Lesejahr B: 2023/2024

1. Lesung (Weish 2,1a.12.17-20)

21Sie tauschen ihre verkehrten Gedanken aus und sagen:

[...]

12Lasst uns dem Gerechten auflauern! / Er ist uns unbequem und steht unserem Tun im Weg. Er wirft uns Vergehen gegen das Gesetz vor / und beschuldigt uns des Verrats an unserer Erziehung.

[...]

17Wir wollen sehen, ob seine Worte wahr sind, / und prüfen, wie es mit ihm ausgeht.

18Ist der Gerechte wirklich Sohn Gottes, dann nimmt sich Gott seiner an / und entreißt ihn der Hand seiner Gegner. 19Durch Erniedrigung und Folter wollen wir ihn prüfen, / um seinen Gleichmut kennenzulernen / und seine Widerstandskraft auf die Probe zu stellen. 20Zu einem ehrlosen Tod wollen wir ihn verurteilen; / er behauptet ja, es werde ihm Hilfe gewährt.

Überblick

Im Buch der Weisheit kommen die Gottlosen zu Wort – das verheißt nichts Gutes für die Gerechten.

 

1. Verortung im Buch

Das Buch der Weisheit ist eine Empfehlungs- und Werbeschrift für die göttliche „Gerechtigkeit“. Bereits der erste Vers ist eine Aufforderung, die Gerechtigkeit zu lieben: „Liebt Gerechtigkeit!“ (Weisheit 1,1) – und am Ende des Proömiums wird die Begründung dazu gegeben: „denn die Gerechtigkeit ist unsterblich“ (Vers 15). Sie ist in Gott grundgelegt: „Deine Stärke ist die Grundlage deiner Gerechtigkeit und deine Herrschaft über alles lässt dich alles schonen.“ (Weisheit 12,16) – und der Auftrag des Menschen in dieser Welt ist die Schöpfung in Gerechtigkeit und Gottesfurcht zu beherrschen: „Den Menschen hast du durch deine Weisheit bereitet, damit er über deine Geschöpfe herrscht. Er soll die Welt in Heiligkeit und Gerechtigkeit leiten und Gericht halten in rechter Gesinnung.“ (Weisheit 9,2-3). Im Endeffekt bedeutet Gerechtigkeit die gelebte Gottesbeziehung und Ausrichtung am Willen Gottes: „Denn es ist vollendete Gerechtigkeit, dich zu kennen; und um deine Stärke zu wissen ist die Wurzel der Unsterblichkeit.“ (Weisheit 15,3). 

Die Rede der Gottlosen in Weisheit 2,1b-20 verneint dies; sie suchen keine Gerechtigkeit, sondern schließen, wie es zuvor in Weisheit 1,16 steht, einen Bund mit dem Tod. Dies und ihr Vorgehen gegen die Gerechten bereuen die Gottlosen später im Verlauf des Buches, bzw. der Autor legt ihnen diese reuevollen Worte in den Mund: „Jetzt denken sie anders; / seufzend und voll Angst sagen sie zueinander:Dieser war es, den wir einst verlachten / und verhöhnten, wir Toren. Sein Leben hielten wir für Wahnsinn / und sein Ende für ehrlos. Wie wurde er zu den Söhnen Gottes gezählt / und hat bei den Heiligen sein Erbteil! Also sind wir vom Weg der Wahrheit abgeirrt; / das Licht der Gerechtigkeit strahlte uns nicht / und die Sonne ging nicht für uns auf. Bis zum Überdruss gingen wir die Pfade des Unrechts / und des Verderbens und wanderten durch weglose Wüsten, / aber den Weg des Herrn erkannten wir nicht. Was nützte uns Überheblichkeit, / was brachten uns Reichtum und Prahlerei? All das ist vorbei wie ein Schatten, / wie eine flüchtige Nachricht. Wie ein Schiff, das durch die wogende Flut fährt: / Ist es hindurchgefahren, ist von ihm keine Spur mehr zu finden, / kein Pfad seines Kiels in den Wogen. Wie wenn ein Vogel durch die Luft fliegt:/ Kein Zeichen findet sich von seiner Bahn, er peitscht die leichte Luft mit seinem Flügelschlag, / er spaltet sie mit gewaltigem Rauschen und durchquert sie mit der Bewegung der Schwingen; / doch bleibt keine Spur seines Weges in ihr zurück. Oder wie wenn ein Pfeil auf das Ziel geschossen wird: / Die geteilte Luft strömt sofort wieder zusammen, / sodass man seine Bahn nicht mehr erkennt. So auch wir: Ins Dasein getreten, schwinden wir hin, / wir hatten keinerlei Tugend aufzuweisen, / sondern wurden von unserer Schlechtigkeit verschlungen.“ (Weisheit 5,3-13)

 

