Lesejahr B: 2023/2024

Evangelium (Joh 3,14-21)

14Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden,

15damit jeder, der glaubt, in ihm ewiges Leben hat.


16Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat.

17Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird.

18Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes geglaubt hat.


19Denn darin besteht das Gericht: Das Licht kam in die Welt, doch die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Taten waren böse.

20Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden.

21Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind.

Überblick

Das Kreuz zwischen Licht und Finsternis

1. Verortung im Evangelium
Der Abschnitt aus dem Johannesevangelium (Joh) stammt aus einem nächtlichen Gespräch Jesu mit dem Pharisäer Nikodemus. Jesus hält sich seit Joh 2,13 in Jerusalem auf, nachdem er zuvor in Kana sein erstes Zeichen vollbracht hatte (Hochzeit zu Kana). Während des ersten Jerusalemaufenthaltes Jesu berichtet der Evangelist Johannes von der Tempelreinigung Jesu (2,13-25) und dem nächtlichen Gespräch mit Nikodemus (Joh 3,1-21). Hatte Nikodemus, ein einflussreicher Pharisäer, der zum Hohen Rat gehörte, zu Beginn der Unterhaltung noch Fragen gestellt (Joh 3,2.4.9), verschwindet er ab Vers 13 vollkommen aus dem Gespräch. Er meldet sich nicht mehr zu Wort und wird auch nicht mehr direkt oder indirekt angesprochen.

 

2. Aufbau
Der kompakte Abschnitt vereint drei Gedankengänge: Zum einen geht es um das Bild der Erhöhung (Verse 14-15) und zum anderen um Gottes Liebe, die sich in der Sendung, Hingabe und Erhöhung des Sohnes offenbart (Verse 16-18). Abschließend werden der Glaube und das Gericht thematisiert (Verse 19-21).

 

3. Erklärung einzelner Verse

„Rahmenhandlung“ – Der Besuch des Nikodemus: In Joh 3,1 wird Nikodemus als ein führender Pharisäer eingeführt, der Jesus des Nachts besucht. Die ungewöhnliche Tageszeit ist dabei nicht nur Anzeichen dafür, dass der Besuch bei Jesus nicht im Öffentlichen stattfindet. Vielmehr steht hier auch die Grundidee des Kommens zum „Licht, das die Welt erleuchtet“ (Joh 1,9), im Hintergrund. Nikodemus sucht Jesus auf, weil er in ihm einen „Lehrer“ sieht, „der „von Gott gekommen“ ist (Joh 3,2). Obwohl sich darin bereits die Sehnsucht nach einem Verstehen Jesu ausdrückt, braucht es eine ausführliche Erklärung Jesu, wie die göttliche Herkunft und seine Sendung zu verstehen ist. Dabei spielt im ersten Teil des Dialogs vor allem die Frage eine Rolle, wie der Mensch Gott und seinem Heil näherkommen kann. Nun im zweiten Teil des Dialogs, der eher einer theologischen Meditation gleicht, geht es darum, wie Gott sich dem Menschen zuwendet.

 

Verse 14-15: Der Evangelist Johannes knüpft an die biblische Grunderfahrung und das Wissen seiner Leser an. Denn die Geschichte aus dem Buch Numeri (Numeri 21), die hier im Hintergrund steht, wird nicht genauer erläutert, sie ist den Lesern klar vor Augen (vgl. die Auslegung zu dieser Stelle).  Die Erhöhung der Schlange in der Wüste wird als Grundbild verwendet, um die Erhöhung (das Aufrichten) des Kreuzes verständlich zu machen und dessen heilbringende Kraft zu verdeutlichen. Das Kreuz ist das lebensspendende Zeichen, an dem sich Gottes Wunsch nach einem Leben in Fülle und einem ewigen Leben offenbart.

 

Verse 16-18: Der Evangelist Johannes bindet nun das Grundthema seines Evangeliums ein. Für ihn ist die Christusgeschichte die Geschichte der Sendung des Sohnes in die Welt und diese Sendung vollendet sich am und im Geschehen des Kreuzes. Die „Gabe“ des einzigen Sohnes ist die Offenbarung der unbedingten Liebe Gottes zu seiner Schöpfung. Weil Gott für die Menschen das ewige Leben als Ziel vor Augen hat, sind Sendung und Hingabe des Sohnes der Weg zur Rettung – nicht zum Gericht. Der Glaube an den Sohn und damit an den Vater bedeutet das rettende Handeln und den Heilswillen Gottes anzunehmen. Wer nicht glaubt, der ist in seinem Unglauben bereits gerichtet.

 

Verse 19-21: Den Gedanken des Gerichts führt Johannes weiter und verbindet ihn mit der Frage nach der Nachfolge. Für ihn besteht das Gericht nicht in einem endzeitlichen Unterscheiden der „Gerechten und Ungerechten“. Vielmehr entscheidet sich das Schicksal des Menschen in der Welt und in der Gegenwart Jesu. Dafür greift der Evangelist noch einmal auf das Loblied auf Christus am Anfang des Evangeliums zurück (Prolog). Dort hatte er Jesus als das Licht der Welt identifiziert (Joh 1,4) und zugleich darauf verwiesen, dass die Welt dieses Licht nicht erkennt (Joh 1,9-10). Das Gericht – so Johannes – besteht darin, dass die Menschen sich mehr zur Finsternis und damit zum Bösen hingezogen fühlen als zum Licht. Böses tun und die Finsternis lieben stehen so auf der einen Seite. Das Licht lieben und die Wahrheit tun auf der anderen. So wie das Böse das Gottferne ist, steht die Wahrheit für das, was gottgemäß ist.

