Lesejahr B: 2023/2024

2. Lesung (Hebr 10,11-14.18)

11Und jeder Priester steht Tag für Tag da, versieht seinen Dienst und bringt viele Male die gleichen Opfer dar, die doch niemals Sünden wegnehmen können.

12Dieser aber hat nur ein einziges Opfer für die Sünden dargebracht und sich dann für immer zur Rechten Gottes gesetzt;

13seitdem wartet er, bis seine Feinde ihm als Schemel unter die Füße gelegt werden.

14Denn durch ein einziges Opfer hat er die, die geheiligt werden, für immer zur Vollendung geführt.

15[Das bezeugt uns auch der Heilige Geist; nachdem er gesagt hat:
16Dies ist der Bund, den ich nach diesen Tagen mit ihnen schließen werde - / spricht der Herr:
Ich lege meine Gesetze in ihr Herz / und schreibe sie in ihr Denken hinein;

17und: An ihre Sünden und Übertretungen denke ich nicht mehr.]

18Wo also die Sünden vergeben sind, da gibt es kein Opfer für die Sünden mehr.

Überblick

Am Ende einer langen Rede das Wesentliche noch einmal kurz und bündig zusammenzufassen - das ist die Absicht der wenigen Lesungsverse, mit denen der Lektürezyklus durch den Hebräerbrief endet. Noch kürzer könnte man sagen: Was in Jesus Christus geschehen ist, gilt - für immer. Das Tor zum Leben ist und bleibt geöffnet.

 

Die Lesung in ihrem Kontext

Die ausgewählten Verse beenden die große mehrteilige Predigt des Hebräerbriefs zu Christus als "Hohepriester" (zur Untergliederung s. die Hinführung am 32. Sonntag im Jahreskreis), die am Schluss des vierten Kapitels begann und lediglich durch eine gemeindeorientierte Passage in Hebräer 5,11 - 6,12 unterbrochen wurde. Was in der genannten Passage eher wie ein überraschender Einschub daherkommt (der es allerdings "in sich hat"; vgl. bereits den ersten Satz aus 5,11: "Darüber hätten wir viel zu sagen; es ist aber schwer verständlich zu machen, da ihr träge geworden seid im Hören."), wird ab Hebräer 10,19 zum Hauptthema, das bis zum Schlusskapitel 13 auch nicht mehr verlassen wird: die angesprochene(n) Gemeinde(n), über deren geographische Lage sich nichts Genaues sagen lässt. Auf jeden Fall dürften die Angesprochenen ursprünglich Heiden gewesen sein, die erst durch die christliche Mission den Glauben an den einen Gott kennengelernt haben, sich taufen ließen und nun als Minderheit in einem weiterhin römisch-griechisch-heidnisch geprägten Umfeld zu einer verängstigen Schar geworden sind, in der sich auch schon Fluchttendenzen breitmachen. Ihnen versucht der unbekannte Verfasser des Hebräerbriefs in immer neuen Anläufen durch seine Predigten "Zuversicht", "Hoffnung", "Glauben" und ein treues "Festhalten am Bekenntnis" zuzusprechen. Das Ziel ist eine ebenso im Glauben gefestigte wie auch eine vorbildlich lebende Gemeinde, die weniger durch Verkündigung als durch exemplarisches Vorleben christlicher Grundhaltungen (so besonders Kapitel 13) eine missionarische Kraft gewinnt. Diese Kraft soll also letztlich aus christlicher Identität erwachsen.

Dieses Ziel ist immer im Blick zu behalten, wenn man die theologischen "Lehranteile" des Hebräerbriefs liest, die bis Hebräer 10,18 reichen. Den Versen der Lesung kommt die Aufgabe einer Bündelung dessen zu, was ab Hebräer 4,14 ausgeführt wurde.

 

Vers 11

Der erste Vers der Lesung greift noch einmal auf den Vergleich zwischen Jesus und dem Hohepriester zurück. Allerdings geht es jetzt verallgemeinernd um den alttestamentlichen Priesterdienst. Während der Hohepriester einmal im Jahr, am Versöhnungsfest, zum großen Sühneopferritus schritt, hatten die "unterrangigen" Priester den täglichen Opferdienst zu garantieren. Allein die Tatsache der notwendigen Wiederholung macht für den Schreiber schon deutlich, dass diese Opfer keine wirkliche, d. h. keine  endgültige Sündenhinwegnahme bewirken können.

