Lesejahr B: 2023/2024

Evangelium (Mk 10,46-52)

46Sie kamen nach Jericho. Als er mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge Jericho wieder verließ, saß am Weg ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus.

47Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazaret war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir!

48Viele befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!

49Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich.

50Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu.

51Und Jesus fragte ihn: Was willst du, dass ich dir tue? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte sehen können.

52Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dich gerettet. Im gleichen Augenblick konnte er sehen und er folgte Jesus auf seinem Weg nach.

Überblick

Der Kern des Wunders. Ein Blinder will wieder sehen und erteilt uns eine Lektion.

1. Verortung im Evangelium
Der Evangelist Markus unternimmt es als erster eine Jesuserzählung zu schreiben und die zuvor meist mündliche Überlieferung zu einer fortlaufenden Geschichte zusammenzustellen. Das Markusevangelium (Mk) entsteht kurz nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n.Chr.) im Jüdischen Krieg. Der Verfasser ist unbekannt, auch wenn es innerhalb der kirchlichen Tradition eine Verbindung zu Markus einem Judenchristen hellenistischer Herkunft gibt. Dieser ist einerseits Paulusbegleiter (Apostelgeschichte 12,12) und andererseits Vertrauter des Petrus (1. Petrusbrief 5,13).
Das Markusevangelium beginnt in der Wüste (Mk 1,1-13) mit dem Auftreten des Täufers und der Taufe Jesu. Dann schildert es den Beginn der Verkündigung Jesu in Galiläa (Mk 1,14-8,26) und den Weg nach Jerusalem (Mk 8,27-10,52) und endet mit den Ereignissen in Jerusalem (Mk 11,1-16,20). Das ursprüngliche Ende des Evangeliums war die Begegnung der Frauen mit dem Engel am leeren Grab (Mk 16,8). Die Erweiterung um die Erscheinungserzählungen sind später hinzugefügt worden (Mk 16,9-20).
Der mit Mk 8,27 begonnene Abschnitt im Markusevangelium führte Jesus und seine Jünger stetig auf Jerusalem und das Leiden Jesu zu. Er wird gegliedert durch drei Ankündigungen des Leidens (Mk 8,31, Mk 9,31 und Mk 10,33-34) und inhaltlich stark durch das Thema der Jüngerschaft geprägt. Mit der Erzählung vom blinden Bartimäus (Mk 10,46-52) wird der Weg nach Jerusalem abgeschlossen. Es ist die letzte Szene des Evangeliums die außerhalb Jerusalems spielt – vom zweiten Markusschluss und der Begegnung mit dem Auferstandenen abgesehen.

 

2. Aufbau
Die klassisch aufgebaute Wundererzählung wird durch Vers 46 szenisch eingeleitet. In Vers 47 bringt Bartimäus sein Anliegen zum Ausdruck. Die typischen „Hindernisse“ zur Erfüllung seiner Bitte sind in Vers 48a dargestellt (die Menge befiehlt ihm zu schweigen), woraufhin er seine Bitte erneuert (Vers 48b). In Vers 49 betritt Jesus als der Wundertäter die Szene und Bartimäus wird herbeigerufen. Vers 50 zeigt noch einmal die Beharrlichkeit des Bittenden und leitet zur direkten Begegnung zwischen Bartimäus und Jesus in den Versen 51-52 über. Das Wunder selbst geschieht im geäußerten Glauben an die Wirkmacht Jesu (Vers 51). Vers 52 bestätigt das Wunder durch die gezeigten Konsequenzen: Bartimäus kann sehen und folgt Jesus nach.

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 46: Die Erzählung von Bartimäus, dem blinden Bettler, wird vor den Toren von Jericho lokalisert. Jericho ist eine 250m unter dem Meeresspiegel gelegene Stadt in der Senke des Jordans. Herodes hatte sich dort eine „Winterresidenz“ erbaut und entsprechend war die gesamte Stadt und ihre Anlage geprägt. Vom eigentlichen Aufenthalt Jesu in Jericho wird nichts berichtet. Ebenso wenig wird deutlich, in wie weit die Menschenmenge im Gefolge Jesu und seiner Jünger unterwegs ist oder einfach zeitgleich, zum Beispiel aufgrund des nahen Pesachfestes, die Stadt ebenfalls Richtung Jerusalem verlässt.

