Lesejahr B: 2023/2024

2. Lesung (Hebr 4,12-13)

12Denn lebendig ist das Wort Gottes, wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenken und Mark; es richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens;

13vor ihm bleibt kein Geschöpf verborgen, sondern alles liegt nackt und bloß vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft schulden.

Überblick

Kurz und präzise bringt die heutige Lesung aus dem Hebräerbrief eine Theologie des Wortes Gottes auf den Punkt. Sie ist alles andere als beruhigend.

 

Einordnung der Lesung in den größeren Zusammenhang 

Auf die grundlegende Einführung des Hebräerbriefs zu Jesus Christus als Gottes Sohn, der als solcher einerseits über den Engeln steht (Kapitel 1) und andererseits doch unser sterbliches Menschengeschick geteilt hat, um die Menschen aus der Todesangst zu befreien, die er geteilt, aber durch Gott auch überwunden hat,  (Kapitel 2), folgt in Hebräer 3,7 - 4,13 eine erste große Predigt. Sie kreist um das Psalmwort "Heute, wenn ihr seine Stimme hört ..." (Psalm 95,7 in der Fassung der griechischen Übersetzung), das auf die Adressaten des Briefes bezogen wird Sie soll auf "Christus, der als der treue Sohn über das Haus Gottes gestellt ist" (vgl. 3,6), hören. Offensichtlich gibt es Anlass, dieses Hören der Gemeinde in Frage zu stellen, so dass die Predigt einen mahnenden Unterton hat, der sich aus dem Schluss des insgesamt sehr viel längeren Psalmzitats ergibt: "Sie sollen nicht in das Land meiner Ruhe kommen" (hier zitiert Hebräer 3,11 Psalm 95,11). Während der Psalm die starrköpfige Wüstengeneration unter der Führung des Mose beim Auszug aus Ägypten im Blick hat, die der biblischen Erzählung zufolge 40 Jahre unterwegs war, sodass eine andere Generation in das verheißene Land einzog als aus Ägypten ausgezogen war, hat der Hebräerbrief-Verfasser die dauernde Gemeinschaft mit Gott als von Christus bereit gehaltenes Erbe nach diesem irdischen Leben im Blick, das man auch verpassen kann - eben dann, wenn man dem Wort Christi nicht traut und folgt. Damit ist nicht ein bestimmtes Wort aus der Verkündigung Jesu gemeint, sondern Jesus selbst als Grund endzeitlicher Hoffnung und Verheißungswort Gottes an uns, das in Jesus Fleisch geworden ist, - er ist das Wort. 

Den Abschluss dieser Predigt bilden die beiden Verse der heutigen Lesung.

 

Vers 12

In proklamierendem Stil wird die Bedeutsamkeit und Eigenart des Wortes Gottes vorgestellt. Fünf Begriffe schlagen wie ein Hammer Markierungen ein: "lebendig", "wirksam", "scharf", "durchdringend", "richtend".

"Lebendig" ist Gottes Wort als machtvoller Ausdruck des "lebendigen Gottes" (Hebräer 3,12). Das erste Buch der Bibel (Genesis/1. Buch Mose) besingt z. B. seine Schöpferkraft ("Gott sprach ... und es wurde"). Berücksichtigt man die vorangehende Predigt zu Psalm 95, so könnte die Brücke zur Wahl des Wortes "lebendig" auch Deuteronomium/5. Buch Mose 32,47 sein, das Gottes Wort so umschreibt: " Das ist kein leeres Wort, das ohne Bedeutung für euch wäre, sondern es ist euer Leben. Wenn ihr diesem Wort folgt, werdet ihr lange in dem Land leben, in das ihr jetzt über den Jordan hinüberzieht, um es in Besitz zu nehmen."

"Wirksam" ist im Grunde eine Parallelaussage zu "lebendig": Gottes Wort bewirkt, was es will - wie es im Buch Jesaja in der anderen Kurzfassung einer Wort-Gottes-Theologie heißt [vgl. dazu unter "Kontext"]. Bereits dem Propheten Jeremia wird dies visionär und damit bildhaft-anschaulich vor Augen geführt:

"11 Das Wort des HERRN erging an mich: Was siehst du, Jeremia? Ich antwortete: Einen Mandelzweig [im Hebräischen kann man auch mithören: "Wache-Zweig"] sehe ich. 12 Da sprach der HERR zu mir: Du hast richtig gesehen; denn ich wache über mein Wort und führe es aus" (Jeremia 1,11f.)

