Lesejahr B: 2023/2024

1. Lesung (Ez 17,22-24)

22So spricht GOTT, der Herr:

Ich selbst nehme vom hohen Wipfel der Zeder und setze ihn ein. Einen zarten Zweig aus ihren obersten Ästen breche ich ab, ich selbst pflanze ihn auf einen hohen und aufragenden Berg. 23Auf dem hohen Berg Israels pflanze ich ihn. Dort treibt er dann Zweige, er trägt Früchte und wird zur prächtigen Zeder. Alle Vögel wohnen darin; alles, was Flügel hat, wohnt im Schatten ihrer Zweige.

24Dann werden alle Bäume des Feldes erkennen, dass ich der HERR bin. Ich mache den hohen Baum niedrig, den niedrigen Baum mache ich hoch. Ich lasse den grünenden Baum verdorren, den verdorrten Baum lasse ich erblühen.

Ich, der HERR, habe gesprochen und ich führe es aus.

Überblick

Aus einem zarten Zweig wird durch Gott ein mächtiger, schutzbietender Baum! – damit die Welt Gottes Macht anerkennt. 

 

1. Verortung im Buch

Während der Anfang des Buches Ezechiel vor allem durch Unheilsverkündigung geprägt ist (Ezechiel 1-24), ist das Ende eine große Heilsansage (Ezechiel 33-48). In den Kapiteln 15-19 finden sich eine Reihe von Gleichnis, Fabeln und Sprichworten, die den Lesern das Unheil jeweils vor Augen führen – so auch die Fabel von den zwei Adlern in Ezechiel 17,1-21, die dem letzten, herrschenden König aus dem Hause Davids, der ein babylonischer Vasallenkönig war (siehe Erklärung zu Vers 22), ein grausames Schicksal voraussagt: „Darum - so spricht GOTT, der Herr: So wahr ich lebe - meinen Eid, den er missachtet, und meinen Bund, den er gebrochen hat, ich lasse sie auf sein Haupt zurückfallen. Ich werfe mein Netz über ihn, er wird gefangen in meinem Garn. Nach Babel führe ich ihn und gehe dort mit ihm ins Gericht wegen des Treubruchs, mit dem er mir die Treue gebrochen hat. Die Flüchtigen aus allen seinen Truppen fallen unter dem Schwert. Die Übriggebliebenen aber werden in alle Winde zerstreut. Dann werdet ihr erkennen, dass ich, der HERR, gesprochen habe.“ (Vers 19-21). Die als Lesung für den 11. Sonntag im Jahreskreis ausgewählten Verse verdeutlichen, dass Gott nicht nur der Verursacher des Untergangs nicht nur der davidischen Dynastie und des Königreiches ist, sondern dass er auch wieder Heil nach dem notwendigen Unheil schaffen wird.

 

2. Aufbau

Die Verse 22-24 sind eine Heilsprophetie, eine Vorschau auf die Erneuerung der davidischen Dynastie und des Königreiches. Die Verse 22-23 beschreiben Gottes Handeln – in beiden Versen wird betont, dass Gott es ist, der die Pflanzung vornimmt. Vers 24 verkündet dann die umfassende Anerkenntnis Gottes durch die Völker aufgrund der Verwirklichung dieser Verheißung – hierbei wird besonders das „Ich“ Gottes betont („dass ich der HERR bin. […] Ich, der HEER, …“).

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 22: Der Vers steht im bewussten Kontrast zu der Aussage Gottes in den Versen 3-4: „Der große Adler mit großen Flügeln, mit weiter Schwinge, mit dichtem, buntem Gefieder kam zum Libanon und nahm den Wipfel der Zeder weg. Ihren obersten Zweig riss er ab. Ins Land der Krämer [eigentlich: „ins Land Kanaan“] brachte er ihn, in die Stadt der Händler setzte er ihn.“ Diese Verse blicken auf den babylonischen König Nebukadnezzar, der das Südreich Juda zu seinem Vasallenstaat machte und schließlich Jerusalem samt dem Tempel zerstörte. Zuvor war vom Nebukadnezzar aus dem Haus Davids Zedekia als Vasallenkönig eingesetzt worden. Dieser wendet sich jedoch den Ägyptern zu und versuchte, sich von der babylonischen Herrschaft zu befreien. Das führte zur Zerstörung Jerusalems im Jahre 587 v.Chr. und dem Ende des Königsreiches Juda. Nebukadnezzar ließ die Söhne Zedekias töten und er wurde bis zu seinem Tod in Babylon gefangen gehalten (2 Könige 25,1-7). Nun, in Vers 22, ist es Gott selbst, der „vom hohen Wipfel der Zeder“ nimmt.   Der Zedernbaum steht im Alten Testament und im Alten Orient für (königliche) Erhabenheit (Richter 9,15). König Salomo ließ neben den Tempel das sogenannte „Libanonwaldhaus“ aus Zedern, das ein königlicher Repräsentationsbau, vielleicht auch eine Waffen- oder Schatzkammer, war, bauen. Im Buch Jeremia wird die Davidsdynastie als Zeder bezeichnet (Jeremia 22,6.23). Gott kündigt somit an, dass er einen der jüngsten Triebe, bzw. Äste abbrechen und ihn wieder auf dem heiligen Berg in Jerusalem einpflanzen werde. Das hebräische Wort, das in der revidierten Einheitsübersetzung mit „Zweig“ übersetzt ist, ist vielleicht besser mit „Schössling“ oder „Spross“ übersetzt, da es sprachlich mit dem hebräischen Wort für „Säugling“ zusammenhängt. Dass dieser Schössling von der – wörtlich – „hohen Krone“ der Zeder stammt, zeigt bereits die hohe Wertschätzung der davidischen Dynastie, aus welcher der neue angekündigte König von Gottes Gnade stammen wird. Und zugleich ist der Verweis auf die Höhe ein Kontrast zu Zedekia, der in Vers 6 in seiner Niedrigkeit beschrieben wurde: „er spross und wurde zum üppigen Weinstock von niedrigem Wuchs.“

