Lesejahr B: 2023/2024

2. Lesung (Hebr 9,11-15)

11Christus aber ist gekommen als Hohepriester der künftigen Güter

durch das größere und vollkommenere Zelt, das nicht von Menschenhand gemacht,
das heißt nicht von dieser Schöpfung ist.

12Nicht mit dem Blut von Böcken und jungen Stieren, sondern mit seinem eigenen Blut
ist er ein für alle Mal in das Heiligtum hineingegangen

und so hat er eine ewige Erlösung bewirkt.

13Denn wenn schon das Blut von Böcken und Stieren und die Asche einer jungen Kuh
die Unreinen, die damit besprengt werden,
so heiligt, dass sie leiblich rein werden,

14um wie viel mehr wird das Blut Christi,
der sich selbst als makelloses Opfer kraft des ewigen Geistes Gott dargebracht hat,
unser Gewissen von toten Werken reinigen,
damit wir dem lebendigen Gott dienen.

15Und darum ist er der Mittler eines neuen Bundes;

sein Tod hat die Erlösung von den im ersten Bund begangenen Übertretungen bewirkt,
damit die Berufenen das verheißene ewige Erbe erhalten.

Überblick

Zum Fronleichnamsfest hätte man kaum eine passendere Lesung aus dem Neuen Testament finden können. Denn der Hebräerbrief denkt in sehr konzentrierter Weise über das Geheimnis nach, das in jeder Eucharistiefeier unter den Zeichen von Brot und Wein gefeiert wird: Tod und Auferweckung Jesu. Dabei setzt die Lesung allerdings den Akzent vor allem auf die Lebenshingabe Jesu. Fronleichnam rückt festlich das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern vor seinem Tod in den Mittelpunkt, das diesen Tod zeichenhaft vorwegnahm und zum Anlass wurde, dieses zeichenhafte Mahl - "Herrenmahl" nannten es die frühen Christen, später wurde es Eucharistie genannt - immer wieder im vergegenwärtigenden Gedenken zu feiern - als Quelle und Höhepunkt allen kirchlichen Tuns. 

Warum die Konzentration auf diesen einen "Punkt", das Sterben Jesu, so zentral ist, genau darüber denkt die Lesung aus dem Hebräerbrief nach.

 

Kleine Hinführung

Wer nach dieser Einleitung erwartungsvoll die Lesung liest oder hört, wird möglicherweise frustriert sein, denn die Rede von "Hohepriester", "künftigen Gütern", "größerem, vollkommenerem und nicht menschengemachtem Zelt" erschließt sich allherhöchstens absoluten Insidern, und selbst dort, bei den Fachleuten, gibt es noch Diskussionen. Tatsächlich knüpft die Lesung an die vorangehenden Verse Hebräer 9,1-10 an. Sie sind so wesentlich für das Verständnis, dass eigentlich kein Weg daran vorbeiführt, diese Verse erst einmal nachzulesen. Sie finden sich unter "Kontext"

Bitte unbedingt an dieser Stelle lesen: "Kontext" und den dort abgedruckten Abschnitt Hebräer 9,1-10.

Mit diesem Abschnitt im Hinterkopf kann jetzt eine "Oberflächenbetrachtung" der Lesung starten. Die "Untiefen" der Einzelformulierungen werden unter "Auslegung" erläutert. Für deren Lektüre braucht es Geduld, weil der Hebräerbrief das Verstehen wahrlich nicht leicht macht.

 

