Eltern sind keine Götter. Aber im Verhalten ihnen gegenüber entscheidet sich die Beziehung zu Gott, wie Jesus Sirach in seiner Auslegung des Elterngebots in den Zehn Geboten erklärt.
1. Verortung im Buch
Die zu Beginn des Buches Jesus Sirach thematisierte Gottesfurcht wird konkretisiert in der Ehrung der Eltern. Sie ist der Anfang einer folgenden, langen Reihe konkreter Einzelanweisungen. Der Weisheitslehrer verbindet die Ehrung Gottes eng mit der Ehrung der Eltern. Freude, ein langes Leben und Segen sind ebenso Früchte der Weisheit und der Gottesfurcht sowie der Elternehrung (siehe Sirach 3,5.6.8).
2. Aufbau
Die Belehrung ist gerahmt von einer zweifachen Motivation: Die Eltern zu ehren, bedeutet ein Gebot Gottes zu beachten (Vers 2) und die Nichtbeachtung gleicht einer Gotteslästerung (Vers 16). Die dazwischenstehende Lehre teilt sich in drei Abschnitte: (1.) die positiven Folgen der Gebotsbeachtung (Verse 3-7); (2.) Aufforderungen und Verbote (Verse 8-11); (2.) das Verhalten gegenüber den gealterten Eltern (Verse 12-15).
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 1-2: Der Weisheitslehrer spricht als Vater zu seinen Kindern. Ebenso wie der leibliche Vater wird auch der Unterrichtende im Lehrhaus als Vater angesehen und seine Schüler als seine Söhne. Jesus Sirach spricht hier so als Weisheitslehrer und als Vater. Dabei verliert er aber nicht die Rolle der Mutter aus dem Blick. Vater und Mutter sind als Eltern zu ehren. Vers 2 ist eine freie Neuformulierung des vierten Gebots des Dekalogs: „Ehre deinen Vater und deine Mutter …“ (Exodus 20,12; Deuteronomium 5,16). Durch das Gebot Gottes kommt den Eltern eine besondere Würde zu, die die Kinder – sei es als Heranwachsende oder Erwachsene – zu achten haben. Die Autorität in der Erziehung wird als zugesprochenes Recht definiert.
Verse 3-6: Jesus Sirach interpretiert das Elterngebot aus dem Dekalog und erklärt somit, was es bringt, seine Eltern zu ehren. Während dort das gute, lange Leben im verheißenen Land im Zentrum steht, stellt er die sündenvergebende Wirkung ins Zentrum. Durch die Ehrung der Eltern hat Gott die Möglichkeit einer Sündenvergebung durch ethisches Handeln geschaffen. Ein solches Handeln hat sowohl positive weltliche als auch religiöse Folgen: Wer den Kindern ein Vorbild ist und seine Eltern ehrt, wird selbst würdig behandelt; wer das Gottesgebot befolgt, dessen Gebete erhört Gott. Wie im Dekaloggebot wird zudem ein langes Leben verheißen. Ein solches Handeln ist ein Geschenk an die Eltern, die dadurch Ruhe erlangen, wie sie Gott für das Leben im verheißenen Land zugesagt hat. Der abschließende Verweis, „wer auf den Herrn hört“, verdeutlicht nochmals, dass das Elterngebot ein göttliches Gebot ist.
Verse 7-11: Diese Verse sind nicht Teil der Lesung: „7 Wer den Herrn fürchtet, ehrt den Vater. So wie Herren dient er seinen Eltern. 8 In Tat und Wort ehre deinen Vater, damit sein Segen über dich kommt! 9 Denn der Segen des Vaters festigt die Häuser der Kinder, der Fluch der Mutter aber entwurzelt die Fundamente. 10 Rühme dich nicht durch Entehrung deines Vaters, denn die Entehrung des Vaters gereicht dir nicht zum Ruhm! 11 Denn der Ruhm eines Menschen kommt von der Ehre seines Vaters, aber eine Schande für die Kinder ist eine Mutter mit schlechtem Ruf.“ In der Ehrung der Eltern verwirklicht sich Gottesfurcht. Dementsprechend stellt die Missachtung dieses Gebotes eine Gotteslästerung dar (Vers 16). Den Eltern sind die Töchter und Söhne wie Vorgesetzten untergeordnet. Nur die praktische Ehrung der Eltern ermöglicht eine gesegnete Zukunft, denn im Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern wird das Fundament für das gesamte Leben gelegt. Und der gute Name der Eltern fällt zurück auf die Kinder. Ansehen und Geltung kann nicht dadurch erlangt werden, dass man seine Eltern demütigt. So stellt das alttestamentliche Gesetz die Misshandlung und Verfluchung der Eltern unter die Todesstrafe (Exodus 21,15.17). Eltern und Kinder sollen sich als eine solidarische Schicksalsgemeinschaft nicht nur in der Öffentlichkeit verstehen.
Verse 12-14: Schwindende physische und geistige Kräfte bedeuten keine Minderung der elterlichen Würde, die es auch im Alter zu respektieren gilt. Die materielle und emphatische Fürsorge ist keine vergebene Liebesmühe, sondern eine gerechte Tat und auch im Alter hat die Elternehrung eine sündenvergebende Wirkung. Die Missachtung des Gebotes ist jederzeit eine Auflösung der Beziehung nicht nur zu den Eltern, sondern auch zu Gott.