2. Aufbau

Die Gottlosen beklagen in den Versen 1b-5 die kurze Lebensdauer und die Unvermeidlichkeit des Todes. Deshalb haben sie sich zu einem grenzenlosen Lebensgenuss im Hier und Jetzt entschieden (Verse 6-9). Dieser erste Teil der Rede findet seinen Höhepunkt in ihrer Aussage: „überall wollen wir Zeichen der Fröhlichkeit zurücklassen; / denn dies ist unser Anteil und dies das Erbe.“ (Vers 9). Dass diese Fröhlichkeit jedoch menschenverachten wird durch den zweiten Teil der Rede offenbart, der mit folgenden Worten, bzw. Absichten beginnt: „Lasst uns den Gerechten unterdrücken, / der in Armut lebt, die Witwe nicht schonen / und das graue Haar des betagten Greises nicht scheuen! Unsere Stärke soll bestimmen, was Gerechtigkeit ist; / denn das Schwache erweist sich als unnütz.“ (Verse 10-11). Ihrer Selbstsucht ist im besonderen „der Gerechte“ ein Dorn im Auge gegen den sie brutal vorgehen wollen (Verse 12-20).

Auf die in Weisheit 1,16-2,20 eingeleitete und wiedergegebene Rede der Frevler blickt der Weisheitslehrer in den Versen 21-24 und verurteilt ihr Denken, Reden und Handeln: „So denken sie, aber sie irren sich; / denn ihre Schlechtigkeit macht sie blind. Sie verstehen von Gottes Geheimnissen nichts, / sie hoffen nicht auf Lohn für Heiligkeit / und erwarten keine Auszeichnung für untadelige Seelen. Denn Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen / und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht. Doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt / und ihn erfahren alle, die ihm angehören.“ (Verse 21-24)

 

3. Erklärung einzelner Aspekte

Vers 1: Ab Vers 1b Reden die Frevler, bzw. der Autor des Buches der Weisheit lässt sie in einer langen Rede (bis Vers 20) ihre Gesinnung und ihr Vorhaben aussprechen – wörtlich übersetzt steht hier: „Denn sie sprachen miteinander nicht richtig denkend“; die in der revidierten Einheitsübersetzung verwendet Wiedergabe „verkehrte Gedanken“ stellt einen Bezug zu Weisheit 1,3 her: „Verkehrte Gedanken trennen von Gott; / wird seine Macht auf die Probe gestellt, dann überführt sie die Toren.“. Zur Redeeinleitung gehört noch Weisheit 1,16 – in diesem Vers werden sie beurteilt bevor sie zu Wort kommen: „Die Gottlosen aber rufen den Tod mit Taten und Worten herbei / und sehnen sich nach ihm wie nach einem Freund; sie schließen einen Bund mit ihm, / weil sie es verdienen, ihm zu gehören.“ (Weisheit 1,16). Die folgende Rede der Gottlosen ist kein Zitat, sondern der Autor legt ihnen als Kontrastfolie zu seinen Glaubensüberzeugungen in den Mund. Der Tod als Ende der Existenz, die Verneinung göttlicher Vorsehung und dem Fokus auf den Lebensgenuss sind zum Beispiel auch entscheidende Themen des Epikureismus, einer antiken, griechischen Philosophie.

Vers 12: Der hier genannte „Gerechte“ ist keine bestimmte historische Person, sondern ein kollektiver Singular ist gemeint (siehe Vers 10). Anders als die zuvor Erwähnten, Witwe und Greis, steht ein Gerechter, bzw. die Gerechten den Gottlosen als Widerspruch entgegen.  Der Beginn von Vers 12 ist eine Aufnahme der antiken, griechischen Übersetzung von Jesaja 3,10: „als sie sagten: ‚Lasst uns den Gerechten fesseln, denn er ist uns lästig.‘“ Im zweiten Teil von Vers 12 ist in der deutschen Übersetzung nicht mehr ersichtlich, dass das hier mit „Verrat“ und „Vergehen“ übersetzte Wort im griechischen dasselbe ist: Es geht sowohl um Verfehlungen gegen das Gesetz Gottes als auch um Verfehlungen gegen die Werte der Erziehung. Der Bezugspunkt für den Verweis auf die sittliche Bildung, sei es nun die Weisheitstradition oder hellenistische Bildung, ist nicht mehr zu entschlüsseln. 