Vers 11: Der neue Hohepriester Jesus Christus

Alles, was ab Vers 11 folgt, dient der Beschreibung der "Zeit einer besseren Ordnung", die der vorangehende Vers 10 abgesetzt wissen möchte  von der "schwachen und nutzlosen" Zeit des "Gesetzes", das "nicht zur Vollendung gegführt hat" (Hebräer 7,18.19; im selben Zusammenhang ist auch in Entsprechung zur "besseren Ordnung" von einer "besseren Hoffnung" bzw. einem "besseren Bund" die Rede: 7,19.22). Für diese "alte" Zeit steht der Begriff "Hohepriester", den der Hebräerbrief auf Jesus mit ganz neuer Füllung anwendet. Vereinfacht kann man sagen: Grundsätzlich sind beide "Hohepriester" - der alttestamentliche wie Jesus - durch dieselbe Aufgabe bestimmt: Mittler zu Gott hin zu sein. Doch der jüdische Hohepriester - den es zur Zeit des Hebräerbriefs ja schon gar nicht mehr gab, weil der Tempel seit 70 n. Chr. zerstört war - war in der Erfüllung dieser Aufgabe sehr begrenzt. Sein Sühnewirken galt nur rückwärtsgewandt, im Blick auf die Sünden des vergangenen Jahres. Er musste den entsprechenden Ritus am "Versöhnungstag" (yôm kippûr) jedes Jahr wiederholen und dabei auch noch für die Vergebung eigenen Sünder Opfer darbringen (vgl. im Vor-Text der Lesung Hebräer 9,7). Schließlich ordnet der Hebräerbrief den Tempelkult ganz der Schöpfungsordnung zu, Jesus und sein kultisch gedeutetes Wirken (sein Kreuzestod verstanden als "Opfer") gehören hingegen ganz in die Welt Gottes.

 

Vers 12: Die Selbsthingabe als Kennzeichen des neuen Hohepriesters

Dieser Vers führt ein weiteres Unterscheidungsmerkmal hinzu. Der alttestamentliche Hohepriester bringt bei seinen Riten Tierblut dar bzw. besprengt damit. Jesus hingegen bringt am Kreuz sein eigenes Leben - dafür steht jetzt das "eigene Blut" - dar. Mit anderen Worten: Er ist Opfernder und Gabe in einem. Dieses "Opfer" bedarf keiner Wiederholung. Was es erreichen will, die Versöhnung der Menschen mit Gott, die Eröffnung der "zukünfitgen Güter", bewirkt es ein für alle Mal. Insofern kann von einer "ewigen Erlösung" gesprochen werden. 

 

Verse 13-14: Die größere "Tiefenwirkung" des neuen Hohepriesters

Im nächsten Schritt trifft der Hebräerbrief noch eine letzte Unterscheidung zwischen den durch das Gesetz geregelten Opfern des Alten Testaments und dem Opfer Jesu, und zwar hinsichtlich ihrer "Reichweite": Die Tieropfer zielen nur auf den äußeren Leib (daher auch das Wort "Reinigung", was an das Abwaschen von Flecken erinnert), Jesu Opfer aber erreicht den innersten Ort des Menschen, an dem sich Richtig und Falsch seines Tuns entscheiden: das "Gewissen". Diese Thematik schlägt, ohne dass man es merkt, den Bogen zu Tauftheologie des Hebräerbriefs. Denn es ist die Taufe als Bindung an den gekreuzigten, auferweckten und am Thron des Vaters die Türen für die Seinen offenhaltenden Christus, die von den "toten Werken", d. h. vom Götzendienst Abstand nehmen lässt. Die Bindung gilt nicht länger  "toten Götterstatuen" o. ä., sondern dem "lebendigen Gott", und das wiederum verändert die Maßstäbe auch des ethischen Handelns.

 

Vers 15: Der neue Bund

Der Schlussvers eröffnet eigentlich einen neuen Absatz im Hebräerbrief, der einen Bildwechsel vornimmt. Darin geht es nicht mehr allein um die kultische Deutung des Todes Jesu. Begriffe wie "Hohepriester" oder "Opfer" verschwinden kurzfristig aus dem Blick. Stattdessen wird dasselbe in Kategorien des Rechts ausgedrückt: Gott erlöst nicht durch einen als Opfer gedeuteten Vorgang (Tod Jesu am Kreuz), sondern durch die Stiftung eines "neuen Bundes". An die Stelle der "Reinigung" tritt die "Erlösung", hinter der die Vorstellung des "Freikaufs" eines verschuldeten Menschen oder eines verpfändeten Grundstücks steht. Beides sind also im Ursprung Rechtsakte. Und an die Stelle der "ewigen Erlösung" (Vers 12) tritt jetzt das "ewige Erbe", letztlich  das ewige Leben, das zusammen mit der Anschauung Gottes und der Beseitigung aller denkbaren Barrieren, die zwischen Gott und Mensch bestehen könnten, die "küntigen Güter" bezeichnet, von denen der Eingangsvers der Lesung spricht.