Die Worte "scharf" und "durchdringend" bereiten das abschließende Gerichtsmotiv mit markanten Bildern vor:

Die "Schärfe" wird mit dem "zweischneidigen Schwert" in Verbindung gebracht, das im Alten wie im Neuen Testament als die schärfste Waffe überhaupt gilt. In Verbindung mit dem im Himmel thronenden Christus als Gerichtsherrn begegnet es noch in Offenbarung 1,16: "In seiner Rechten hielt er sieben Sterne und aus seinem [gemeint ist der himmlische Christus] Mund kam ein scharfes, zweischneidiges Schwert und sein Gesicht leuchtete wie die machtvoll strahlende Sonne."

Die "durchdringende" Kraft des Wortes knüpft an jüdische Vorstellungen von der Alles ausleuchtenden Weisheit Gottes an [s. dazu unter "Auslegung"]. Diese in die letzte Faser des Menschen reichende Durchdringungskraft des göttlichen Wortes zielt auf das Innerste, denn es gilt: "18 ... was von außen in den Menschen hineinkommt, ihn nicht unrein machen kann? ... 20 Was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein. 21 Denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, 22 Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Lästerung, Hochmut und Unvernunft" (Markus 7,18-22). Ergänzend zur alttestamentlich-jüdischen, auch von Jesus vertetenen ganzheitlichen Sicht vom Menschen ist im Hebräerbrief allerdings schon das griechisch-philosophische Menschenbild mit seiner Unterscheidung zwischen Leib ("Gelenke und Mark"), Geist und Seele getreten. Die alte Sicht vom "Herzen" als Ort des Denkens, Planens und Wollens (s. Jesus in Markus 7,21) ist aber noch nicht verloren gegangen, wie der Schluss von Vers 12 ("des Herzens") zeigt.

Er ist der Zielpunkt der fünfgliedrigen Aussagenkette: Gottes Wort ist ein "richtendes". Mit dem Gedanken des Endgerichts knüpft die Passage an die vorangehende Mahnpredigt an, dass es im Falle der Nichtausrichtung an Christus als dem Wort Gottes zum Verpassen des Einzugs "in das Land meiner Ruhe" kommen kann. Die Entfaltung des "scharfen" Wortes in Vers 12, das geradezu wie ein Operateur zu sezieren vermag und damit auch das Scheinheilige zu entlarven vermag, wirkt da eher beunruhigend.

 

Vers 13

Leider lässt die Übersetzung das griechische "Wortspiel" - ganz sicher ist es mehr als das! - der kleinen Wort-Gottes-Theologie nicht erkennen. Denn der letzte Halbsatz "dem wir Rechenschaft schulden" heißt wörtlich: "dem wir schulden das Wort [griechisch: lógos]". Nach Gottes Wort (Vers 12) geht es jetzt um des Menschen Wort. Es geht darum, dass der Mensch sich zum vernommenen Wort Gottes verhält und Verant-wort-ung für sein Tun übernimmt. Beide Male ist im Griechischen vom lógos die Rede: wenn Gott in der ganzen Breite seiner Wirkmöglichkeiten spricht (kreativ, tröstend, orientierend, mahnend, richtend: Vers 12) und wenn der Mensch antwortend und sich verantwortend spricht (Vers 13). Gott hat den Menschen in Jesus erkennen lassen, dass er (der Mensch) zum Dia-log berufen ist. 

Auslegung

"scharf und durchdringend" (Vers 12)

Das Begriffspaar "scharf" und "durchdringend" lässt als eine Inspirationsquelle des Hebräerbrief-Autors die Weisheitsliteratur des Alten Testaments erkennen. Im späten Buch der Weisheit (1. Jh. v. Chr.) erklingt das Lob auf die Weisheit Gottes, die wiederum Ausdruck des göttlichen Geistes ist. Von ihm heißt es:

"22 In ihr [d. h. in der Weisheit] ist nämlich ein Geist, vernunftvoll, heilig, / einzigartig, mannigfaltig, zart, / beweglich, durchdringend, unbefleckt, / klar, unverletzlich, das Gute liebend, scharf, 23 nicht zu hemmen, wohltätig, menschenfreundlich, / fest, sicher, ohne Sorge, alles vermögend, alles überschauend / und alle Geister durchdringend, / die gedankenvollen, reinen und zartesten" (Weish 7,22-23).

Offensichtlich steht im Hintergrund eine Sicht, die Christus, das "Wort Gottes", als die Weisheit Gottes versteht. Diese Auffassung ist nicht nur hier im Hebräerbrief zu finden, sondern - vermutlich bereits vorher - auch schon im Prolog des Johannesevangeliums erkennbar "Im Anfang war das Wort ..." (Johannes 1,1ff).

