Am Ende einer langen Rede das Wesentliche noch einmal kurz und bündig zusammenzufassen - das ist die Absicht der wenigen Lesungsverse, mit denen der Lektürezyklus durch den Hebräerbrief endet. Noch kürzer könnte man sagen: Was in Jesus Christus geschehen ist, gilt - für immer. Das Tor zum Leben ist und bleibt geöffnet.
Die Lesung in ihrem Kontext
Die ausgewählten Verse beenden die große mehrteilige Predigt des Hebräerbriefs zu Christus als "Hohepriester" (zur Untergliederung s. die Hinführung am 32. Sonntag im Jahreskreis), die am Schluss des vierten Kapitels begann und lediglich durch eine gemeindeorientierte Passage in Hebräer 5,11 - 6,12 unterbrochen wurde. Was in der genannten Passage eher wie ein überraschender Einschub daherkommt (der es allerdings "in sich hat"; vgl. bereits den ersten Satz aus 5,11: "Darüber hätten wir viel zu sagen; es ist aber schwer verständlich zu machen, da ihr träge geworden seid im Hören."), wird ab Hebräer 10,19 zum Hauptthema, das bis zum Schlusskapitel 13 auch nicht mehr verlassen wird: die angesprochene(n) Gemeinde(n), über deren geographische Lage sich nichts Genaues sagen lässt. Auf jeden Fall dürften die Angesprochenen ursprünglich Heiden gewesen sein, die erst durch die christliche Mission den Glauben an den einen Gott kennengelernt haben, sich taufen ließen und nun als Minderheit in einem weiterhin römisch-griechisch-heidnisch geprägten Umfeld zu einer verängstigen Schar geworden sind, in der sich auch schon Fluchttendenzen breitmachen. Ihnen versucht der unbekannte Verfasser des Hebräerbriefs in immer neuen Anläufen durch seine Predigten "Zuversicht", "Hoffnung", "Glauben" und ein treues "Festhalten am Bekenntnis" zuzusprechen. Das Ziel ist eine ebenso im Glauben gefestigte wie auch eine vorbildlich lebende Gemeinde, die weniger durch Verkündigung als durch exemplarisches Vorleben christlicher Grundhaltungen (so besonders Kapitel 13) eine missionarische Kraft gewinnt. Diese Kraft soll also letztlich aus christlicher Identität erwachsen.
Dieses Ziel ist immer im Blick zu behalten, wenn man die theologischen "Lehranteile" des Hebräerbriefs liest, die bis Hebräer 10,18 reichen. Den Versen der Lesung kommt die Aufgabe einer Bündelung dessen zu, was ab Hebräer 4,14 ausgeführt wurde.
Vers 11
Der erste Vers der Lesung greift noch einmal auf den Vergleich zwischen Jesus und dem Hohepriester zurück. Allerdings geht es jetzt verallgemeinernd um den alttestamentlichen Priesterdienst. Während der Hohepriester einmal im Jahr, am Versöhnungsfest, zum großen Sühneopferritus schritt, hatten die "unterrangigen" Priester den täglichen Opferdienst zu garantieren. Allein die Tatsache der notwendigen Wiederholung macht für den Schreiber schon deutlich, dass diese Opfer keine wirkliche, d. h. keine endgültige Sündenhinwegnahme bewirken können.
Vers 12
Das unterscheidet in der Sicht des Hebräerbriefs den alttestamentlichen Opferdienst vom "einzigen Opfer" Christi, worunter Leiden, Kreuz, Auferweckung und Himmelfahrt Jesu letztlich brennpunktartig zusammengefasst werden. Die Annahme dieses Weges Jesu zugunsten der Menschen bedeutet die Selbstdarbringung seines Lebens. Diese aber schließt jegliche Wiederholung aus, wie umgekehrt das, was in ihr sichtbar wird, nämlich die Eröffnung ewigen Lebens für alle, für alle Zeiten gilt. Da ist weder ein neuer Jesus noch eine neue Kreuzigung noch sonst irgendetwas Vergleichbares mehr zu erwarten. Darin genau liegt der Unterschied zum Gedanken des Opfers (egal ob von Tieren, Getreide oder sonst etwas), das Gott täglich neu gnädig zu stimmen beabsichtigt. Im Grunde sagt der Hebräerbrief: Gott muss nicht gnädig gestimmt werden, sondern er ist gnädig und stärker als jede todbringende Macht, wie er in Jesus Christus gezeigt hat. Dies gilt es "nur" wirklich zu glauben. Die Herausforderung ist dabei, innerlich annehmen zu können, dass in Jesus Christus äußerste Ohnmacht und Erniedrigung einerseits (Leiden und Kreuzestod) und todüberwindende, alle Zeiten zusammenfassende Macht andererseits ("... sich dann für immer zur Rechten Gottes gesetzt") zusammenkommen.
Vers 13
Unter Anspielung auf Hebräer 1,13 wird ein mehrfach in der Heiligen Schrift bezeugtes Bild für die Wiederkunft Christi herangezogen. Es stammt aus der altorientalischen Bilderwelt, in der ein siegreicher Herrscher so dargestellt wird, dass die eroberten Feinde zusammengeschnürt wie Teppichrollen unter seinen Füßen liegen. Sie bilden einen Fußschemel aus Körpern. Diese eher menschenverachtende Symbolik wird neutestamentlich stärker auf die letzten himmlischen, sich Gott widersetzenden Mächte bezogen, vor allem aber auf den letzten Feind, als welcher der "Tod" selbst gilt. D. h. der Tod als zur Schöpfung gehörendes "Phänomen" wird wie eine Person gedacht und in das altorientalische Feindbild gekleidet.