 

 

 

 

 

 

Auslegung

Vers 11

"gekommen als Hohepriester"

Gleich der Anfang der Lesung ist im wörtlichen Sinn doppelt schwer, denn der Hebräerbrief hat sich dafür entschieden, Christus auf der Folie des alttestamentlichen "Hohepriesters" zu verstehen (ausführlich eingeführt in Hebräer 5 und 7). Dafür wählt er aber zwei verschiedene alttestamentliche "Hohepriester"-"Typen" [im Sinne von Vorbildern] zum Vergleich:

a) Melchisedek, den König von Salem. Er ist eine legendarische Priestergestalt, die mit Jerusalem ("Salem") verbunden wird und schon Abraham begegnet sein soll (Genesis/1. Buch Mose 14,18-20). Entscheidend ist: Diesem "Hohepriester" Melchisedek wird im Judentum eine himmlische Herkunft zugesprochen, weil seine Eltern nirgendwo erwähnt werden. Und auch von seinem Tod erfahren wir nichts, so dass auch die Ewigkeit mit ihm verbunden werden kann. Das alles unterscheidet ihn vom "Begründer" des eigentlichen Priestertums seit den Zeiten des Durchzugs durch die Wüste unter der Führung des Mose, nämlich von Aaron, ein Mann mit bekannten leiblichen Eltern (er gilt gar als Bruder des Mose) und ebenso bekanntem Grab nach seinem Tode (vgl. Numeri/4. Buch Mose 20,22-29). Für  den "Gottessohn" Jesus eignet sich daher zum Vergleich nur der "Himmelssohn" Melchisedek.

Für beide gilt: Sie sind "gekommen als Hohepriester". Man kann umschreiben: Sie sind auf Erden aufgetreten und waren einfach da. 

b) Alles Folgende hat mit Melchisedek nichts mehr zu tun, sondern bezieht sich auf die in der Nachfolge Aarons stehende Priesterschaft. Stellvertretend für diesen Kult spricht der Hebräerbrief - die Jahrhunderte im Zeitraffer zusammenschauend - vom "Hohepriester" als dem jeweiligen Anführer der Priesterschaft, die am Zelt in der Wüste, am ersten Tempel in Jerusalem (ca. 980 - 587 v. Chr.) und am nach seiner Zerstörung neu erbauten zweiten Tempel von Jerusalem (515 v. Chr. - 70 n. Chr.) Dienst tat. Historisch gehört der Titel "Hohepriester" erst zum Zweiten Tempel nach der Rückkehr aus der bayblonischen Gefangenschaft (Einweihung: 515 v. Chr.), nachdem der erste Tempel 587 v. Chr. durch die Babylonier zerstört worden war.

 

"Hohepriester der künftigen Güter"

Bereits die Formulierung "Hohepriester der künftigen Güter" bezieht sich auf diese Priesterschaft und ihren Kult. Anders als Melchisedek, der biblisch mit Abraham in Zusammenhang gebracht wird und damit in der Zeit lange vor dem Auszug aus Ägypten und vor jeglicher Mitteilung des Gesetzes anzusiedeln ist, ist der Zelt- und Tempelkult vollständig durch das am Berg Sinai mitgeteilte göttliche Gesetz (Tora) geregelt.

Damit aber unterliegt er in der Sicht des Hebräerbriefs einem Vorbehalt:

"Denn das Gesetz, das nur einen Schatten der künftigen Güter, nicht aber die Gestalt der Dinge selbst enthält, kann durch die immer gleichen, jährlich dargebrachten Opfer niemals diejenigen, die zu Gott hintreten, für immer zur Vollendung führen" (Hebräer 10,1). 