 

Vers 12

Das unterscheidet in der Sicht des Hebräerbriefs den alttestamentlichen Opferdienst vom "einzigen Opfer" Christi, worunter Leiden, Kreuz, Auferweckung und Himmelfahrt Jesu letztlich brennpunktartig zusammengefasst werden. Die Annahme dieses Weges Jesu zugunsten der Menschen bedeutet die Selbstdarbringung seines Lebens. Diese aber schließt jegliche Wiederholung aus, wie umgekehrt das, was in ihr sichtbar wird, nämlich die Eröffnung ewigen Lebens für alle, für alle Zeiten gilt. Da ist weder ein neuer Jesus noch eine neue Kreuzigung noch sonst irgendetwas Vergleichbares mehr zu erwarten. Darin genau liegt der Unterschied zum Gedanken des Opfers (egal ob von Tieren, Getreide oder sonst etwas), das Gott täglich neu gnädig zu stimmen beabsichtigt. Im Grunde sagt der Hebräerbrief: Gott muss nicht gnädig gestimmt werden, sondern er ist gnädig und stärker als jede todbringende Macht, wie er in Jesus Christus gezeigt hat. Dies gilt es "nur" wirklich zu glauben. Die Herausforderung ist dabei, innerlich annehmen zu können, dass in Jesus Christus äußerste Ohnmacht und Erniedrigung einerseits (Leiden und Kreuzestod) und todüberwindende, alle Zeiten zusammenfassende Macht andererseits ("... sich dann für immer zur Rechten Gottes gesetzt") zusammenkommen.

 

Vers 13

Unter Anspielung auf Hebräer 1,13 wird ein mehrfach in der Heiligen Schrift bezeugtes Bild für die Wiederkunft Christi herangezogen. Es stammt aus der altorientalischen Bilderwelt, in der ein siegreicher Herrscher so dargestellt wird, dass die eroberten Feinde zusammengeschnürt wie Teppichrollen unter seinen Füßen liegen. Sie bilden einen Fußschemel aus Körpern. Diese eher menschenverachtende Symbolik wird neutestamentlich stärker auf die letzten himmlischen, sich Gott widersetzenden Mächte bezogen, vor allem aber auf den letzten Feind, als welcher der "Tod" selbst gilt. D. h. der Tod als zur Schöpfung gehörendes "Phänomen" wird wie eine Person gedacht und in das altorientalische Feindbild gekleidet. 

Auf diesem Hintergrund spricht Vers 13 von der nicht mehr in menschliche Vorstellung zu fassenden Zeit, in der "der Tod nicht mehr ist" (vgl. Offenbarung 21,4). Alles ist nur noch Leben. Es ist genau diese Dimension, in der Christus für die Glaubenden seit Tod, Auferweckung und Himmelfahrt schon ist, um diejenigen im selben "Lebensraum" zu erwarten, für die er seinen Weg gegangen ist und die auf ihn ihre Hoffnung setzen. Sein "Warten" entspricht dem "Erwarten" der Menschen, von dem am letzten Sonntag die Rede war: "um die zu retten, die ihn erwarten" (Hebräer 9,28).

 

Vers 14

Unter Rückgriff auf Vers 12 ("ein einziges Opfer"), der das Tun Jesu würdigt, wird dasselbe Geschehen nun im Blick auf diejenigen betrachtet, die davon "profitieren". Das erste entsprechende Stichwort, "heiligen", hat der Verfasser schon im grundlegenden Einleitungsteil seines Briefes eingeführt und auch inhaltlich gefüllt:

"10 Denn es war angemessen, dass Gott, für den und durch den das All ist und der viele Söhne zur Herrlichkeit führen wollte, den Urheber ihres Heils durch Leiden vollendete. 11 Denn er, der heiligt, und sie, die geheiligt werden, stammen alle aus Einem; darum schämt er sich nicht, sie Brüder zu nennen" (Hebräer 2,10-11).

"Heiligung" meint die Beseitigung von allem Trennenden zwischen Gott und Mensch, das  biblisch in das Wort "Sünde" gefasst wird und vorstellungsmäßig  geradezu materielle Dimensionen annimmt. Sünde hüllt die Täterin bzw. den Täter wie eine Giftgaswolke ein mit tödlicher Wirkung. Diese Wolke aufzulösen ist der tiefe Sinn der Selbsthingabe Jesu: Er begibt sich freiwillig in den Todesstrudel hinein, ohne selbst gesündigt zu haben, und wird - das besagt Auferweckung - aus ihr herausgerissen. Besser, um im Bild zu blöeiben: Die Wolke zerplatzt - für alle. Ungestörte Gottesgemeinschaft ist eröffnet. Und das genau meint "heiligen": hineinholen in die ungestörte Gemeinschaft mit Gott und herausholen aus allen Zusammenhängen, die gottfremd und lebenszerstörend oder -bedrohlich sind. In der biblischen Symbolwelt, die nicht nur materiell, sondern vor allem auch räumlich denkt, ist das der Bereich außerhalb bzw. "vor dem Heiligtum", lateinisch: "pro fanum". Dieser "profane" Bereich war für die christliche(n) Gemeinde(n), an die sich der Hebräerbreif wendet, die römisch-heidnische Umwelt.