Vers 23: Das Heranwachsen des Schösslings zu eine prächtigen Zeder ist zurückzuführen auf das Handeln Gottes – sodass die Zeder, die botanisch betrachtet keine Früchte trägt, nun Früchte tragen wird, fruchtbar sein wird. Dass in der Zeder Vögel Schutz suchen werden, ist auch keine reine botanische Beschreibung (siehe Psalm 104,16-17), sondern vielleicht eine indirekte Anspielung auf die Darstellung des babylonische König Nebukadnezzar als mächtiger Adler in den Versen 3-4 (siehe auch Vers 7) – nun suchen „alle Vögel“ im Schatten der neuen, davidischen Zeder Ruhe und Frieden.

Vers 24: Dieser Vers ist im Grundstock eine Erkenntnisformel: „Dann werden alle … erkennen, dass ich der HERR bin.“ Diese wird darauf bezogen, dass Gott ankündigt und sicherlich dementsprechend tut („Ich, der HERR, habe gesprochen und ich führe es aus.“); vgl. Ezechiel 12,25. Die anderen Bäume stehen für die Weltherrscher und ihre Völker; sie werden nicht der Zeder untergeordnet, sondern werden durch das „Aufblühen“ des Davidssprosses und mit ihm des Volkes Israel die Macht Gottes erkennen – er alleine entscheidet, wem menschliche Macht zukommt.

Auslegung

Nachdem der babylonische König Nebukadnezzar 597 v. Chr. Jerusalem erobert hatte, setzte er Zidkija aus dem davidischen Königshaus als Vasallenherrscher ein. Aber obwohl er bei dem Gott Israels, JHWH, dem babylonischen König Treue schwur, versuchte Zidkija später eine antibabylonische Koalition mit Ägypten zu errichten. Dies bedeutete den Untergang des judäischen Königtums. In Ezechiel 17 verurteilt Gott das Handeln des letzten davidischen Königs: „So wahr ich lebe, spricht der Herr JHWH! Bestimmt wird er an dem Platz, an dem der König ihn gekrönt hat, dessen Schwur er verspottet hat und dessen Bund mit ihm er gebrochen hat, in Babylon sterben.“ (Ezechiel 17,16). Nicht nur Zidkija, sondern auch das gesamte Königreich wird von Gott der Vernichtung preisgegeben. Aber Gott ist in den Worten Ezechiels nicht nur eine zerstörerische Macht, die analog zur weltbeherrschenden Logik Nebukadnezzars reagiert. In der Bestrafung verkündet er die Erneuerung des Königreiches.

In einer Fabel wird Nebukadnezzar als ein Adler beschrieben, der den Wipfel eines Zedernbaumes im Land Kanaan eingepflanzt hat. Der Zedernbaum steht für das davidische Königtum und der Wipfel ist Zidkija (Ezechiel 17,3-4). Aber anders als Nebukadnezzar macht Gott aus dem angekündigten, nach der Zerstörung kommenden Setzling nicht nur einen „wucherndem Weinstock von niedrigem Wuchs“ – als der Zidkija beschrieben wird (Vers 6) –, sondern er pflanzt einen neuen Spross auf dem Berg Zion in Jerusalem ein, damit dieser zum Weltenbaum heranwächst, der nicht beschützt werden muss, sondern selbst Schutz bietet. 

Doch es geht in dieser Verheißung weder um ein zukünftiges israelisches Weltimperium. Die Welt soll und wird erkennen: Gott ist die alles entscheidende Macht in dieser Welt. Vernichtung und Wiederbelebung, Erniedrigung und Erhöhung – dass die Mächtigen stürzen und die Schwachen gestärkt werden – entscheidet sich am Willen Gottes, den dieser kundtut und entsprechend seines Wortes handelt.

Kunst etc.

Die Libanonzeder ist nicht nur innerhalb des heißen Klimas im Nahen Osten ein beeindruckender Baum. Er ist ein immergrünes Gewächs mit einer Wuchshöhen bis zu 50 Metern und kann über 1.000 Jahre alt werden kann. Der Stammdurchmesser kann bis zu zwei Meter betragen. Es ist leicht ersichtlich, wie dieser Baum zu einem Sinnbild für königliche Macht und Dynastien werden konnte.

„Cedrus libani, Susuz Dag, Turkey“, fotografiert von wildlifetravel. Lizenz: CC BY-NC 2.0.
„Cedrus libani, Susuz Dag, Turkey“, fotografiert von wildlifetravel. Lizenz: CC BY-NC 2.0.