Mit anderen Worten: Der Hebräerbrief erklärt den Opferkult des Alten Testaments, für den der "Hohepriester" repräsentativ steht, für uneigentlich und nicht zielführend in dem, was er soll: nämlich eine dauerhafte Verbindung zu Gott hin zu eröffnen. Ihm gelingt es nicht, die gleich am Beginn des Hebräerbriefs in Aussicht gestellten "künftigen Güter", die in Begriffe wie himmlisches "Erbe", "Herrlichkeit", "Versöhnung" mit Gott oder Teilhabe an der "kommenden Welt" umschrieben werden (vgl. dazu Kapitel 1 - 2 des Hebräerbriefs), zu vermitteln. Hebräer 9,7 hält deshalb ausdrücklich fest: Der Hohepriester bringt jährlich, also jedes Jahr neu, Opfer für sich und die vom Volk begangenen Sünden dar. D. h.: Der Kult ist weniger auf "Künftiges" denn auf die allein rückwirkende Beseitigung von Schuld als Hindernis zu Gott ausgerichtet. Deshalb bedarf er auch der regelmäßigen Wiederholung. Jesus aber hat als "barmherziger und treuer Hohepriester vor Gott" (Hebräer 2,17) "ein für allemal" (Hebräer 9,12) "die Sünden des Volkes gesühnt" (Hebräer 2,17) und damit auf alle Zukunft hin den Zugang zu Gott freigemacht. Sein Tun hat nicht nur etwas "Schattenhaftes" (vgl. Hebräer 10,1; vgl. auch 8,5: "Sie [die Priester] dienen einem Abbild und Schatten der himmlischen Dinge"), sondern bewirkt wirklich etwas. Ob der Hebräerbrief mehr diesen Gedanken der "Wirklichkeit" oder mehr den der "Zukünftigkeit" betonen will, ist unklar, da der griechische Text zwei Fassungen kennt: Eine spricht von den "künftigen Gütern" (tōn mellóntōn agathōn), die andere von den "wirklichen Gütern"(tōn genoménōn agathōn). Die Einheitsübersetzung hat sich für die erste Fassung entschieden, in der Wissenschaft wird derzeit eher die zweite Variante als die ursprüngliche vorgezogen. Beide Sichtweisen aber ergänzen sich und passen sehr gut zusammen.

 

"das größere, vollkommenere Zelt ..."

Diese bildiche Redeweise spielt an auf das in Hebräer 9,2.6.8 genannte "erste Zelt". Gemeint ist: In der Zeit der Wüstenwanderung hatte Israel noch keinen Tempel, sondern ein Zeltheiligtum. Aber so wie der spätere Jerusalemer Tempel eine große "Vorhalle" für die täglichen Opfer der Priester hatte (das "Heiligtum"), die dem eigentlichen "Gotteswohnbereich", dem "Allerheiligsten", vorgelagert war, so gab es auch ein "Vorzelt" ("erstes Zelt", "Heiliges") und ein davon durch eine Zwischenzeltwand abgetrenntes zweites Zelt ("Allerheilgstes") für die Gegenwart Gottes selbst bzw. als Aufbewahrungort der sog. Bundeslade, ein tragbarer Holzkasten als Symbol für die Gegenwart des mitziehenden Gottes der Israeliten  . 

Diese beiden Zelte deutet der Hebräerbrief symbolisch im Sinne eines Zweizeitenschemas: Solange es des ersten Zeltes mit seinen täglichen Opfern bedurfte und der Zugang zum "Allerheiligsten" einen jährlichen Sonderritus durch den Hohepriester brauchte, lebte Israel und letztlich die Menschheit in einer Zeit, in der es noch keinen grundsätzlichen Zugang zum Allerheiligsten, d. h. letztlich zum vergebenden und barmherzigen Gott gab. Das erste Zelt steht für eine irdische und vorläufige Epoche, die abgelöst wird durch eine neue und immer noch andauernde Epoche, in der dieser Zugang zu Gott grundsätzlich eröffnet ist, nämlich durch den Heilstod Jesu Christi. Das ist die Aussage des der Lesung vorangehenden Verses Hebräer 9,8: "Damit macht der Heilige Geist deutlich, dass der Weg in das Heiligtum noch nicht offensteht, solange das erste Zelt noch Bestand hat."

Auf diesem Hintergrund besagt Vers 11 der Lesung: Jesus als "Hohepriester" hat sich ganz auf die "Vorläufigkeit" des ersten Zeltes, auf die Zeit der Unerlöstheit eingelassen. Durch diese Zeit hindurch, für die in Jesu Leben der als "Opfer" verstandene Tod Jesu am Kreuz steht, ist Jesus "in das Heiligtum hineingegangen" (Vers 12). Verwirrenderweise ist hier mit "Heiligtum" eindeutig das "Allerheiligste" gemeint, d. h. der Bereich Gottes. Es ist also das gemeint, was man mit "Christi Himmelfahrt" oder "Rückkehr zum Vater" und "Sitzen zur Rechten Gottes" in der kirchlichen Tradition umschreibt.