Nach alttestamentlicher Vorstellung war die Weisheit - ebenso wie der ewige Sohn Gottes - schon bei der Schöpfung dabei (vgl. Sprichwörter 8,27-29: "27 Als er den Himmel baute, war ich dabei, / als er den Erdkreis abmaß über den Wassern, 28 als er droben die Wolken befestigte / und Quellen strömen ließ aus dem Urmeer, 29 als er dem Meer sein Gesetz gab / und die Wasser nicht seinen Befehl übertreten durften, / als er die Fundamente der Erde abmaß, 30 da war ich als geliebtes Kind bei ihm."). Ihr "Medium" aber, mit dem sie in die Schöpfung hineinwirkt, ist letztlich das "Wort" - griechisch: lógos. Hier liegt dir Brücke zu jenem anderen lógos, mit dem das Johannes-Evangelium und der Hebräerbrief Christus bezeichnen (vgl. Johannes 1,1: "Im Anfang war das Wort [griechisch: lógos] ..."). Dabei betont das Evangelium die Fleischwerdung dieses lógos (Johannes 1,14), der Hebräerbrief hingegen den Aspekt des Mitleidens des menschgewordenen Gottessohnes (s. Zweite Lesung vom letzten Sonntag). Beide setzen Auferweckung und Rückkehr zum Vater (Gott) voraus und verbinden mit diesem lógos ein richterliches Wirken. Während Johannes dies aber eher bereits auf die Gegenwart bezieht (vgl. Johannes 3,18-20: "18 Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes geglaubt hat. 19 Denn darin besteht das Gericht: Das Licht kam in die Welt, doch die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Taten waren böse. 20 Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden. 21 Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind."), lebt der Hebräerbrief sehr viel stärker in der Erwartung dieses Gerichts. Nicht zufällig steht über dem Kapitel, aus dem die heutige Lesung genommen ist, unter dem "Vor-Satz":

"Darum lasst uns ernsthaft besorgt sein, dass keiner von euch zurückbleibt, solange die Verheißung, in seine Ruhe zu kommen, noch gilt" (Hebr. 4,1).

Der drohende Charakter lässt sich nicht wegdiskutieren. Aber auch eine andere Seite ist vernehmbar: Der eigentliche Wille Gottes besteht an der Verwirklichung seiner Verheißung - für alle. Auch dies korrespondiert mit den Aussagen zur Weisheit Gottes im Alten Testament . Denn sie ist vor allem "menschenfreundlich" (s. o. das Zitat aus Weisheits 7,23) und "das Bild seiner Güte" (Weisheit 7,26). Damit ist sie das Bild des Gottes, von dem das Buch Weisheit an anderer Stelle bekennt: "Du schonst alles, weil es dein Eigentum ist, Herr, du Freund des Lebens" (Weisheit 7,26). Dem würde auch der Verfasser des Hebräerbriefs nicht grundsätzlich widersprechen.

Kunst etc.

Skalpelle. Wikimedia Commons (14.11.2006, ursprüngliches upload)
Skalpelle. Wikimedia Commons (14.11.2006, ursprüngliches upload)

"Schärfer als jedes zweischneidige Schwert" - so charakterisiert der Hebräerbrief u. a. Gottes Wort. Er hat dasselbe Gericht vor Augen wie etwas Jesus in Matthäus 25,31-46, bei dem zwischen Böcken und Schafen geschieden wird als Bild für diejenigen, die sich den Bedürftigen zugewandt haben oder nicht. Die Zeit der Schwerter ist heute eher vorbei. Das chirurgische Skalpell könnte da vielleicht besser zum Vergleich dienen für das, was der Briefschreiber meint. Die Vorstellung der sauberen Sezierung, sei es im Sinne der Freilegung schadhafter Stellen im Körper, sei es des klaren Schnitts in eine rechte und eine linke Hälfte reichen schon, damit einem mulmig wird.

Genau dieses unangenehme, aber damit auch Bedeutsamkeit vermittelnde Gefühl will der Verfasser des Lesungstextes seinen Leserinnen und Lesern bzw. den Hörenden mit seinen rhetorischen Mitteln zumuten, ganz gemäß dem bereits unter "Übersicht" zitierten Wort aus Deuteronomium 32,47: 

"Das ist kein leeres Wort, das ohne Bedeutung für euch wäre, sondern es ist euer Leben."