein wirklicher "Brief". Eher handelt es sich um eine groß angelegte Predigt oder gar Predigtsammlung (z. B. zu den Themen "Wort Gottes", "Ruhe", "Jesus, der Hohepriester"), die nur ganz am Ende mit Bitten und Gruß etwas künstlich an einen tatsächlichen Brief erinnert (Hebr 13,18-25). Ganz im Sinne jüdischer Predigten der damaligen Zeit kreisen die Ausführungen immer wieder um ausgesuchte Zitate aus der Heiligen Schrift, die im 1. Jh. n. Chr. noch allein aus dem Alten Testament bestand.

 

Hebräer 1,1-6 als Eröffnungstext

Insgesamt ist Hebr 1,1-6 ein extrem verdichteter Text. Wie eine Ouvertüre spielt er schon auf zahlreiche Themen an, die erst später entfaltet werden. In dieser Hinsicht ist der Text eher eine Art "Stichwort-Gedicht", wenn auch von höchster literarischer Qualität. Zum anderen setzt er als ein Schreiben aus dem ausgehenden 1. Jh. n. Chr. (80 - 90 n. Chr.) schon große theologische Texte bzw. zumindest deren Gedanken voraus. Hier sind vor allem die beiden Christushymnen des Philipperbriefes (Phil 2,6-11) und des Kolosserbriefes (Kol 1,15-20) sowie die Eröffnung des Johannesevangeliums (Joh 1,1-18) zu nennen.

 

Überblick

Verse 1-2a: Untypische Brieferöffnung

Kein Gruß, kein Wunsch, keine freundliche Anrede. Stattdessen setzt der Abschnitt mit höchst verdichteter Theologie ein: In wenigen Worten wird Gottes Wirken in der gesamten Geschichte bis zu der Nahtstelle zusammengefasst, die das Christentum mit der Geburt Jesu sowie seiner Kreuzigung und Auferweckung verbindet. Danach geht es nur noch um Jesus Christus, sein göttliches Wesen und das, was er bewirkt. Mit ihm ist für den Hebräer-"Brief" eine neue Zeit angebrochen. "Endzeit" nennt er sie: "Am Ende dieser Tage" (Vers 2). Mehr und Anderes als das, was sich in Jesus Christus ereignet hat, ist von Gott her in dieser zu Ende gehenden Zeit nicht zu erwarten. Der nächste Schritt wird bedeuten, dass von "diesen Tagen" der wirklich letzte kommt und damit die Zeit an sich aufhört. Dies verbindet die Heilige Schrift mit der Wiederkunft Christi, mit dem endgültigen Kommen des "Reiches Gottes", mit der "Vollendung" der Schöpfung durch Gott selbst

 

Vers 2 b-4: Ein Christuslied

Damit ist die Eröffnung des Schreibens beim eigentlichen Thema angelangt. Es geht um einen Hymnus auf Christus, den der unbekannte Verfasser seiner judenchristlichen Gemeinde in seiner ganzen Bedeutung vor Augen stellen will. Dabei steht er vor der Aufgabe, an aus dem Alten Testament bekannte Vorstellungen anknüpfen zu wollen und zugleich das Besondere an Jesus herauszustellen. Dazu wählt er ab Vers 4 die besonders seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. sich ausbreitende Vorstellung von den Engeln als himmlischen Wesen, die in der Welt Gottes leben, ihm am nächsten, aber keine Götter sind, sondern Geschöpfe. Noch höhere Wesen konnte man also gar nicht denken. Genau darauf aber zielt die Lesung: Jesus ist größer und mehr als irgendein Engel. Dies wird durch nichts deutlicher als durch die Rede vom "Sohn Gottes" (Vers 5) - eine einzigartige Aussage - sowie dadurch, dass die Engel sich vor diesem Sohn Gottes "niederwerfen" (Vers 6) und ihn damit in seiner Göttlichkeit anerkennen.

 

Verse 5-6: Eine Zitatenkette

Die beiden letzten Gedanken werden durch eine Zitatenkette aus dem Alten Testament veranschaulicht. Unter der Voraussetzung, dass Jesus Christus in den christlichen Gemeinden als "Sohn Gottes" bekannt wird - bereits ein Bekenntnis des Paulus, des ältesten Schreibers im Neuen Testament (vgl. z. B. den Gruß in 1 Korinther 1,9)1, und ebenso des Markus, des ältesten Evangelisten (vgl. Markus 1,1)2 -, argumentiert der Hebräer-"Brief": Wenn Gott in Psalm 2,7 sagt. "Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt", so sagt er dies nicht zu einem Engel, sondern zum messianischen, d. h. heilbringenden König, der Christus selber ist. Hebräer 1,5 deutet den Psalm also - in gut jüdischer Tradition - prophetisch. In der jüdischen Auslegung ist auch das messianische, auf einen künftigen Heilsbringer ausgerichtete Verständnis von 2 Samuel 7,14 vorgegeben. Im ursprünglichen Textzusammenhang lässt Gott dem König David durch dessen Freund und Propheten Natan ausrichten: "Ich werde für ihn Vater sein und er wird für mich Sohn sein." Gemeint ist damit zunächst einmal der Sohn und Nachfolger Davids, Salomo, der als erstes Glied einer "ewigen" Dynastie verstanden wird. Diese Natan-Weissagung wurde bereits in den letzten Jahrhunderten v. Chr. auf den erwarteten Messias bezogen. Hebräer 1,5 bezieht sie auf Christus. Auf einen "Engel" wurde sie nie bezogen.