Inwieweit ist aber das erste Zelt "nicht von Menschen gemacht"? Gerne hält sich die neuere Exegese hier mit Konkretionen zurück und meint, der Hebräerbrief will nur allgemein die "endgültige Heilseffizienz der neuen Heilsordnung" (Hans-Friedrich Weiss, ähnlich Erich Grässer: "heilseffizientes Durchschreiten des himmlischen Zeltes") ausdrücken. Denkbar wäre eine Anspielung auf den "Himmel der Engel" als ein dem "Himmel Gottes" vorgelagerter Bereich. Plausibler ist es, die Formulierung mit Hebräer 8,1-2 in Verbindung zu bringen:

"1 Die Hauptsache bei dem Gesagten aber ist: Wir haben einen solchen Hohepriester, der sich zur Rechten des Thrones der Majestät im Himmel gesetzt hat, 2 als Diener des Heiligtums und des wahren Zeltes, das der Herr selbst aufgeschlagen hat, nicht ein Mensch."

Auf diesem Hintergrund könnte der Lesungsvers 11 meinen: Auch wenn  der Kreuzestod Jesu ganz in diese irdische Welt gehört, erfolgt seine göttliche Annahme als wirksames "Opfer" nicht gemäß den zum Tempel gehörenden, gesetzesbestimmten Opferriten, sondern unter den neuen Maßsstäben Gottes "im Himmel". Insofern sind Kreuzigung und Auferweckung bzw. "Hinzutreten zum Thron des Vaters" gleichermaßen im himmlischen, allein von Gott und nicht von Menschen bestimmten Zelt anzusiedeln. Aber auch dieses "himmlische Zelt" stellt sich der Verfasser des Hebräerbriefs zweiteilig vor: im "Vorzelt" wird das "Kreuzesopfer" im Sinne eines Selbstopfers durch den Hohepriester Christus dargebracht, der daraufhin in das Hauptzelt eintreten, d. h. dem Vater gegenübertreten kann, um damit auf alle Zukunft hin (Vers 12: "ewige Erlösung") allen Glaubenden zu ermögliche, dass sie in diesem himmlischen, nicht von Menschen gemachten Heiligtum Zutritt zum "Thron der Gnade" erhalten (Hebräer 12,2) bzw. "damit die Berufenen das verheißene ewige Erbe erhalten" (Vers 15 der Lesung).

Schließlich ist zumindest nicht völlig auszuschließen, dass sich das "erhabenere und vollkommenere, nicht von Menschenhand gemachte Zelt" auf den Leib des irdischen Jesus bezieht. Zwar spricht der Hebräerbrief nirgends vom Geheimnis der Empfängnis durch den Heiligen Geist bei Maria. Doch können die Verse Hebräer 10,5-7 durchaus als eine Parallelaussage mit anderem bildlichen Hintergrund, aber gleicher Absicht verstanden werden: Jesu Leib verdankt sich bereits ganz und gar dem Wirken Gottes und nicht den Schöpfungsgesetzmäßigkeiten von Zeugung und Tod: 

" 5 Darum spricht er bei seinem Eintritt in die Welt: Schlacht- und Speiseopfer hast du nicht gefordert, doch einen Leib hast du [angesprochen ist Gott] mir bereitet; 6 an Brand- und Sündopfern hast du kein Gefallen. 7 Da sagte ich: Siehe, ich komme - so steht es über mich in der Schriftrolle - , um deinen Willen, Gott, zu tun."