 

Verse 47-48: Bartimäus hat offenbar schon von Jesus gehört, was und von wem bleibt offen. Erkennbar wird nur, dass die Nachrichten über Jesus ihm das Vertrauen schenken, sich mit seinem existentiellen Anliegen an ihn wenden zu können. Sein Ruf „Sohn Davids“ hat nicht die Abstammung Jesu aus dem Hause Davids im Blick, sondern eine messianische Perspektive. In der jüdischen Tradition gibt es die Verbindung von Königtum und Davidsohn und beispielsweise einer Vollmacht über Dämonen und besonderer Weisheit. Der Ruf nach Erbarmen bringt die eigene Bedürftigkeit zum Ausdruck.
Die Menge reagiert harsch. Sie möchte Jesus unbehelligt weiterziehen lassen und befiehlt dem Blinden zu schweigen. Dass er auf die Behinderung seines Anliegens mit umso lauterem Rufen antwortet, zeigt seine Beharrlichkeit und sein Vertrauen. Dies erinnert an die heidnische Frau in Mk 7,24-30, die sich selbst von Jesu Abweisung nicht beirren lässt, und an das Jesus-Wort aus Matthäusevangelium von der Bitte, die der himmlische Vater erhört (Matthäusevangelium 7,7-11).

 

Verse 49-50: Die stetigen Rufe bringen die Menge und auch Jesus zum Stehen. Er lässt den Rufer zu sich rufen. Die Menge überbringt die Botschaft. Ihr „fasse Mut“ hat weniger die Funktion den beharrlichen Blinden zu unterstützen als die kommenden Ereignisse für die Leser vorzubereiten. Mit Vers 50 gewinnt die Erzählung eine plötzliche Dynamik: Der Blinde wirft den Mantel weg, springt auf und läuft Jesus entgegen. Die Häufung der Verben soll diese Beschleunigung hervorheben und zeigen, nun geht alles ganz schnell. Das Wegwerfen des Mantels kann als Zeichen der Erregung verstanden werden. Zugleich lässt der Blinde damit das zurück, was ihn in der Nacht wärmt und ihn am Tag bequem sitzen lässt und auf dem er seine Almosen sammeln kann.

 

Verse 51-52: Die Frage, die Jesus an Bartimäus richtet, erinnert stark an die Frage, die Jesus wenig vorher den Zebedäussöhnen stellte, als diese dabei waren, sich die besten Plätze zu sichern (Mk 10,35-37). Nur geht es in dieser Szene um eine existentielle Frage und Antwort Jesu und nicht um die Frage nach Ansehen. Die wachsamen Leser werden durch die nahezu identische Formulierung auf die unterschiedlichen Ausgangssituationen, die zu der Frage Jesu führen, gestoßen. 
Mit „Rabbuni“ verwendet Bartimäus eine besonders ehrfurchtsvolle Anrede und äußert dann klar und deutlich, was er sich erhofft. Die Antwort Jesu weckt die Erinnerung an Mk 5,25-34 und die blutflüssige Frau. Auch ihr wird zugesprochen, dass ihr Glaube sie „gerettet“ hat. Rettung ist hier im Sinne des angebrochenen Gottesreichs gleichbedeutend mit Heilung. Im Heilwerden zeigt sich die Zuwendung Gottes und sein Erbarmen, seine Rettung. Auch bei der Frau wird kein wunderwirkendes Wort ausgesprochen oder eine bewusste Berührung vollzogen – allerdings hatte die Frau ihrerseits Jesus zuvor bereits berührt.
Die Heilung erfolgt durch die Bestätigung des Glaubens in den Worten Jesu. Die wirkliche Kraft des Wunders beweist sich dann aber in der wortlosen Reaktion des Bartimäus, der Jesus „auf seinem Weg“ nachfolgt.

