Lesejahr B: 2023/2024

1. Lesung (Dtn 4,1-2.6-8)

41Und nun, Israel, hör auf die Gesetze und Rechtsentscheide, die ich euch zu halten lehre! Hört und ihr werdet leben, ihr werdet in das Land, das der HERR, der Gott eurer Väter, euch gibt, hineinziehen und es in Besitz nehmen.

2Ihr sollt dem Wortlaut dessen, worauf ich euch verpflichte, nichts hinzufügen und nichts davon wegnehmen; ihr sollt die Gebote des HERRN, eures Gottes, bewahren, auf die ich euch verpflichte.

[...]

6Ihr sollt sie bewahren und sollt sie halten. Denn darin besteht eure Weisheit und eure Bildung in den Augen der Völker. Wenn sie dieses Gesetzeswerk kennenlernen, müssen sie sagen: In der Tat, diese große Nation ist ein weises und gebildetes Volk.

7Denn welche große Nation hätte Götter, die ihr so nah sind, wie der HERR, unser Gott, uns nah ist, wo immer wir ihn anrufen?

8Oder welche große Nation besäße Gesetze und Rechtsentscheide, die so gerecht sind wie alles in dieser Weisung, die ich euch heute vorlege?

Überblick

Das Gesetz Gottes als Weisheit und Zeichen der Nähe und Gerechtigkeit Gottes – das lehrt Moses.

 

1. Verortung 

„Und nun“ – diese Worte markieren im Buch Deuteronomium einen Einschnitt. Zu Beginn erzählte Mose von der Wüstenwanderung (Deuteronomium 1,6-3,29); nun leitet er über zur Promulgaion der Gesetze Gottes für das Leben im Verheißenen Land (Deuteronomium 5,28). Den Übergang markiert eine Ermahnungsrede Moses in Deuteronomium 4 samt prophetischer Unheils- und Heilsankündigung.

 

2. Aufbau

Das entscheidende Leitwort in Deuteronomium 4,1-8 sind die „Gesetze und Rechtsentscheide“ (Vers 1). Sie lehrt Mose (Vers 5), sie sind eine Gesamtheit / Einheit (Vers 6: „Rechtswerk“ – wörtlich „alle diese Gesetze“); sie sind „gerechte Gesetze und Rechtsentscheide“ (Vers 8) – sie sind die gesamte Tora, Weisung Gottes (Vers 8).

 

3. Erklärung einzelner Verse 

Vers 1: Es geht um kein bloßes Hinhören, wenn Mose sagt: „Israel hör!“ (vgl. „Hör Israel“ in Deuteronomium 6,4) – diese Aufforderung wäre jedoch zugleich falsch verstanden, wenn sie als Aufruf zu blinden Gehorsam gedeutet würde. Israel soll zuhören, Mose wird das Volk lehren – die Gebote zu halten -, es wird lernen; und dann entsprechend handeln. Von besonderer Bedeutung ist hier der Aspekt, dass Mose das Volk die Gesetze Gottes „lehrt“ – dies wird nochmals in Vers 5 betont: „Siehe, hiermit lehre ich euch, wie es mir der HERR, mein Gott, aufgetragen hat, Gesetze und Rechtsentscheide. Ihr sollt sie innerhalb des Landes halten, in das ihr hineinzieht, um es in Besitz zu nehmen.“ Gemäß Deuteronomium 5,31 ist Mose von Gott als Gesetzeslehrer für Israel beauftragt. Somit sind die im Buch Deuteronomium dem Volk Israels auf den Weg ins Verheißene Land mitgegebenen Gesetze (Deuteronomium 5-26) eine mosaische Auslegung der am Sinai offenbarten Torah. Das Ziel der Auslegung ist das Heil für Israel – d.h. das glückende Leben im Verheißenen Land.

Vers 2: Die Aufforderung zur Sicherung des Wortlautes autoritativer Texte ist im Alten Orient breit belegt. So wurden zum Beispiel auch Loyalitätseide gegenüber dem assyrischen König im 7. Jahrhundert vor Chr. abgesichert: „… wer den Eid dieser Tafel veränder, missachtet, dagegen verstößt und ihn beseitigt, diesen Loyalitätseid missachtet und ihren Eid bricht, diese Tafel des Loyalitätseides fortschafft, den sollen Assur, der König der Götter, und die großen Götter meines Herrn verfluchen.“ In der Abfolge von Vers 1 und 2 ergibt sich, dass Moses Lehre der Gesetze Gottes (siehe auch den Beginn des Buches Deuteronomium in 1,1-5) verpflichtend ist. Durch die Wortsicherungsformel in Vers 2 (siehe auch Deuteronomium 13,1) wird ein klarer Unterschied zwischen autoritativen Text und dessen Kommentierung gezogen.

Vers 6: Die Aussage dieses Verses ist eine doppelte – da es zwei Möglichkeiten gibt, den Vers zu lesen. Es ist nicht eindeutig, ob die Gesetze und Rechtsentscheide, die Mose dem Volk lehrt, als Weisheit zu identifizieren sind; oder ob, ihre Einhaltung ein Spiegel der Weisheit und Einsicht des Volkes ist. Beides fließt ineinander. Israels Weisheit besteht darin, dass es gerechte Gesetze hat und diese befolgt. Eine interessante Querverbindung ergibt sich zum Ende des Buches Deuteronomium – hier kurz vor dem Tod Moses wandert der „Geist der Wahrheit“ von ihm auf seinen Nachfolger Josua – ist der „Geist der Wahrheit“, der eigentliche Gesetzeslehrer Israels?