Das alles dürfte dem heutigen Menschen eine fremde Bidlerwelt sein. Es spricht aber alles dafür, dass im frühen Christentum, auch und gerade im Heidenchristentum, das Alte Testament als die einzig bis dahin vorhandene Bibel mit dem Anspruch, "Wort Gottes" zu sein, gelesen wurde und dass man von ihrer Bildwelt her versuchte, das Neue des Christentums zu verstehen. Leider - so muss man aus heutiger Sicht zugeben - ging dies mit einer zunehmenden Abgrenzung vom Judentum einher, aus dem das Christentum eigentlich entstammte. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n. Chr. war natürlich eine "Steilvorlage", auf die Vorläufigkeit des jüdischen Kultes herabzuschauen. So konnte man den "Hohepriester" Jesus als "Ablösung" des jüdischen Hohepriesters deuten und fand auch noch einen biblischen Vorausverweis in der Gestalt des "Himmelssohnes" und "Hohepriesters" Melchisedek, der gänzlich unabhängig vom aaronidisch-levitischen Priestertum genannt wird. Seine "Priesterordnung", in die über den Umweg von Ps 110,4 ("Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks", zitiert in Hebräer 7,17!) auch Jesus eingeordnet wird, gilt dem Hebräerbrief als die "bessere" Ordnung gegenüber der "Ordnung Aarons" (vgl. Hebräer 7,11:  "Wäre nun die Vollendung durch das levitische Priestertum gekommen - das Volk hat ja darüber gesetzliche Bestimmungen erhalten - , warum musste dann noch ein anderer Priester nach der Ordnung Melchisedeks eingesetzt und nicht nach der Ordnung Aarons benannt werden?").

 

Vers 12

"mit seinem eigenen Blut"

Zur aaronidischen und damit nach Sicht des Hebräerbriefs vorläufigen, nicht zukünftiges Heil bewirkenden Opferordnung gehört die Darbringung von und Besprengung mit Tierblut. Das galt ganz besonders für den einmal im Jahr stattfindenden Ritus am höchsten jüdischen Feeirtag, dem Versöhnungsftag (yôm kippûr), wenn der Hohepriester unter einmaliger Ausrufung des Namens Gottes das Allerheiligste, also das Hauptzelt bzw. den "Gottes-Raum", des Tempels betreten durfte.

Von diesem Ritus (Hebräer 9,7 fasst ihn prägnant zusammen) wird Jesu Kreuzestod abgesetzt. Denn hier wird nicht eine dem Opfernden fremde und äußerliche Opfermaterie (Tierblut) dargebracht, sondern das eigene Leben. Für dieses Leben steht symbolisch und um der Nähe zum alttestamentlichen Vor-Bild das Wort "Blut", auch wenn die Kreuzigung an sich im strengen Sinne kein "blutiger" Tod ist, sondern eher ein Erstickungstod. Dennoch bringen alle neutestamentlichen Zeugnisse, die von Jesu Tod sprechen, die Blut-Metapher als Zeichen der Lebenshingabe ausdrücklich ein, ob bei den Abendmahlsworten (Markus 14,24: "Das ist mein Blut"), beim "Blut schwitzenden" Jesus im Garten Getsemani (Lukas 22,44) oder wenn Johannes den Lanzenstich benennt, der zum Ausfließen von "Blut und Wasser" führt (Joh 19,34). Der Hebräerbrief scheint allerdings bei der betonten Rede vom "eigenen Blut" grundsätzlicher zu denken. Er übernimmt diskussionslos aus der jüdischen Tradition den Grundsatz: "ohne dass Blut vergossen wird, gibt es keine Vergebung", den er in Hebräer 9,22 zitiert. Er beruht auf  Levitikus/3 Mose 17,11: "... denn das Blut ist es, das durch Leben Versöhnung erwirkt", wo allerdings kein allgemeiner Grundsatz formuliert ist, sondern eine konkrete Erklärung, wie der Blutritus am Versöhnungstag zu verstehen ist: Gott allein handelt "sühnend", also vergebend, und stellt dafür sogar das Zeichen zur Verfügung, das diese Vergebung "sichbar" macht: nämlich das Blut, welches nach alttestamentlicher Sicht der Sitz des Lebens ist. Es geht um ein Zeichen, das der Mensch gar nicht herstellen könnte, eben Blut, sondern immer nur vorfindet.

 

"ewige Erlösung"

Entscheidend aber ist am Ende: Der Tod Jesu ist nicht ein Opfer, das täglich, jährlich oder in sonst einem Rhythmus wiederholt werden muss, sondern es wirkt "ein für alle Mal". Es bedeutet eine "ewige Erlösung", derer vergegenwärtigend gedacht, die aber nicht wiederholt werden kann und auch nicht braucht. Den Aspekt der "Ewigkeit" leitet der Briefautor wiederum sehr anschaulich aus dem Vergleich zwischen Jesus und den alttestamentlichen Hohenpriestern her: Diese sind allesamt gestorben und deshalb bedurfte es immer eines Nachfolgers im Amt,  "weil der Tod sie hinderte zu bleiben; 24 er aber [Jesus Christus] hat, weil er in Ewigkeit bleibt, ein unvergängliches Priestertum" (Hebr 7,23b-24).