Auslegung

Seit Mk 8,27 finden alle Begegnungen, Gespräche und Taten Jesu „auf dem Weg“ statt. Er und seine Jünger nähern sich beständig dem Ziel der Reise Jesu: Jerusalem, die heilige Stadt, in der die Sendung Jesu vollendet wird. Worin seine Sendung durch den Vater besteht, dass zeigt der Evangelist Markus direkt zu Beginn seiner Jesuserzählung: Jesus verkündet das „Evangelium Gottes“ (Mk 1,14), indem er vom nahen Gottesreich spricht (Mk 1,15) und es in seinen Taten sichtbar macht (Mk 1,21-28). Zur Verbreitung der Botschaft gehört aber auch ein Aufruf: Wer mit dem nahen Gottesreich durch die Begegnung mit Jesus konfrontiert wird, der sollte sein Leben unter einer neuen Perspektive betrachten und dem lebensspendenden Wort Gottes (Evangelium) Glauben schenken („Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“, Mk 1,15).
Liest man die Erzählung vom blinden Bartimäus unter diesem Gesichtspunkt, stellt sie einen idealen Schlusspunkt auf dem Weg nach Jerusalem dar. Denn in ihr zeigt ein Mann sein unbedingtes Vertrauen in die Wirkmacht Gottes und stellt aus der Erfahrung der heilenden Gegenwart Jesu sein Leben vollkommen neu auf. Dass der Kern der Geschichte nicht im Wunder der Heilung, sondern aus dem besteht, was dem Wunder vorausgeht und nachfolgt, zeigt sich in der konkreten „Schilderung“ des Heilungsvorganges. Anders als noch bei der blutflüssigen Frau, bei der ein wirklicher Kontakt zwischen Jesus und ihr dem Wunder vorausging, ist bei Bartimäus keine Berührung, kein wunderwirkendes Wort mehr vorgesehen. Das „Mittel“ zum Wunder bringt entsprechend nicht Jesus mit, sondern es ist in Bartimäus selbst vorhanden. Allein der Glaube des Blinden, der sich durch keine Einschüchterungsversuche aus der Bahn bringen lässt, reicht, um das Wunder real werden zu lassen. Nicht zufällig ist das letzte Wunder Jesu im Markusevangelium ganz auf die Vollmacht des Gottessohnes einerseits und auf die vertrauende Haltung des Bartimäus andererseits zugespitzt. Die Wirkmacht Jesu und die liebende Zuwendung Gottes wird dort greifbar, wo sich ein Mensch mit allem was er hat, ganz auf Gott hin ausstreckt. Das Wegwerfen des Mantels ist schon vorweggenommenes Zeichen seiner späteren Nachfolge: Im Vertrauen auf Jesus und dessen Weg und Sendung lässt der Blinde sein Hab und Gut zurück. Er löst damit ein, was Jesus von seinen Jüngern einfordert – und er handelt so ohne die Belehrungen Jesu zur Jüngerschaft gehört zu haben. Die Beharrlichkeit mit der Bartimäus sich an Jesus wendet, seine Intuition nun alles stehen und liegen zu lassen und die Direktheit, mit der er sich in die Nachfolge Jesu begibt, sind beispielhaft. Er, der nun alles hätte realisieren und leben können, wovon er durch seine Blindheit ausgeschlossen war, er geht nicht ins pralle Leben zurück – er folgt Jesus nach. Und der kurze Weg, den er nun noch mit Jesus gehen wird, wird ihn an die Grenzen des Erträglichen führen. Schließlich ist er nicht vorbereitet auf das, was kommt. Er hat nicht mit eigenen Augen gesehen, was Jesus vollbringen kann. Er ist nicht selbst explizit aufgefordert worden, an der Sendung Jesu mitzuwirken. Und doch fragt er nicht, er geht mit. Die Jünger, die so viel mit Jesus erlebt haben, denen die kommenden Ereignisse behutsam versucht wurden näher zu bringen, die sich selbst als Botschafter, Apostel, des Gottesreichs begreifen dürfen – sie haben den ganzen Weg nach Jerusalem gerungen. Sie haben nach ihrer Rolle gesucht, die Notwendigkeit des Leidens angezweifelt und versucht sich selbst in Szene zu setzen. Angesichts des blinden Glaubens und Vertrauens mit der Bartimäus sich an Jesus wendet und ihm nun nachfolgt, müssen die Jünger – und wohl auch wir – bewundernd schweigen.

Kunst etc.

Das Gemälde ist eine Kopie nach einem Gemälde von Nicolas Poussin (1594-1665). Obwohl es laut Titel die Heilung des Blinden von Jericho darstellen soll, wird eine Berührung des Blinden durch Jesus gezeigt – entgegen der biblischen Überlieferung. Damit kommt die Schwierigkeit der Bartimäus-Erzählung und auch andere Wundergeschichten zum Ausdruck, in denen das Wunder „nur“ durch das wunderwirkende Wort Jesu und/oder den kraftvoll geäußerten Glauben des Kranken geschieht. Dass Gottes Vollmacht wirken kann, wenn der Glaube daran nur stark genug ist und das eigene Schicksal vertrauensvoll in seine Hände gelegt wird, scheint schwierig zu glauben.