Auf diesem Hintergrund spricht Vers 13 von der nicht mehr in menschliche Vorstellung zu fassenden Zeit, in der "der Tod nicht mehr ist" (vgl. Offenbarung 21,4). Alles ist nur noch Leben. Es ist genau diese Dimension, in der Christus für die Glaubenden seit Tod, Auferweckung und Himmelfahrt schon ist, um diejenigen im selben "Lebensraum" zu erwarten, für die er seinen Weg gegangen ist und die auf ihn ihre Hoffnung setzen. Sein "Warten" entspricht dem "Erwarten" der Menschen, von dem am letzten Sonntag die Rede war: "um die zu retten, die ihn erwarten" (Hebräer 9,28).
Vers 14
Unter Rückgriff auf Vers 12 ("ein einziges Opfer"), der das Tun Jesu würdigt, wird dasselbe Geschehen nun im Blick auf diejenigen betrachtet, die davon "profitieren". Das erste entsprechende Stichwort, "heiligen", hat der Verfasser schon im grundlegenden Einleitungsteil seines Briefes eingeführt und auch inhaltlich gefüllt:
"10 Denn es war angemessen, dass Gott, für den und durch den das All ist und der viele Söhne zur Herrlichkeit führen wollte, den Urheber ihres Heils durch Leiden vollendete. 11 Denn er, der heiligt, und sie, die geheiligt werden, stammen alle aus Einem; darum schämt er sich nicht, sie Brüder zu nennen" (Hebräer 2,10-11).
"Heiligung" meint die Beseitigung von allem Trennenden zwischen Gott und Mensch, das biblisch in das Wort "Sünde" gefasst wird und vorstellungsmäßig geradezu materielle Dimensionen annimmt. Sünde hüllt die Täterin bzw. den Täter wie eine Giftgaswolke ein mit tödlicher Wirkung. Diese Wolke aufzulösen ist der tiefe Sinn der Selbsthingabe Jesu: Er begibt sich freiwillig in den Todesstrudel hinein, ohne selbst gesündigt zu haben, und wird - das besagt Auferweckung - aus ihr herausgerissen. Besser, um im Bild zu blöeiben: Die Wolke zerplatzt - für alle. Ungestörte Gottesgemeinschaft ist eröffnet. Und das genau meint "heiligen": hineinholen in die ungestörte Gemeinschaft mit Gott und herausholen aus allen Zusammenhängen, die gottfremd und lebenszerstörend oder -bedrohlich sind. In der biblischen Symbolwelt, die nicht nur materiell, sondern vor allem auch räumlich denkt, ist das der Bereich außerhalb bzw. "vor dem Heiligtum", lateinisch: "pro fanum". Dieser "profane" Bereich war für die christliche(n) Gemeinde(n), an die sich der Hebräerbreif wendet, die römisch-heidnische Umwelt.
Das Stichwort "Vollendung" steht in Parallele zum "ein für alle Mal" des Handelns Jesu (vgl. Hebräer 10,10: "Aufgrund dieses Willens sind wir durch die Hingabe des Leibes Jesu Christi geheiligt - ein für alle Mal."). Das für das Heil der Menschen Notwendige ist endgültig und definitv geschehen und es bedarf keiner Wiederholungen und keiner Ergänzungen. Was es wohl braucht, und darauf verweist die Zeitstufe der Gegenwart "die geheiligt werden", ist, dass die Menschen sich darauf einlassen, in Gottes durch Jesus garantierte Gegenwart und Gemeinschaft zu leben. Gerade beim Stichwort "heiligen" dürfte biblisch immer die grundlegende Weisung mitzuhören sein:
"Seid heilig, denn ich, der HERR, euer Gott, bin heilig" (Lev 19,2).
Vers 18
Die ausgelassenen (unter Bibeltext mit abgedruckten) Verse 15-17 führen wieder ein Wort aus dem Alten Testament ein, dessen Sprecher diesmal nicht Gott und nicht Jesus, sondern der Heilige Geist als zeitenübergreifender Garant der Gültigkeit dieses Wortes ist. Mit Hilfe des kürzenden und leicht veränderten Zitates aus Jeremia 31,33.34b kann der Verfasser des Hebräerbriefs noch einmal das zuvor angesprochene Thema "Bund" (Hebräer 9,15-28) erinnern und zusammenfassend einfließen lassen. Vor allem aber wird das Prophetenwort eingespielt, weil es mit dem Stichwort "Bund" das andere Stichwort "Sünden(vergebung)" verbindet, die schon in der Formulierung des Prophetenwortes als endgültig ("denke ich nicht mehr") angekündigt wird.
Damit steckt schon in dem geistgewirkten Wort des Propheten Jeremia die Wahrheit, die sich in der Selbsthingabe Jesu am Kreuz erwiesen hat und die zu wiederholen der Hebräerbrief in seinen Ausführungen von Kapitel 4 - 10,18 nicht müde wird:
"Wo also die Sünden vergeben sind, da gibt es kein Opfer für die Sünden mehr."