 

Vers 13-14

"unser Gewissen von toten Werken reinigen"

In einem Neuansatz wird die Heilswirksamkeit des Sühneopfers Jesu am Kreuz von jüdischen Sühne- und Reinigungsriten abgesetzt. Etwas polemisch vermischt der Hebräerbrief hier Dinge, die nicht zusammengehören, nämlich den zum Versöhnungsfest gehörenden hohepriesterlichen Ritus mit dem "Blut von Böcken und Stieren" einerseits und den Renigungsritus nach der Verunreinigung durch Leichenberührung mit der "Asche einer roten Kuh" (vgl. dazu Numeri/4. Buch Mose 19,9f.13), der eher zu den "untergeordneten" Riten gehört und kaum dem "Hohepriester" zuzuordnen ist. 

Viel entscheidender ist aber der aus der jüdischen Schriftauslegung bekannte Schluss vom Leichteren auf das Schwerere. Wenn man schon Tierriten tatsächliche, näherhin leibliche Wirkungen zuschreibt ("Reinigung"), wieviel wirksamer muss dann das Selbstopfer des Menschen und Gottessohnes Jesus sein. Jetzt allerdings geht es nicht mehr um eine leibliche, also äußerliche Reinigung, sondern eine innere. Der Hebräerbrief spielt hier den Bereich des "Gewissens" ein. Einmal mehr ist diese Sicht bestimmt von den vorangehenden, in der Lesung ausgelassenen Versen 9,1-10. Denn Vers 9 spricht von den Gaben und Opfern des durch das Gesetz geregelten, also vorläufigen Kultes, "die das Gewissen des Opfernden nicht zur Vollkommenheit führen können".

"Gewissen" ist für den Hebräerbrief der "Ort", an dem die Taten - gute wie schlechte - ihren Ausgangspunkt nehmen. Wurde für den Briefschreiber dieser "Ort" im Menschen durch die Tempelriten überhaupt nicht erfasst, sieht das mit dem "Selbstopfer" Jesu anders aus. Was gemeint ist, erschließt sich erst, wenn man bis Kapitel 10 weiterliest:

"... lasst uns mit aufrichtigem Herzen und in voller Gewissheit des Glaubens hinzutreten, die Herzen durch Besprengung gereinigt vom schlechten Gewissen und den Leib gewaschen mit reinem Wasser!" (Hebräer 10,22).

Die "toten Werke" sind nach Hebräer 6,11 (hier stehen nebeneinander "Abkehr von toten Werken und  ... Glauben an Gott") der Götzendienst der Briefadressaten zur Zeit, als sie noch "Heiden" waren. Von ihm haben sie sich abgekehrt und damit auch von den zugehörigen Taten. Die Abkehr und "Reinigung des Gewissens" erfolgte in der Taufe, die auch eine Selbstverpflichtung zum "Dienst vor dem lebendigen Gott" [und eben nicht vor einem "toten" Götzen] bedeutet.

 

"makelloses Opfer"

Wenn Christus als "makelloses" Opfer bezeichnet wird, geschieht dies wiederum in Abgrenzung vom jüdischen Hohepriester,  der als "Mensch" [im Gegensatz zum "Gottessohn"] eben nicht makellos, aslo sündenfrei war, und deshalb zuallererst einmal Sündopfer für sich selbst darbringen musste (vgl. Hebräer 9,7: "... mit dem Blut, das er für sich ... darbringt").

 

"kraft ewigen Geistes"

Die Wendung "kraft ewigen Geistes" schließlich ist ein Rückgriff auf Hebräer 9,8:

"Damit macht der Heilige Geist deutlich, dass der Weg in das Heiligtum noch nicht offensteht, solange das erste Zelt noch Bestand hat."

In Jesu Kreuzesopfer war der "ewige Geist" Gottes am Werk, der  das "Offenstehen des Heiligtums" herbeiführen wollte, was der Tempel-Kult nicht vermochte.