Vers 7: Dass ein Gott seinem Volk besonders nahe ist, verkünden im Alten Orient viele Völker. Inwiefern Israel in seiner Umwelt hervorsticht, erklärt dieser Vers nicht – eine erste Anwort geben Deuteronomium 4,33-34: „Hat je ein Volk mitten aus dem Feuer die donnernde Stimme eines Gottes reden gehört, wie du sie gehört hast, und ist am Leben geblieben? Oder hat je ein Gott es ebenso versucht, zu einer Nation zu kommen und sie sich mitten aus einer anderen herauszuholen unter Prüfungen, unter Zeichen, Wundern und Krieg, mit starker Hand und hoch erhobenem Arm und unter großen Schrecken, wie alles, was der HERR, euer Gott, in Ägypten mit euch getan hat, vor deinen Augen?“. Und eine zweite Antwort gibt Deuteronomium 30,14: „Nein, das Wort [des Gesetzes] ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten.“ Die besondere Nähe Gottes zu seinem Volk erklärt sich durch das Gesetz – siehe Vers 8.

Vers 8: Auch der babylonische König Hammurapi beansprucht auf seiner Gesetzesstele „gerechte Rechtssprüche“ zu bieten, die auf göttliche Quelle zurückzuführen sind. Doch hierzu setzt das Buch Deuteronomium einen bewussten Kontrast. Kein König, sondern Mose verkündet und lehrt das Gesetz des Gottes Israels, dass dieser selbst offenbart hat. Nicht nur die Gerechtigkeit, sondern die Gesetze selbst wurzeln im israelitischen Verständnis direkt in Gott. 

Auslegung

Aus der Vergangenheit leitet sich die Zukunft ab. Israel hat erfahren, dass das Hören auf Gottes Willen zum Heil führt. Den in den Gesetzen zusammengefasste Willen Gottes lehrt Mose dem Volk kurz bevor es in das Verheißene Land einzieht. Sie sind das Fundament für ein glückliches Leben im Angesicht Gottes. Sie sind die Richtlinie für den weiteren Weg. Sie sind eine Lehre, die es zu durchdringen gilt. Im Vordergrund stehen nicht die Gesetzesworte, sondern die Summe aller Gebote: „Und wo gibt es eine so große Nation, die so gerechte Gebote und Gesetze hat wie diese ganze Tora/Lehre, die ich euch heute vorlege?“ (Deuteronomium 4,8). Die Lehre ist der Wille Gottes, auf den das Volk hören soll. Es ist die Verpflichtung auf den Glauben an den einen, heilbringenden Gott. 

So sind das Studium und die Praxis der Gesetze kein enges Korsett, sondern werden von Mose mit der Weisheit und der Einsicht in die Ordnung der Welt nicht nur verglichen, sondern gleichgesetzt. Während alle Welt Quellen der Weisheit sucht, legt Mose Gottes Willen sozusagen vor die Füße des Volkes Israel – um daraus zu lernen und danach zu handeln. Dies ist keine Bürde, sondern eine Auszeichnung, denn in den Gesetzen kann Israel seinem Gott begegnen: „Daher bewahrt und tut (sie), denn dies ist eure Weisheit und eure Einsicht in den Augen der Völker, die von allen diesen Geboten hören und sagen werden: Nur es ist ein weises und verständiges Volk, diese große Nation. Denn wo gibt es eine so große Nation, die Götter hat, die ihr so nahe sind wie JHWH, unser Gott, wann immer wir ihn anrufen.“ (Deuteronomium 4,6-7). In der jüdischen Tradition wird überliefert, dass am Sabbat Gott sich hinsetzt, selbst die Torah studiert und so im Studium mit seinem Volk verbunden ist.  

Kunst etc.

Mose ist von Gott dazu beauftragt dem Volk Israel die am Sinai, nach der Befreiung aus Ägypten, geoffenbarte Gesetze zu lehren (siehe Exodus 24,12); nun – kurz vor seinem Tod und an der Grenze zum Verheißenen Land angekommen – unterweist er das Volk Gottes in einer langen Rede im göttlichen Gesetz und erklärt die Gesetze für bindend (siehe Deuteronomium 1,1-5). 

In der Kunst wird Mose – wie in der berühmten Darstellung von Gustav Doré - oft als Geber der Zehn Gebote dargestellt, die als einzige von Gott selbst verfasste Worte, dem Volk auf Steintafeln gegeben werden. Doch Moses ist in der Darstellung der Bibel mehr als „nur“ ein Bote – er ist ein Gesetzeslehrer, der das Volk unterweist – bereits in der Bibel beginnt nicht nur wissenschaftlich betrachtet, sondern auch in der Erzählung selbst die Auslegung des Willens Gottes.

Gustav Doré, 1866, “Moses Giving the Law on Mt. Sinai”. Lizenz: gemeinfrei.
Gustav Doré, 1866, “Moses Giving the Law on Mt. Sinai”. Lizenz: gemeinfrei.