Im Blick auf das Wiederkommen Christi als Gerichtsherr und Vollender der Welt schließt Vers 6 wieder ein Psalmenzitat an, und zwar in der Fassung der alten griechischen Übersetzung (sog. Septuaginta), auf die sich die frühen Christen zumeist bezogen. Während der hebräische Text (und entsprechend die Einheitsübersetzung) in Psalm 97,7 vom Niederfallen der "Götter" spricht, hat die griechische Übersetzung "korrigierend" eingegriffen und aus den "Göttern" "Engel" gemacht.3 Auch Deuteronomium (5. Buch Mose) 32,43 könnte als Zitathintergrund dienen: "... und alle Söhne Gottes sollen sich vor ihm niederwerfen", wobei hier jedoch Menschen und keine Engel gemeint sind. Dieser Versteil aus Deuteronomium ist in der hebräischen Bibel überhaupt nicht enthalten.

 

Schlussbemerkung

Übrigens hört der Prediger aus dem Hebräer-"Brief" mit dem Lesungsende keineswegs auf, alttestamentliche Zitate anzuführen. Die Verse 7-14 enthalten noch einmal 4 weitere Psalmenzitate. Damit bietet die Einleitung des Hebräerbriefs innerhalb des Neuen Testaments wohl die umfangreichste Zusammenstellung unterschiedlicher alttestamentlicher Worte "an einem Stück".

1

Auslegung

Zwei Zeiten (Verse 1-2a)

Die ersten beiden Verse stellen zwei Zeiten gegenüber. Für die erste Zeit stehen die Stichworte "Väter" und "Propheten", für die  Jetzt-Zeit ("diese Tage") stehen "wir" ("am Ende dieser Tage hat er zu uns gesprochen") und der "Sohn". Verbunden sind beide Zeiten durch das "Sprechen" ein und desselben Gottes ("hat Gott .... gesprochen" ; "hat er zu uns gesprochen").

Dabei meinen "Väter" nicht etwa nur Abraham, Isaak und Jakob, die sogenannten Patriarchen, sondern alle Glaubensvorfahren derjenigen, an die sich der Hebräerbrief wendet, letztlich also auch unsere Glaubensvorfahren. Das elfte Kapitel des Hebräerbriefs verdeutlicht dies in einer langen Auflistung. Die "Propheten" sind auch nicht nur unbedingt die großen Verkündigungsgestalten wie z. B. Jesaja, Jeremia oder Hosea, mit denen eigene Bücher des Alten Testaments verbunden sind. Bedenkt man, dass z. B. innerhalb des ersten Kapitels des Hebräerbriefes die meisten Zitate aus den Psalmen (plus 1 Samuel und Deuteronomium) stammen, wird deutlich: "Propheten" meint die gesamte Heilige Schrift Israels, also das Alte Testament. Denn in jüdischer Sicht gelten auch David, der als Verfasser der Psalmen angesehen wird, und Mose, von dem u. a. das Buch Deuteronomium spricht,  als Prophet.

Auch "sprechen" meint mehr und anderes, als man vermuten würde. Im Hebräischen hat der Begriff für "Wort" (hebräisch: dabar) zugleich die Bedeutung "Ereignis". Es geht um das Wirken Gott durch die Zeit hindurch. Dementsprechend ist auch beim "Sprechen durch den Sohn"  in Vers 2 nicht der am See Genesaret predigende Jesus gemeint. Vielmehr geht es darum, was dadurch geschehen ist, dass Gott seinen Sohn in die Welt gesandt hat und ihn nicht im Tod belassen, sondern machtvoll zu sich genommen und "zum Erben von allem" eingesetzt hat.

 

Die Rede vom "Sohn" (Verse 2b-3)

Drei Aussagen verbindet der Christushymnus des Hebräerbriefes miteinander:

1. Der Sohn, Jesus Christus, war immer schon bei Gott. Er war schon als Gottes "Wort" (griechisch: logos) bei der Schöpfung zugegen. "Durch ihn ist alles erschaffen" heißt es daher in Kolosser 1,16 und im Glaubensbekenntnis der Kirche. Die Schöpfung wird aber biblisch nicht nur als ein "Moment" gedacht, sondern Gott bewahrt auch diese Schöpfung (" er trägt das All durch sein machtvolles Wort").