 

Vers 15

Der Schlussvers fasst noch einmal alles zusammen, bringt aber das Bild des "neuen Bundes" ins Spiel. Damit wird die kultische Deutung des Todes Jesu verlassen und angeknüpft an eine Vorstellung, die beim Propheten Jeremia zur Sprache kommt. Aus diesem Buch hat der Hebräerbrief bereits in Kapitel 8 ganz ausführlich zitiert:

"10 Denn das wird der Bund sein, den ich nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schließe - spricht der Herr: Ich lege meine Gesetze in ihr Denken hinein und schreibe sie ihnen in ihr Herz. Ich werde ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein. 11 Und keiner wird seinen Mitbürger belehren und keiner seinem Bruder sagen: Erkenne den Herrn! Denn sie alle, Klein und Groß, werden mich kennen. 12 Denn ich werde ihr Unrecht vergeben und an ihre Sünden nicht mehr denken." (Hebräer 8,10-12; vgl. Jeremia 31,33-34)

Jetzt also wird "Opfer" durch "Bund" ersetzt und "Gewissen" durch "Herz".  Schließlich wird der Begriff "ewige Erlösung" durch den Begriff "ewiges Erbe" ausgetauscht. Die Welt des "Opfers" wird durch die Bildwelt des "Rechts" ersetzt, was vielleicht manchem eine Hilfe ist, sich das Gemeinte besser vorstellen zu können.

 

Kunst etc.

Lucas Cranach, Christus am Kreuz: Mitteltafel Altarbild Peter und Paul/Weimar (nach 1553), Wikimedia Commons
Lucas Cranach, Christus am Kreuz: Mitteltafel Altarbild Peter und Paul/Weimar (nach 1553), Wikimedia Commons

Wer nach Weimar kommt, sollte dieses Altar-Gemälde von Lucas Cranach dem Jüngeren in der sog. Herder-Kirche sich unbedingt ansehen. Es ist schwer, sich seiner Wirkung zu entziehen.

Es ist offensichtlich, dass es sich hier um ein protestantisches Bekenntnisbild handelt, das die von Luther gegründete Kirche der Reformation als die eigentliche Kirche aus der Seitenwunde des gekreuzigten Jesus hervorgehen lässt. Auf sie zielt der Strahl des Blutes. Sie lebt das Prinzip des "solus Christus" ("Christus allein"), auf den bereits Johannes der Täufer verwiesen hat, sie lebt das "sola scriptura"-Prinzip ("allein die Heilige Schrift"), das Luther mit der Bibel in der Hand repräsentiert, und sie lebt aus der "sola gratia" ("allein durch Gnade"), als deren repräsentativer Empfänger Lucas Cranach der Jüngere seinen Vater Lucas Cranach den Älteren unter das Kreuz gemalt hat.

Das Bild ist in der Entstehungsphase der Reformation im Sinne einer Selbstvergewisserung und in Zeiten der Konfessionskriege nur allzu verständlich. In Zeiten der Ökumene, wie sie soeben noch beim Ökumenischen Kirchentag in Frankfurt deutlich wurde, wird man dieses Bild im Geiste ergänzen und schauen, wie sich die katholische Kirche oder besser: alle christlichen Kirchen hier noch hineinmalen lassen. So wie umgekehrt das Altarssakrament, welches das Fronleichnamsfest auf besondere Weise in den Mittelpunkt stellt, nicht als Demonstration des Katholizismus, sondern als Bekenntnis zu Jesus Christus zu begreifen ist, von dem es Johannes 12,32 heißt:

"Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen.

Und dem entspricht der innigste Wunsch des Herrn:

"Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast, damit sie eins sind wie wir!" (Johannes 17,11).

Doch unabhängig davon bleibt die Frage, woher Cranach seine Bildersprache mit dem Blut-Strahl gewonnen hat. Und hier könnte tatsächlich der Hebräerbrief ein "Bildspender" gewesen sein":

"12 ...sondern mit seinem eigenen Blut ist er ein für alle Mal in das Heiligtum hineingegangen und so hat er eine ewige Erlösung bewirkt. ... 14 um wie viel mehr wird das Blut Christi, der sich selbst als makelloses Opfer kraft des ewigen Geistes Gott dargebracht hat, unser Gewissen von toten Werken reinigen, damit wir dem lebendigen Gott dienen."

Vielleicht zeigt das Gemälde dabei aber auch, welchen Unterschied es bedeutet, vom Sprachbild zum gemalten Bild zu wechseln.