Bewahren heißt nicht abschirmen, sondern die Widerstandskräfte stärken.
1. Verortung im Evangelium
Das Johannesevangeliums (Joh) beschäftigt sich in seinem ersten Hauptteil (Kapitel 1-12) vor allem mit der Sendung Jesu vom himmlischen Vater zu den Menschen und dessen Wirken mitten unter ihnen. Mit dem Evangelium von der Fußwaschung (Joh 13,1-15) beginnt der Rückzug Jesu aus dem öffentlichen Wirken und zugleich die Rückkehr zum Vater, die mit Tod und Verherrlichung am Kreuz endet. Die Kapitel 13-20 (zweiter Hauptteil) verbringt Jesus vor allem mit seinem Jüngerkreis. Ihnen erklärt er nach der Fußwaschung in den sogenannten Abschiedsreden (Kapitel 14-16), die Bedeutung dessen, was ihn dann im Leiden und Auferstehen widerfährt.
Mit Beginn von Kapitel 17 wendet sich Jesus dem Vater im Himmel zu und bittet um Beistand für die Seinen. Dabei wirkt es so, als wäre er selbst eigentlich schon nicht mehr unter den Jünger, sondern ganz beim Vater im Himmel. So kehrt zwischen den Abschiedsreden im Abendmahlssaal und dem Beginn der Passionsereignisse ein Moment der Begegnung zwischen Himmel und Erde ein. Die Verse Joh 17,1-11a bilden den ersten Abschnitt des Gebets Jesu. Mit Vers 11b setzt die Bitte Jesu erneut an.
2. Aufbau
Mit Vers 6a beginnt im Gesamtkontext des Gebets Jesu an den Vater die Bitte für seine Jünger.
Der zweite Teil des Abschnitts kreist um zwei Grundgedanken: Die Bewahrung der Jünger (Verse 11b-15) und ihre Heiligung (Verse 16-19).
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 6a: Der Abschnitt setzt ein, indem Jesus vor dem Vater Rechenschaft darüber ablegt, warum er die Seinen ihm anvertraut. Er hat ihnen den „Namen“ des Vaters offenbart und damit zu erkennen gegeben, wer Gott ist. Hier ist einerseits an die „Ich-bin-Worte“ Jesu zu denken, die im Anschluss an die alttestamentliche Offenbarung des Gottesnamens „Ich bin, der ich bin“ an Mose (Exodus 3,14) das Wesen Gottes zu erkennen geben: Jesus zeigt Gott als Wahrheit, Weg und Leben, als Tür, als Hirten, als lebendiges Brot etc. Andererseits hat Jesus Gott als „Vater“ offenbart und die Jünger in dieses Verhältnis mit hineingeholt.
Verse 11b-13: In der direkten Anrede („heiliger Vater“) bittet Jesus um die Bewahrung seiner Jünger. Er vertraut die Seinen dem Vater. Solange Jesus selbst mit den Jüngern unterwegs und in der Welt ist, kann er selbst sie „im Namen Gottes“ bewahren. Hier wird besonders deutlich, dass dieser das Wesen Gottes beschreibt: Güte, Erbarmen, Liebe. Weil Vater und Sohn „eins sind“ (Joh 10,30) und darum auch der Sohn den Namen des Vaters „gegeben“ bekommen hat, konnte der Sohn die Seinen im Namen Gottes bewahren. Dies geschah, indem er ihnen das Wesen Gottes offenbarte und sie zum Glauben kamen (Joh 17,6-8).
Jesus bekräftigt, dass ihm die Bewahrung der anvertrauten Menschen (vgl. Vers 6a) gelungen ist. Er hat ihnen den Namen Gottes kundgetan und sie zum Glauben an den Vater geleitet. Einzig bei Judas („Sohn des Verderbens“) ist dies nicht gelungen, weil dessen Tun bereits vorgezeichnet war (vgl. Joh 13,18). Dessen Verrat ist also kein Beweis des Scheiterns des Auftrags Jesu, sondern Teil seiner Sendung.
Mit dem Hinweis auf seine baldige Rückkehr zum Vater verbindet Jesus seinen Wunsch für die Seinen: Sie sollen „Freude in Fülle“ haben. Eine Bitte, die auch in Joh 15,11 und 16,24 das Ziel der Einheit der Jünger mit Gott umschreibt. In und bei Gott zu sein, eins zu sein mit ihm, bedeutet auch an der endzeitlich verheißenen, vollkommenen Freude Anteil zu haben.
Verse 14-16: Noch einmal legt Jesus Rechenschaft vor dem Vater ab. Er hat seinen Jüngern das Wort Gottes gegeben. Dies ist in doppeltem Sinne zu verstehen: Jesus selbst ist das Wort Gottes (Joh 1,1) und er gibt es den Jüngern einerseits weiter, indem er dem Wesen Gottes entsprechend unter ihnen lebt und handelt, bis hin zur Lebenshingabe am Kreuz. Andererseits gibt er das Wort weiter, indem er ihnen alles mitteilt, was er von seinem Vater gehört hat (Joh 15,15), also die Frohe Botschaft von Gottes Wirklichkeit unter ihnen kundtut.
Die Nachfolge der Jünger bringt sie in die gleiche Situation wie Jesus selbst (Joh 1,10-11) – die Welt lehnt sie ab beziehungsweise „hasst“ sie. Die Jünger schließen sich Jesus an, der vom Vater gesandt ist und damit nicht „aus der Welt“ stammt, und werden wie Weinstock und Reben eine Einheit mit ihm (Joh 15,5). Diese Verbundenheit mündet in die Zurückweisung von der Welt. Die Gemeinde erfährt dies im Unglauben gegenüber der Verkündigung, Jesus selbst in letzter Konsequenz in Verrat, Auslieferung und Tod am Kreuz.
Die Bitte Jesu an den Vater ist trotz der bevorstehenden Anfeindung zielt nicht darauf, dass die Jünger aus der Welt heraus genommen werden und ebenso zum Vater gehen wie Jesus selbst. Die Sendung der Jünger zielt auf die Welt, in ihr sollen sie das Wort Gottes nach Jesu Tod weitergeben. Es gilt sie daher nicht aus ihrem Wirkungsraum herauszuholen, sondern sie darin vor dem Bösen zu bewahren.
Verse 17-19: Die Bewahrung der Jünger vor Anfeindung und Unglaube geschieht durch Heiligung. Heiligen ist zu verstehen als Festigung oder Verankerung im Wesen Gottes. Jesus heiligt sich, das heißt er steht für sie fest im Wesen Gottes. Er zeigt dies, indem er in seinem Kreuzestod die Liebe Gottes sichtbar werden lässt. Das ist für die Jünger Ansporn, selbst dieser Liebe zu trauen, in ihr zu leben und sie zu bezeugen. Der Vater wird sie darin bestärken, indem er seinen Geist sendet und sich immer wieder als liebender Vater zeigt. Diese Botschaft der Güte und Liebe greifbar werden zu lassen, ist Auftrag der Jünger, wie es Jesu eigener Auftrag war.