Das Stichwort "Vollendung" steht in Parallele zum "ein für alle Mal" des Handelns Jesu (vgl. Hebräer 10,10: "Aufgrund dieses Willens sind wir durch die Hingabe des Leibes Jesu Christi geheiligt - ein für alle Mal."). Das für das Heil der Menschen Notwendige ist endgültig und definitv geschehen und es bedarf keiner Wiederholungen und keiner Ergänzungen. Was es wohl braucht, und darauf verweist die Zeitstufe der Gegenwart "die geheiligt werden", ist, dass die Menschen sich darauf einlassen, in Gottes durch Jesus garantierte Gegenwart und Gemeinschaft zu leben. Gerade beim Stichwort "heiligen" dürfte biblisch immer die grundlegende Weisung mitzuhören sein: 

"Seid heilig, denn ich, der HERR, euer Gott, bin heilig" (Lev 19,2).

 

Vers 18

Die ausgelassenen (unter Bibeltext mit abgedruckten) Verse 15-17 führen wieder ein Wort aus dem Alten Testament ein, dessen Sprecher diesmal nicht Gott und nicht Jesus, sondern der Heilige Geist als zeitenübergreifender Garant der Gültigkeit dieses Wortes ist. Mit Hilfe des kürzenden und leicht veränderten Zitates aus Jeremia 31,33.34b kann der Verfasser des Hebräerbriefs noch einmal das zuvor angesprochene Thema "Bund" (Hebräer 9,15-28) erinnern und zusammenfassend einfließen lassen. Vor allem aber wird das Prophetenwort eingespielt, weil es mit dem Stichwort "Bund" das andere Stichwort "Sünden(vergebung)" verbindet, die schon in der Formulierung des Prophetenwortes als endgültig ("denke ich nicht mehr") angekündigt wird.

Damit steckt schon in dem geistgewirkten Wort des Propheten Jeremia die Wahrheit, die sich in der Selbsthingabe Jesu am Kreuz erwiesen hat und die zu wiederholen der Hebräerbrief in seinen Ausführungen von Kapitel 4 - 10,18 nicht müde wird: 

"Wo also die Sünden vergeben sind, da gibt es kein Opfer für die Sünden mehr."

Auslegung

"für immer zur Rechten Gottes gesetzt" (Vers 12)

Es ist eine Besonderheit des Hebräerbriefs, die ihn z. B. von der paulinischen Argumentation unterscheidet, nicht nur auf Kreuz und Auferweckung Jesu zu schauen, sondern immer auch schon die Folge, die Erhöhung zum Vater und Ermächtigung zum Weltenherrscher mitzubedenken. Der Gedanke an sich ist auch Paulus nicht fremd, wird aber - außer im Philipperbrief-Hymnus 2,6-11 [s. dazu Rubrik "Kontext"] - meist separat bedacht.

Um die dahinterstehende Absicht des Hebräerbriefs zu verstehen, lohnt ein Blick in seine allerersten Verse, die programmatisch dem Schreiben vorangestellt sind:

"1 Vielfältig und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; 2 am Ende dieser Tage hat er zu uns gesprochen

durch den Sohn, den er zum Erben von allem eingesetzt, durch den er auch die Welt erschaffen hat; 3 er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens; er trägt das All durch sein machtvolles Wort, hat die Reinigung von den Sünden bewirkt und sich dann zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt; 4 er ist umso viel erhabener geworden als die Engel, wie der Name, den er geerbt hat, ihren Namen überragt" (Hebr 1,1-4).

Ab Vers 2 formuliert der Schreiber einen Christushymnus, der weder mit der Menschwerdung noch mit dem ewigen Sein bei Gott einsetzt, sondern mit der "Einsetzung zum Erben". Das ist eine Umschreibung der Einsetzung des auferweckten Christus zum "Messias", zum engültigen und heilbringenden "Herrscher über das All". Es ist vor allem dieser Aspekt der heilvollen, rettenden Macht, die im Blick ist, nicht - wie etwa in Matthäus 25,31-46 (Gleichnis von der Trennung nach Schafen und Böcken) - das Gericht.

