Nicht nur Fleischeslust, sondern „ein Fleisch“.
1. Verortung
Am Anfang der Bibel, im ersten Schöpfungsbericht, zieht sich ein Refrain durch die Erschaffung der Welt: „Gott sah, dass es gut war“ (Genesis 1,1-2,3). Nun, im zweiten Schöpfungsbericht stellt Gott fest, dass etwas nicht gut ist. Er erschafft nicht, wie in der erste Erzählung den Menschen als Mann und Frau, sondern formt aus dem Erdboden erst denn noch geschlechtsneutralen Menschen und stellt dann fest: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist“ (Vers 18).
In diesem zweiten Schöpfungsbericht besitzt der Mensch noch nicht die Fähigkeit zwischen Gut und Böse zu unterscheiden – da der Baum von Erkenntnis noch unberührt ist. Gott erkennt aber, was gut und was nicht gut ist. Später dann, nachdem die Menschen vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, führt ihre freie Entscheidung jedoch nicht zur Sorge um den Mitmenschen, sondern zum ersten Mord (Genesis 4,6-8).
2. Aufbau
Erst mit der Erschaffung der Frau ist die Menschenschöpfung abgeschlossen. Nach der Feststellung Gottes des Mangels in Vers 18, erfolgt erst die Erschaffung der Tiere als Gefährten des Menschen (Verse 19-20). Dies ist kein fehlgeschlagenes Experiment, sondern die Autonomie des Menschen wird verdeutlicht. Die Erschaffung der Frau, aus der Rippe – eine einzigartige Erzählung im Kontext des Alten Orients, mündet dann zuerst in dem Jubelruf des Menschen (Vers 23) und einem Kommentar des Erzählers (Vers 24).
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 18: Der Mensch ist ein auf Geselligkeit hin angelegtes Wesen, für das allein die Gemeinschaft mit Gott gemäß der Schöpfung nicht genügt. Gesucht wird nun eine „Hilfe“ – gemeint ist damit keine Arbeitskraft, sondern ein Beistand. Der verwendete hebräische Begriff עזר (gesprochen: esär) wird mehrfach auch als Gottesbeschreibung verwendet (siehe Exodus 18,4; Deuteronomium 33,7) und bedeutet meistens eine in der Not gewährte Hilfe. Gegen ein mögliches Verständnis, dass die gesuchte „Hilfe“ überlegen ist, steht die zweite Beschreibung als „ihm entsprechend“, als ein Gegenüber, das dem einzelnen Menschen ebenbürtig ist. Menschsein ist geprägt durch gegenseitige Hilfe und Entsprechung.
Verse 19-20: Während der Mensch aus dem Staub, der auf dem Erdboden liegt, gebildet wurde (Vers 7), geschieht nun die Erschaffung der Tiere aus der fruchtbaren Erde. Weder erzählt der Autor, das bei den Tieren noch im Falle der Frauen eine Verleihung des Lebensatems stattfindet – diese kann von den Lesern und Leserinnen jedoch vorausgesetzt werden. Auch geht es hier nicht generell um die Erschaffung aller Tiere, sondern die Erzählperspektive ist die der Menschen, weshalb zum Beispiel auch nicht die Fische genannt werden, aus israelitischer Perspektive weder Gefährten noch Gehilfen sein könnten. Bemerkenswert ist, dass nun dem Menschen ein erster Akt seiner Autonomie gewährt wird; bzw. der Mensch erhält durch die Benennung der Tiere Teilhabe an der göttlichen Herrschaftsausübung. Die Benennung bedeutet, dass der Mensch seine Welt ordnet. So wird aus den „Tieren des Feldes und allen Vögeln des Himmels“ eine neue Ordnung: Vieh, Vögel, Wild.
Vers 21: Nein, dieser Vers beschreibt nicht die erste Anästhesie und chirurgische Operation. Der tiefe Schlaf, der auf den Menschen fällt, ist in anderen Bibelstellen ein Hinweis auf Gottes wunderbares Eingreifen, das dem Menschen verborgen bleibt. Auch ist der Begriff, der hier mit „Rippe“ übersetzt wird, kein rein anatomischer, sondern bedeutet allgemein „Seite“. Es geht darum, dass in der Schöpfung eine enge Verbindung von Mann und Frau angelegt, die zuläuft auf die Aussage in Vers 24: dass Mann und Frau „ein Fleisch“ werden.
Vers 22: Wie auch die Tiere führt Gott nun die Frau dem Menschen zu.
Vers 23: „Mein Bein und Fleisch bist du“, diese Worte, die sogenannten Verwandschaftsformel, erklingt hier nun in abgewandelter Form. Der Mensch anerkennt die direkte Verbindung zu Frau, die physische Herkunft und die Zusammengehörigkeit. Aus dem geschlechtsneutralen „Mensch“ wird nun Mann und Frau. Im Hebräischen unterscheiden die Worte sich auch nur in der Genus-Endung: איש (gesprochen: isch) und אישה (gesprochen: ischa). Es ist bemerkenswert, dass der Mensch nun die Frau zwar wie die Tiere benennt, aber nur indirekt: „man wird sie nennen“; ihr „Name“ ergibt sich sozusagen automatisch aus dem Wesen.
Vers 24: Die Worte des Menschen aus Vers 23 sind zu Ende und nun folgt noch ein Kommentar des Erzählers („darum“). Es sei angemerkt, dass das Verlassen von Mutter und Vater, das hier angesprochen ist, für die direkt von Gott Geschaffenen, gar keine Möglichkeit darstellt. Hier nun kommentiert der Erzähler bewusst aus der Gegenwart des Lesers und der Leserin und schafft in seinen Worten eine Gegenwelt. Nach dem sogenannten Sündenfall spricht Gott folgendes Urteil zur Frau: „Nach deinem Mann hast du Verlangen / und er wird über dich herrschen.“ (Genesis 3,16). Die eigentliche Schöpfungsordnung ist jedoch eine andere. Während die Welt des Alten Testaments größtenteils patriarchalisch geordnet ist – so verlässt zum Beispiel nicht der Mann, sondern die Frau ihr Elternhaus, um eine Ehe einzugehen (siehe Genesis 24) – und eine Ehe primär aufgrund familiärer, sozialer und wirtschaftlicher Gründe geschlossen wird, wird in der Schöpfungsordnung die Beziehung von Mann und Frau, ihre Solidarität und ihre Liebe in den Vordergrund gestellt. Das „Hängen“ des Mannes an der Frau hat eine bemerkenswerte Parallele in der Sprache des Buches Deuteronomium; dort wird dasselbe Verb (דבק) verwendet, um die Beziehung Israels zu Gott zu beschreiben: „Du sollst den HERRN, deinen Gott, fürchten. Ihm sollst du dienen, an ihm sollst du dich festhalten [„anhangen“, דבק], bei seinem Namen sollst du schwören.“ (Deuteronomium 10,20). Die Frau, die durch Gott aus dem Mann entstanden ist, und der Mann werden (wieder) „ein Fleisch“. Da im Hebräischen der Begriff „Fleisch“ nicht mit Fleischeslust gleichzusetzen ist, sondern das Menschsein – auch die Körperlichkeit – bezeichnet, bedeutet die Schlussaussage in Vers 24, dass Mann und Frau eine allumfassende, persönliche Gemeinschaft bilden.