Lesejahr B: 2023/2024

1. Lesung (Dan 7,2a.13b-14)

2Daniel sagte: Ich schaute in meiner Vision während der Nacht und siehe:

[...]

Da kam mit den Wolken des Himmels / einer wie ein Menschensohn.

Er gelangte bis zu dem Hochbetagten / und wurde vor ihn geführt.

14Ihm wurden Herrschaft, / Würde und Königtum gegeben.

Alle Völker, Nationen und Sprachen / dienten ihm.

Seine Herrschaft ist eine ewige, / unvergängliche Herrschaft. / Sein Reich geht niemals unter.

Überblick

Die Weltgeschichte endet und beginnt auf ein Neues mit einem „Hochbetagten“ und einem „wie ein Menschensohn“. Ihre Weltherrschaft wird niemals enden.

 

1. Verortung im Buch

Das Buch Daniel besteht aus Erzählungen (Daniel 1-6) und Visionen (Daniel 7-12). Es ist durchzogen von der theologischen Aussage: Alle Auseinandersetzungen Israels mit fremden Großmächten führt am Ende zur Durchsetzung der weltweiten Königsherrschaft des Gottes Israels. In den Wirren der Zeit wird Gott als der zukünftige und ewige Herrscher über alle menschliche Macht dargestellt. Das Buch Daniel ist ein apokalyptisches Buch, das heißt:  Das sich in der Geschichte steigernde Unheil wird am Ende besiegt und es wird deutlich werden, dass der Gott im Himmel und nicht die Könige der Welt alle Macht besitzt: „Zur Zeit jener Könige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten, das in Ewigkeit nicht untergeht; dieses Reich wird er keinem anderen Volk überlassen. Es wird alle jene Reiche zermalmen und endgültig vernichten; es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen.“ (Daniel 2,44). 

Die mit Daniel 7 einsetzenden Visionen sind klar datiert – zum Beispiel in Daniel 7,1: „Im ersten Jahr Belschazzars, des Königs von Babel“ (550 v. Chr.) -, aber sie sind Auseinandersetzungen mit der Not des Volkes Israels in der Zeit des hellenistischen Herrschers Antiochius Epiphanes IV. Ephiphanes, der einen neuen Festkalender einführte, das jüdische Gesetz außer Kraft setzte und den Kult verunmöglichte – wogegen die Makkabäer ihren Aufstand wagten (167-164 v- Chr.). 

 

2. Aufbau

Die Vision Daniels in Kapitel 7 endet im großen Schrecken: „Darüber war ich, Daniel, im Geist verstört und meine Visionen erschreckten mich.“ (Vers 15). Die Vision selbst gliedert sich in zwei Szenen. Vier Tiere erstehen aus dem das Chaos symbolisierenden Meer und herrschen gewalttätig über die Welt; sie symbolisieren die vier Weltreiche: Babylonier, Meder, Perser und das durch Alexander des Großen von Makedonien ausgehende griechische die Welt hellenisierende Reich (Verse 2-8). Die Herrschaft der Weltreiche endet in der in den Versen 9-12 beschriebenen Gerichtszene und der Einsetzung eines neuen Herrschers gemäß Vers 13-14, der nicht aus dem Meer kommt, sondern von den „Wolken des Himmels“ und ewige Herrschaft über die gesamte Welt erhält. Für die Lesung wurden nur nicht die Gerichtszene samt Urteil (Verse 9-12), sondern die Einsetzung des neuen Herrschers, der „wie ein Mensch“ ist (Verse 13-14), ausgewählt. Ebenso gehört die zweifache, folgende Auslegung der Vision in den Versen 17-18 und den Versen 19-27 nicht zum Lesungstext.

 

3. Erklärung einzelner Verse 

Verse 2(-10): Der Blick Daniels ist in seiner nächtlichen Vision auf die Erde gerichtet. Er sieht im Folgenden vier Bestien, die die Weltreiche symbolisieren. Dann werde mehrere Throne aufgestellt. Auf einem der Throne nimmt „ein Hochbetagter“ Platz. In Vers 10 nimmt dann auch das Gericht Platz, also könnte es sich bei den Thronen um die Sitze der zum Gericht versammelten Richter handeln, die von dem Hochbetagten angeführt werden. In altorientalischen Texten wird der kananäische Hauptgott El als ein weiser „Vater der Jahre“ mit grauem Bart beschrieben. Dieses außergewöhnliche, sehr vermenschlichte Gottesbild beschreibt hier das Auftreten des Gottes Israels. Die weiße Kleidung und die weißen Haare symbolisieren seine Reinheit. Seine Verbindung mit Feuer zeigt sowohl im positiven die Werte „Licht“, „Schutz“ und „Führung“ an als auch den im Folgenden weiter entfaltete Idee des Gerichts. „Feuer“ ist im Alten Testament immer eng verbunden mit Gotteserscheinungen; vgl. zum Beispiel das Erscheinen Gottes im brennenden Dornbusch in Exodus 3,2. Das Feuer symbolisiert die göttliche Macht. Wer zum „Gericht“ gehört, erklärt der Text nicht. Vielleicht klingt hier die altorientlische Idee eines göttlichen Thronsaals an, in dem sich alle Götter zum Gericht versammelten. 

