Wenn Gott dem klagenden Menschen Fragen stellt, ändert sich die Perspektive – dieses bietet weder eine klare Antwort noch Trost; aber vielleicht kann daraus ein Lobpreis erwachsen.
1. Verortung im Buch
Im Angesicht seines Leids will Ijob seinen Gott von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen und ihn konfrontieren. Er sagt im Gespräch mit seinen Freunden, die sein Leid weg-theologisieren wollen: „Er mag mich töten, ich harre auf ihn; doch meine Wege verteidige ich vor ihm.“ (Ijob 13,15). Er will keine menschlichen Erklärungen, sondern eine Antwort von Gott – zugleich fürchtet er, dass Gott ihm ein gerechtes Urteil verwehrt, sondern den Schrecken gegen ihn herrschen lässt: „Er nehme von mir seine Rute, sein Schrecken soll mich nicht mehr ängstigen; dann will ich reden, ohne ihn zu fürchten. Doch so ist es nicht um mich bestellt.“ (Ijob 9,34). Wie theologisch vermessen das Anliegen Ijobs ist, legt ihm sein Freund Elihu dar: „Keine Finsternis gibt es, keinen Todesschatten, wo sich die Übeltäter bergen könnten. Denn dem Menschen setzt er keine Frist, zu Gott ins Gericht zu gehen.“ (Ijob 34,22-23). Gott verurteilt die Menschen, ohne sie anzuhören – er kennt ihre Taten. Und es gilt in der israelitischen Tradition, dass derjenige zu sterben hat, der Gott sieht (siehe Exodus 33,20). Nur einzelnen großen Gestalten der Heilsgeschichte ist es vergönnt, Gott von Angesicht zu Angesicht zu sehen – und in eben dies wird Ijob vergönnt: Gott erscheint ihm und gibt ihm eine Antwort (Ijob 38,1-40,2 und 40,6-41,26).
2. Aufbau, Stil
In seiner Antwort bricht Gott die anthropozentrische Perspektive Ijobs auf. Im ersten Teil des ersten Redegangs stellt er Ijob nicht weniger als 40 Fragen über zehn kosmische Themen, wie die Schöpfung, Morgenrot und Tagesanbruch, Wetterphänomene etc. – es sind Fragen, auf die Ijob keine Antworten geben kann. Es geht auch nicht um Antworten, sondern alle Fragen zielen auf Gründe zum Lobpreis Gottes. Und die Fragen Gottes sind keine Antwort auf Ijobs Klagen und Anrufungen. Gott geht nicht auf Ijobs Vorwürfe ein, sondern zwingt ihn von Anfang an in die Defensive, indem er ihn in langen Fragen, wie zum Beispiel in den Versen 8-11 zum Thema der Grenzen der Chaoswassers und der Meere, seine Allmächtigkeit vor Augen führt. Die Herkunft der Chaoswasser und somit der Chaosmächte in der Welt wird hier nicht erklärt.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1: Erscheinungen Gottes in der Welt werden in der Darstellung des Alten Testament oft von Naturphänomenen begleitet. Auch im Buch des Propheten Sacharja zeigt sich Gott in einem „Wettersturm“ (סְעָרָה, gesprochen: se’ara): „Der HERR selbst wird über ihnen erscheinen und wie der Blitz schießt sein Pfeil dahin und GOTT, der Herr, bläst ins Horn und kommt in den Stürmen (סַעֲרוֹת) des Südens.“ (Sacharja 9,14). Im Kontext des Ijob Buches ist der Wettersturm vielleicht ein Kontrast zu dem „großen Wind“, der zum Tod Ijobs Kinder führt – und Ijob selbst äußert in 9,17 seine Angst, dass Gott „im Sturm“ ihm ergreifen und sein Leid noch mehren wird. Der in Ijob 38,1 angeführte Sturm steht nicht für ein Gottesgericht, sondern ein hör- und sichtbares Phänomen, aus dem heraus Gott für Ijob selbst hör- und sichtbar entgegentritt.
Vers 8: In den Kulturen des Alten Orients gab es Mythen, die von der Entstehung der Welt als einem Kampf einer Gottheit gegen die Urwasser, deren Chaos und somit zerstörerische Macht, erzählten. Ein Beispiel hierfür findet sich in dem babylonischen Schöpfungsmythos Enūma eliš. Die Göttin Tiamat, die eine Personifizierung des Urozeans, bzw. des Salzwassers ist. und die Göttermutter ist, führt einen Krieg. Sie wird schließlich von dem Gott Marduk besiegt, der sie mit seinem „bösen Wind“ kampfunfähig macht und sie dann mit einem Pfeil tötet. Er spaltet sie in zwei Teile und erschafft aus ihrem Körper Himmel und Erde. In Vers 8 kommt es erst gar nicht zu einem Kampf gegen die Chaoswasser, sondern Gottes Macht ist von Anfang an ihre Begrenzung. Die Nennung des „Mutterschoß“ verweist darauf, dass Gott sie nicht erschaffen hat.
Vers 9: Gott weist die Chaoswasser nicht nur in Grenzen, sondern ist ihnen fürsorglich zugewandt – wodurch ihre Macht nochmals stärker depotenziert erscheint. Sowohl die Wolke als auch der dunkle Dunst sind Zeichen für die Gottespräsenz (siehe Exodus 19,16; 20,21). Die Gottespräsenz als Kleidung und Windel des „Neugeborenen“ zeigt die mütterliche Fürsorge, die zugleich eine Einschränkung ist. Es ist das Bild eines Wickelkindes, das so warm gehalten wird und durch die Bewegungsunfreiheit sich zugleich geborgen fühlt – dieses Verständnis wird auch konkret in der antiken, griechischen Übersetzung dieses Verses deutlich: „Ich legte ihm Gewölk als Umhüllung an und wickelte es in Nebel.“
Vers 10: Die Übersetzung „ausbrach meine Grenze“ gibt den nicht leicht zu verstehenden hebräischen Text wieder. Die Bedeutung des hebräischen Verbes שבר ist hier umstritten. Möglich ist vielleicht eine Ableitung des Wortes aus anderen semitischen Sprachen mit der Bedeutung „abmessen“. Der Sinn in Vers 10 ist jedoch deutlich und trifft sich mit der Aussage von Spr 9,28: „als er dem Meer sein Gesetz gab und die Wasser nicht seinen Befehl übertreten durften, als er die Fundamente der Erde abmaß“. Das hier in Vers 10 mit „Grenze“ übersetze Wort, bedeutet auch „eine göttliche Setzung / ein göttliches Gesetz“, d.h. Naturgesetz. Auch das Bild im zweiten Teil des Verses verdeutlicht die Grenzziehung. Es ist unklar, ob hier auf die Metaphorik von Stadttoren oder auf ein Gefängnis angespielt wird. Im babylonischen Schöpfungsmythos Enūma eliš setzt Marduk einen Riegel und stellt eine Wache auf, um die Wasser zurückzuhalten.
Vers 11: Die Chaoswasser und das Meer sind keine Rivalen für Gott. Er musste auch nicht erst im Kampf gegen sie obsiegen. Aber sie werden personifiziert und feindselig dargestellt. Es bedarf – auch in der Gegenwart – des göttlichen Wortes, um ihre Macht zu kontrollieren.