2. Der Kreuzestod Jesu hat die "Reinigung von den Sünden" bewirkt, also all das einmal und für immer beseitigt, was trennend zwischen Gott und Mensch steht. Was der Hebräerbrief hier nur kurz andeutet, wird besonders in Hebr 9,1-28 ausgeführt.

3. Der Gekreuzigte ist von Gott "erhöht", also in das göttliche Leben gerufen worden. Damit ist er zum "Erben" der endgültigen und nie endenden Gemeinschaft mit Gott und zum endgültigen Anwalt des Lebens eingesetzt worden. Die eigentümliche Rede vom "Erben" erklärt sich daraus, dass der Hebräerbrief tröstend und aufrichtend seine Gemeinde ebenfalls als "Erben" sieht (vgl. Hebräer 1,14). Tod, Auferweckung und Erhöhung Jesu bewirken eine in Aussicht gestellte Teilhabe an der ewigen Gemeinschaft mit Gott für alle, die an diesen Jesus glauben können. Dieses in Aussicht gestellte Erbe soll schon jetzt von "der Furcht vor dem Tod" befreien (Hebr 2,15).

 

Der Vergleich mit den Engeln (Verse 4-6)

Zur Veranschaulichung der Besonderheit Jesu greift der Hebräerbrief zum Vergleich mit den Engeln. Hier verwendet der uns unbekannte Autor ein Verfahren, das er zu lieben scheint: Er weist auf eine alttestamentliche Größe hin, die er bei seiner Leserschaft als bekannt voraussetzen kann, und zeigt auf, inwieweit Jesus bzw. Gottes Handeln in Jesus diese alttestamentliche "Vorlage" überbietet. Dies zeigt er z. B. an der Gestalt des Hohepriesters oder am Zelt der Begegnung beim Durchzug durch die Wüste auf. Im Lesungstext von Weihnachten sind es nun die Engel. Obwohl von ihnen sogar gelegentlich als "Söhne Gottes" gesprochen wird (vgl. z. B. Gen 6,2; Deuteronomium 32,8; Ijob 2,1), sind sie nicht zu vergleichen mit "dem Sohn" schlechthin, der ganz und gar Gott wesensgleich ist. Vers 5 zitiert übrigens mit Ps 2,7 und und 2 Sam 7,14 zwei Stellen, die schon in der jüdischen Tradition als Hinweise auf den von Gott eingesetzten kommenden Messias gedeutet wurden. Die Erwartung dieses Messias sieht der Hebräerbrief in Jesus Christus erfüllt - wenn auch auf eine völlig unerwartete Weise. Denn Menschwerdung, Kreuzigung und Auferweckung gehörten nicht in den messianischen Erwartungshorizont jüdischer Vorstellung. Gerade aber so passt die Hebräerlesung in die Liturgie des Hochfestes der Geburt des Herrn.

Kunst etc.

File: Papyrus 89 - Laurentian Library, PLaur.142 - Hebrews 6,7–9.15–17 - recto.jpg. Gemeinfrei
File: Papyrus 89 - Laurentian Library, PLaur.142 - Hebrews 6,7–9.15–17 - recto.jpg. Gemeinfrei

Von keinem einzigen Brief des Neuen Testaments haben wir das Original. Aber die abgebildeten Fragmente zeigen immerhin die Überreste einer Handschrift des Hebräerbriefs aus dem 4. Jahrhundert.

Abschreiben, abschreiben, abschreiben - so lautet in den frühen Jahrhunderten die Devise zur Verbreitung dessen, was als Ur-Kunde des chrislichen Glaubens gilt. Dass an einem der großen Festtage des Kirchenjahres, dem Weihnachtsfest, der manch einem vielleicht eher wenig bekannte Hebräer-"Brief" vorgelesen wird, ruft diese altehrwürdige Tradition der Frühform des "Kopierens" in Erinnerung. Sie zeugt von dem Gewicht, das man von Anfang an der Bedeutung des Wortes Gottes gab, als welches auch das Schreiben an die Hebräer gilt.

Gerade der Eingangshymnus aus der heutigen Lesung macht es deutlich: Seine Zusammenschau der göttlichen Heilsgeschichte mit Christus als "Wendepunkt" lässt die Wirkkraft Gottes als Antriebsfeder des Schreibens spüren, wenn man sich einmal auf die innere Dynamik des Textes einlässt. In dieser Dynamik verbindet sich am Ende das "Niederwerfen der Engel" aus Hebräer 1,6 mit dem "Ehre sei Gott in der Höhe" der Engel bei den Hirten, als sie von der Geburt Jesu erfahren (vgl. Lukas 2,13-14).