Auslegung

Um den Ausgangspunkt der Perikope richtig zu verstehen, sei noch einmal an die Szene erinnert, in die sich die Gedanken von Joh 3,14-21 einfügen. Mit Nikodemus kommt ein Angehöriger der jüdischen Oberschicht im Schutz der Dunkelheit zu Jesus, um mit ihm über dessen „Zeichen“ zu sprechen. Er möchte verstehen, wer Jesus ist und was ihn zu den Zeichen befähigt.
Im zweiten Teil des Gesprächs zwischen Jesus und Nikodemus, das aus einer ausführlichen Darlegung Jesu besteht, greift Johannes auf eine bekannte Erzählung aus dem Buch Numeri zurück. Sie soll den Kernpunkt der Sendung Jesu, seine liebende und rettende Hingabe am Kreuz „übersetzen“. Das Bild von der Schlange, die in der Wüste erhöht ist, ist ein Versuch Jesu, Nikodemus das kaum Erklärbare verständlich zu machen. Dabei weist Jesus weit voraus auf die noch ausstehende Erhöhung des Kreuzes, auf einen Moment also, den Nikodemus selbst noch nicht wahrnehmen kann. Aber wenn dieser Moment eintritt, wenn das Kreuz auf Golgotha aufgerichtet wird, dann soll er sich an das Zeichen in der Wüste erinnern. Und das aufgerichtete Kreuz, das anders als die eherne Schlange in der Wüste nicht von Menschen gemacht ist, sondern Teil des göttlichen Heilsplans ist, dieses aufgerichtete Kreuz kann für Nikodemus zum Zeichen der Liebe Gottes zum Menschen werden. Das Volk Israel zweifelte in der Wüste an der Nähe und Liebe Gottes, sie schien ihm nicht mehr spürbar zu sein. Erst das Wunder der Schlange öffnete ihnen wieder die Augen. Das Kreuz, an dem Gottes Sohn selbst aufgerichtet wird, ist der Höhepunkt der liebenden Zuwendung Gottes, es soll jetzt die Augen der Menschen öffnen. Anders als die Schlange in der Wüste ist das Kreuz aber nicht nur Verweis auf Gottes rettendes Handeln, sondern die Rettung selbst. Deshalb kann der Evangelist auch so deutlich sagen: Wer an ihn, den Gekreuzigten glaubt, ist gerettet. 
Für den Evangelisten ist die Sendung des Sohnes in die Welt, damit die Welt an ihm Gott sieht und erkennt und gerettet wird das Grundthema seiner Jesuserzählung. Immer wieder wendet er es neu, um seine Tragweite zu entfalten. Geschickt verwendet er dabei kleine Hinweise, die die unterschiedlichen Erklärungsversuche der Sendung Jesu miteinander verbinden. So knüpft Johannes hier nicht nur an das Loblied auf Christus zu Beginn des Evangeliums an (Joh 1,1-18). Er nimmt auch das Jesuswort „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich“ aus Joh 14,6 auf. Denn das „Tun der Wahrheit“ (Vers 21), die Jesus selbst ist, meint nichts Anderes als in der Nachfolge Jesu zu handeln. Indem die Menschen so leben, wie Jesus es ihnen aufzeigt, zeigen und bezeugen sie einerseits ihren Glauben an den Gekreuzigten. Andererseits offenbart sich darin ihre Rettung, weil sie in ihrem Handeln den Weg zum Vater beschreiten, den Jesus am Kreuz eröffnet hat. Das Kreuz stellt alle anderen Zeichen der liebenden Gegenwart Gottes in den Schatten. An ihm sind Licht und Heil wirklich gegenwärtig und wer auf es schaut, sieht die Welt in neuem, alles verändernden Licht.

Damit verbindet der Evangelist Johannes die Frage nach einem sichtbaren Heilszeichen mit der Frage, welche Reaktion darauf folgen muss. Denjenigen, die an das Kreuz glauben, wird das ewige Leben geschenkt (Vers 15). Und sie untermauern ihre Zugehörigkeit zu diesem neuen, von Gott geschenkten Leben, indem sie auf dieses Licht hin leben. Wer an das Kreuz als Zeichen des Heils glaubt, wird zur Lichtgestalt und meidet das Dunkel. Wer im Licht lebt und die Wahrheit tut, der wird Zeuge für das Licht –so wie es der Anfang des Evangeliums von Johannes dem Täufer sagte: „Er kam als Zeuge, um Zeugnis abzulegen für das Licht“ (Joh 1,7a).

Kunst etc.

Der Künstler Paul Nagel schuf die Kreuzesskultpur, die seit 1996 die Kuppel des Mittelschiffs der Grabeskirche in Jerusalem abschließt; sie wird auch „Lichtkreuz“ genannt.