Verse 17-20:  Die Verse 17-20 konkretisieren, was es bedeutet, wenn die Gottlosen in Vers 12 ankündigen dem Gerechten aufzulauern. Die Handlungen in den Versen stellen eine Steigerung dar: sehen – prüfen – foltern – töten. Die Gottlosen wollen die Aussage des Gerechten überprüfen, die sie zuvor in Vers 16 paraphrasieren: „Das Ende der Gerechten preist er glücklich / und prahlt, Gott sei sein Vater.“ Sie wollen über die Gottesbeziehung der Gerechten urteilen. Die Vater-Sohn-Beziehung als Bild für die Beziehung zu Gott wird im Alten Testament in zwei Kontexten betont: (1.) Im Verhältnis des Königs zu Gott (siehe 2 Sam 7,14; Psalm 2,7 und 89,27-30); sowie (2.) als Ehre für Israel: „So spricht der HERR: Israel ist mein erstgeborener Sohn“ (Exodus 4,22; siehe auch Hosea 1,11 und Jeremia 31,9.20) – auch ist bereits im Alten Testament die Anrede Gottes als Vater belegt: „Du bist doch unser Vater! / Abraham weiß nichts von uns, Israel kennt uns nicht. / Du, HERR, bist unser Vater, / Unser Erlöser von jeher ist dein Name.“ (Jes 63,16 u.ö.). Im Buch der Weisheit wird Israel mehrfach als Sohn Gottes und die Gerechten als Söhne und Töchter Gottes bezeichnet, z.B.: „Durch solches Handeln hast du dein Volk gelehrt, / dass der Gerechte menschenfreundlich sein muss, und hast deinen Söhnen und Töchtern die Hoffnung geschenkt, / dass du den Sündern die Umkehr gewährst.“ (Weisheit 12,19). Die Verse 19-20 persiflieren eine richterliche Beweisaufnahme, die aufzeigen soll, dass Gott den gerechten nicht rettet. Hierzu verwenden die Gottlosen „Hybris“, das heißt Tyrannei und Willkür, um den Glauben des Gerechten zu überprüfen. Vers 20 endet dann wörtlich übersetzt in den Worten: „denn es wird - nach seinen Worten – seine Heimsuchung geschehen“. Die göttliche Heimsuchung verurteilt die Frevler und rettet die Gerechten – die Gottlosen gehen jedoch davon aus, dass diese Rettung nicht geschehen wird, womit der Glaube des Gerechten widerlegt sei oder vielleicht noch schlimmer, der schimpfliche auch von Gott gewollt sein könnte.

Auslegung

Wenn Macht und Gewalt der Maßstab der Gerechtigkeit werden, dann herrscht das Gesetz des Dschungels. Der Wille des Stärkeren wird zur Wahrheit und die Sozialschwachen werden ins Bodenlose erniedrigt: „Das Schwache nämlich hat sich als unnütz erwiesen.“ – so sprechen die Frevler im Buch der Weisheit. Getrieben von der Verzweiflung – es gebe kein göttliches Rettungshandeln, sondern nur ein hilfloses Leben im Hier und Jetzt – enden sie in Gewaltfantasien. Der Blick auf den endgültigen, sinnlosen Tod führt zum unersättlichen Genuss, der zu einem grenzenlosen Machtanspruch führt. Ohne eine göttliche Gerechtigkeit als Korrektiv, endet der menschliche Irrweg in der Tyrannei.

Den Macht- und Gewaltfantasien stellt das Buch der Weisheit Sanftmut und Gleichmut entgegen. Das Vertrauen auf Gott, das Leben aus der Vergangenheit in freudiger Erwartung der Zukunft, führt zum gerechten Handeln und ist für die Frevler wie Salz in einer Wunde. Diese Blutung lässt sich nur stoppen, wenn man versteht, dass „das Schwache an Gott […] stärker [ist] als die Menschen“ (1 Korinther 1,25).

Kunst etc.

Aus der Sicht des Weisheitslehrers, der das Buch der Weisheit geschrieben habt, gibt es Frevler, die sich dem Tod hingeben, "ihm angehören", und Gerechte, die als Abbild Gottes zur Unvergänglichkeit der Gerechtigkeit streben. Im Angesicht des Todes leben die Frevler das gute Leben ohne Rücksicht: "Kommt nun und lasst uns genießen, was wir jetzt haben, und die Schöpfung auskosten, solange wir jung sind.  Wir wollen mit bestem Wein uns füllen und uns salben, und keine Frühlingsblume soll uns entgehen." (Weisheit 2,6-7) - sie tanzen sozusagen mit dem Tod durch das Leben. 

Das im 14. Jahrhundert aufkommende Motiv des Totentanzes passt dazu. Ihm zugrunde liegt der damalige Volksglaube, dass Verstorbene um Mitternacht kommen und tanzen und singen: „Was ihr seid, das waren wir; was wir sind, das werdet ihr!"

Im Buch der Weisheit ist der Tod nicht personifiziert. Der Tod ist selbst keine Macht, sondern liegt als endgültiger Tod in der Entscheidung des Menschen, der mit dem Tod durch das Leben tanzen kann oder mit Weisheit nach Gerechtigkeit und Ewigkeit strebt.

"Tanz der Gerippe" (1493) von Michael Wolgemuth. Lizenz: gemeinfrei.