Vers 13: Die Verse 11-12 berichten von der Todesstrafe des vierten Tieres und der Bestrafung der anderen drei Tiere. Nach dieser Entmachtung der Weltreiche tritt jemand „wie ein Menschensohn“ vor Gott. So wie die Beschreibung Gottes in Vers 9 an den kananäischen Hauptgott El erinnert, so ist die auftretende Figur nun eine Erinnerung an den Wettergott Baal, der in den altorientalischen Texten als „Wolkenreiter“ beschrieben wird. In der kananäischen Mythologie besiegt er den mit dem Meer – aus dem die vier Bestien emporstiegen - assoziierten Gott Jam und wird zum König ausgerufen. Die Parallelen aus der altorientalischen Umwelt des Alten Testaments dienen jedoch nur dem besseren Verständnis und nicht der Deutung dieser Person, die gemäß dem aramäischen Text „wie ein Menschensohn“, das heißt „wie ein Mensch“ ist – siehe zur Deutung dieser Person die Ausführungen unter „Auslegung“.

Vers 14: Im Buch Daniel wurde zuvor dem neubabylonischen König Nebukadnezar II. (605-562 v. Chr.) fast allumfassende Macht verliehen: „Du, König, bist der König der Könige; dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht, Stärke und Ruhm verliehen.“ (Daniel 2,44). Die Herrschaft des „wie ein Mensch“ wird jedoch ewig sein und anders als die menschlichen Weltreiche, wird sein Reich nicht untergehen. 

Auslegung

Der, der wie ein Mensch ist, stammt nicht, wie die Bestien aus dem Meer. Er steht also nicht einfach für ein weiteres gewalttätiges Weltreich. Sondern er kommt auf die Erde aus dem Himmel.  „Wie ein Mensch auf zwei Füße gestellt“, „es wurde ihm ein menschliches Herz gegeben“ – so wird das erste Tier beschrieben. Und dem vierten Tier entwächst ein Horn mit „Augen wie Menschenaugen“. Der von Gott nun eingesetzte neue Herrscher erfüllt nun scheinbar die Verheißung des ersten Schöpfungsberichtes der Bibel, dass der Mensch über alle Tiere der Erde und die gesamte Welt herrschen soll (siehe Genesis 1,28-30). 

Am Anfang der Bibel wird der Mensch zur Herrschaft über die Natur berufen (Genesis 1,24-30). Der von Gott eingesetzte König soll über alle Völker der Welt herrschen und „die Enden der Erde“ seien sein Eigentum (Psalm 2,8). Der Mensch ist von Gott zum Herrschen berufen – aber keine Gesellschaft funktioniert ohne eine zentrale Gewalt. Die Welt besteht aus Beherrschten und Herrschenden. Im Buch Daniel wird auf den babylonische König Nebukadnezzar verwiesen, dem Gott, die „Königsherrschaft, die Grösse, die Würde und die Herrlichkeit“ verlieh, sodass er gefürchtet war bei „allen Völker, Nationen und Sprachen“ (Daniel 5,18-19). Und dieser allmächtige König anerkannte Gott als die seine eigene Macht ermöglichende Autorität (Daniel 3,10).

Aber vor Gott als Richter ist jede menschliche Macht, selbst die von ihm verliehene, nichtig. Die endgültige Weltordnung wird nicht vom Menschen errichtet, sondern sie stammt aus dem Himmel: Daniel verkündet als den finalen König der Menschheitsgeschichte keinen Menschen, sondern einen, der wie eine Menschenwesen, ein Sohn eines Menschen ist und dessen Herrschaft nicht vergänglich ist. Endgültige Herrschaft entwächst nicht der Erde, sondern kommt vom Himmel. In der offenen Sprache der Vision Daniels, wird dieser Person „Herrschaft, Herrlichkeit und Königtum gegeben, sodass alle Völker aller Nationen, Rassen und Sprachen ihm dienen.“ (Daniel 7,14).

Im Buch Daniel wird eine Herrschaft ersehnt, die so machtvoll und andauernd ist, dass sie eben nicht menschlich-vergänglich sein kann. Wie Gott wird der neue Herrscher mit den Wolken des Himmels kommen, d.h. wie in einer Theophanie auftreten. Diese himmlische Macht ist aber andauernd und allmächtig, weil sie von Gott kommt und ihm dient. Gemäß der Interpretation Jesu im Markus-Evangelium ist diese Herrschaft das weltverändernde Ereignis, weil diese Herrschergestalt nicht kommt „um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen“ (Markus 10,45).

Kunst etc.

Gott als alter Mann mit Bart – dieses Gottesbild ist fest verankert in der Kunstgeschichte und in den Köpfen vieler Gläubiger. Einprägsam ist es von Michelangelo wahrscheinlich 1511 in der Darstellung der Erschaffung Adams für die Sixtinische Kapelle verbildlicht worden. Die Attribute des hohen Alters und auch der in der Farbe weiß symbolisierten Reinheit stehen jedoch nicht für den „lieben Opa“, sondern symbolisieren einen Machtanspruch, der in der Ewigkeit verankert ist. Eigentlich müsste immer zu einer solchen bildlichen Darstellung auch die im Text vom Buch Daniel genannten Feuerströme, die die Vernichtungsmacht darstellen, beigefügt sein: „Ich sah immer noch hin; da wurden Throne aufgestellt und ein Hochbetagter nahm Platz. Sein Gewand war weiß wie Schnee, sein Haar wie reine Wolle. Feuerflammen waren sein Thron und dessen Räder waren loderndes Feuer. Ein Strom von Feuer ging von ihm aus. Tausendmal Tausende dienten ihm, zehntausendmal Zehntausende standen vor ihm. Das Gericht nahm Platz und es wurden Bücher aufgeschlagen.“ (Daniel 7,9-10)

Michelangelo (1475-1564), „Creazione di Adamo“, entstanden ca. 1511 – Lizenz: gemeinfrei.
Michelangelo (1475-1564), „Creazione di Adamo“, entstanden ca. 1511 – Lizenz: gemeinfrei.