Es ist ja immer in Erinnerung zu behalten, dass der Hebräerbrief im Letzten eine bedrängte und vielleicht kleingläubig werdende Gemeinde ermutigen will. Dazu möchte er ihren Blick auf das lenken, was sie nach diesem Leben zu erwarten haben: ewiges Leben in Fülle, bzw. in einem Wort des Briefschreibers: "Herrlichkeit" (Hebräer 2,10: "der viele Söhne zur Herrlichkeit führen wollte"). Dieses zu erwartende Gut kleidet der Hebräerbreif in das Bild des zu erwartenden "Erbes". Der Garant dieses Erbes aber ist niemand anders als Christus selbst, der seinerseits nach der ganzen Erniedrigung, die sich hinter dem hohen theologischen Begriff "Reinigung von den Sünden bewirkt" verbirgt (Todesangst bis zum Schreien, elender Kreuzestod), als "Erbe" eingesetzt ist. Dieses Geheimnis entdeckt der Hebräerbrief in Auferweckung und Himmelfahrt. Als ein Erbe in nun nicht mehr erniedrigter, sondern erhöhter und machtvoller Stellung kann dieser Jesus auch an seinem Erbe denen Anteil geben, die ihn und alles von ihm erwarten. Ohne die engültige Herrschaftsstellung Jesu würde das ganze theologische Gebäude in seiner Symbolwelt nicht tragfähig sein. Deshalb bildet sie Ausgangspunkt und Endpunkt des Hymnus, um dazwischen vom uranfänglichen und schöpferischen Sein des Sohnes beim Vater zu sprechen, von seiner seit der Schöpfung geltenden und unsichtbar die Welt erhaltenden Gegenwart und von seiner auf die "Reinigung von den Sünden" zielenden Menschwerdung.

Es ist dieser komplexe theologische, genauer: christologische (d. h. von Jesus Christus sprechende) Gedanke, der in Vers 12 der heutigen Lesung zum Abschluss der großen Predigt Hebräer 4,14 - 10,18 in Erinnerung gerufen wird.

Kunst etc.

Opfer des Melchisedek, Hochaltar St. Peter/Sarleinsbach, CC A-S 3.0 (Photo: Wolfgang Sauber, 22.3.2009)
Opfer des Melchisedek, Hochaltar St. Peter/Sarleinsbach, CC A-S 3.0 (Photo: Wolfgang Sauber, 22.3.2009)

Auch wenn die Schlussverse von Hebräer 4,10 - 10,18 den Hohepriester Melchisedek nicht mehr ausdrücklich nennen, so steht er doch noch immer im Hintergrund, wenn besonders Vers 11 den täglich wiederholten Opferdienst der im Alten Testament beschriebenen Priester in Jerusalem als nicht wirklich wirksam abhebt vom endgültig wirksamen Opfer des Hohepriesters Jesus Christus. Die einen gehören zur "Ordnung Aarons", er aber ist Priester "nach der Ordnung Melchisedeks".

Das neogotische Altarrelief bringt das, was der Hebräerbrief allein auf der Sprachbildebene formuliert, in ein reales Bild. Es zeigt vorne rechts Abraham kniend vor Melchisedek, dem "Priester des Höchsten Gottes" und setzt mit den Figuren im Hintergrund auch die in Genesis/1. Buch Mose 14,17-20 vorgegebene Kriegsszenerie um:

"17 Als er nach dem Sieg über Kedor-Laomer und die mit ihm verbündeten Könige zurückkam, zog ihm der König von Sodom ins Schawetal entgegen, das jetzt Tal des Königs heißt. 18 Melchisedek, der König von Salem, brachte Brot und Wein heraus. Er war Priester des Höchsten Gottes. 19 Er segnete Abram und sagte: Gesegnet sei Abram vom Höchsten Gott, / dem Schöpfer des Himmels und der Erde, 20 und gepriesen sei der Höchste Gott, / der deine Feinde an dich ausgeliefert hat. Darauf gab ihm Abram den Zehnten von allem."

Interessant ist aber, wie die Altardarstellung weit über den Text der biblischen Vorlage hinausgeht und auch den Hebräerbrief weiterdenkt. Während dieser das "Opfer" Jesu ganz auf dessen Kreuzestod (samt Auferweckung und Erhöhung zum Vater) bezieht, hat das Altarbild die Vergegenwärtigung des Opfers Jesu in der Eucharistiefeier im Blick. Denn das ganze Arrangement der Melchisedekszene lässt diesen Eucharistie feiern. Das zeigen nicht nur Brot und Wein auf dem Altar, sondern auch der Junge auf der linken Bildseite, der mit seinen 4 Broten im Korb - das fünfte liegt auf dem Altar - natürlich an den Jungen mit den fünf Broten und zwei Fischen erinnert, der zum Evangelium von der Brotvermehrung gehört (vgl. Johannes 6,9). Schon ein altes Fußbodenmosaik in der Kirche von Tabgha am See Genesaret (4. Jh. n. Chr.), das genau an diese Brotvermehrung erinnert, verbindet das Symbol mit der Eucharistie.