Das Buch Amos

Überschrift und Motto (Am 1,1-2)

11Die Worte, die Amos, ein Schafhirte aus Tekoa, über Israel geschaut hat, in den Tagen des Usija, des Königs von Juda, und in den Tagen des Jerobeam, des Sohnes des Joasch, des Königs von Israel, zwei Jahre vor dem Erdbeben.

2Er sprach:

Der HERR brüllt vom Zion her, / aus Jerusalem lässt er seine Stimme erschallen.

Da welken die Auen der Hirten / und der Gipfel des Karmel verdorrt.

Überblick

Einem „Schafhirten“ ist der Auftritt als Prophet keineswegs in die Wiege gelegt. Ist dies der Grund, weshalb die Überschrift neben Herkunftsort und Zeit den Beruf eigens erwähnt? Und warum wird von einem Erdbeben gesprochen?

1. Einleitung

Überschrift (V 1) und eine Art Head-Line  für das gesamte Amosbuch (V 2) bilden die doppelte Eröffnung dieser Schrift. Ihre Funktionen sind sehr verschieden:

  • Die Überschrift nennt Namen, Beruf und geographische Herkunft des Propheten  Seine Sprüche und Reden („Worte“) bilden den Ausgangspunkt des Buches. Auffällig - und im Vergleich zu anderen Prophetenbuch-Überschriften unüblich - ist die doppelte Zeitangabe: Neben regierenden Königen wird noch eine Naturkatastrophe als zeitliche Orientierungsmarke genannt.

  • Vers 2 antwortet auf zwei Fragen: Wessen Worte hat Amos einst „geschaut“? Welcher Art war ihr Inhalt?

Die Antwort  auf die erste Frage lautet: Gott selbst ist der eigentliche Urheber der von Amos vernommenen Worte. Er, der mit Namen genannt wird („HERR“ in der Übersetzung steht anstelle des hebräischen Gottesnamens JHWH), bewirkt mit den Schallwellen seines Löwengebrülls vom Tempelberg in Jerusalem her („Zion“) Unheil:  große Dürre statt blühender Landschaften. Damit ist auch schon die Antwort auf die zweite Frage gegeben, und vom Beginn des Buches an ist klar: Die Luft, die über dem Amosbuch schwebt, ist  bedrohlich und unheilsschwanger.

Beide Verse sind voller versteckter Hinweise auf das, was im Buch noch folgen wird: König Jerobeam (787 – 747 v. Chr.) wird als der entscheidende Gegner des Amos in Am 7,10-17 auftauchen. Dort geht es, wenn auch in anderer Begrifflichkeit,  auch noch einmal um den Beruf des Amos (Am 7,14). Das „Schauen“ der Worte verweist nicht der Vokabel, aber der Sache nach auf die Visionen, die in Am 7,1-9; 8,1-3; 9,1-4 zusammengestellt sind. Das Erdbeben, auf das die Überschrift bereits zurückblickt, taucht als kommende Bedrohung in Am 2,13-16; 3,14f.; 9,1-4 auf. Der Zion begegnet überraschend in Am 6,1, der Karmel in Am 9,3. Das Löwenbild bestimmt das 3. Kapitel (Am: 3,2.8.12) wie auch das Gleichnis Am 5,18-20, während die trauernde und verdorrende Natur in Am 5,16-17 und 9,5 das entscheidende Unheilsmotiv ist. Dieses Bild findet allerdings seine hoffnungsvolle Umkehrung in Am 9,13-15. Das Buch endet also anders, als es beginnt, aber durchaus in motivlicher Verklammerung.

So erweisen die beiden Eröffnungsverse des Amosbuches sich als eine Ouvertüre, in der schon alle Themen der folgenden "Oper" vorkommen. Nur geht es eben nicht um eine "Oper", sondern um das Wort Gottes, das schriftlich festgehalten wurde, weil es nicht nur das Israel des 8. Jh. v. Chr. betrifft, sondern auf Dauer gilt.

 

2. Erklärung

"Vierzehn Jahre nach dem großen Tsunami entsteht dieser Beitrag." - Ob jemand in 2.750 Jahren etwas mit einer solchen Überschrift verbindet, mag dahin gestellt sein. Für den Augenblick wissen wir aber, was sich mit dieser Zeitangabe verbindet, selbst wenn schon nicht mehr jeder das genaue Jahr 2004 im Hinterkopf hat. Vergleichbar startet das Amosbuch: "Zwei Jahre nach dem Erdbeben". Die Erstlesenden und –hörenden wussten um das Ereignis. Eine unvergessliche Orientierungsmarke des Untergangs, die mit dem Untergangsszenario in der Predigt eines Mannes namens Amos in Verbindung gebracht wird. Uns ist die genaue Kenntnis dieses Erdbebens nach ca. 2.750 Jahren längst verloren gegangen. Aber die Wahl der Zeitangabe  zeigt schon an, mit welch beeindruckender Botschaft dieser Vieh- und Plantagenwirt aus Tekoa aufgetreten sein muss. Tatsächlich tauchen innerhalb des Buches immer wieder Erdbebenbilder auf: vgl. Am 2,13-16; 3,14f.; 9,1-4. Zugleich ist aber klar: Das Buch schaut auf das Erdbeben zurück. Theologisch bedeutet dies als Botschaft an die Lesenden:  "Wir leben jetzt in der Zeit nach dem Erdbeben. Nutzt sie!"

Auch die Berufsangabe ist nicht belanglos: Nicht der studierte Fachtheologe meldet sich im Buch Amos zu Wort, sondern ein Rinderhirte - oder züchter. Die soziale Rangstufe des Propheten lässt sich nicht ermitteln: War er einfacher Lohnarbeiter mit einem besonderen Blick für die Nöte der sozial Schwachen oder hatte er diesen Blick, obwohl er eher Herden- und Plantagenbesitzer (vgl. Am 7,14)  war? Die Angaben des Buches selbst schwanken zwischen „Herdenbesitzer“ (nôqed) in Am 1,1 (in 2 Könige 3,4 wird so der König von Moab als Großherdenbesitzer bezeichnet), „Rinderhirte“ (bôqer) und „Maulbeerfeigenritzer“ (Am 7,14) sowie Kleinviehhirte (Am 7,15: „Aber der HERR hat mich hinter meiner Herde [wörtl.: Kleinviehherde/ṣôn] weggenommen“). Wie auch immer, seine Bildersprache lässt durchgängig seine landwirtschaftliche Verwurzelung erkennen.Er spricht vom Erntewagen (2,13), den „Baschankühen“ (4,1) oder dem vollen „Erntekorb“ (8,1) und kennt sich in den Bestimmungen zu Hirtenpflicht und Tierwirtschaft aus (vgl. Auslegung zu Am 3,12 und  6,4). Er ist ein Mann aus dem Volk mit bäuerlich-markiger Sprache und Bodenhaftung, dem das Hören auf Gott nicht den Blick auf alltägliche Wirklichkeit verstellt.

Tekoa als Herkunftsort, ca. 18 km südlich von Jerusalem gelegen, passt bestens ins Bild. Westlich von ihm erstreckt sich zum Mittelmeer eine fruchtbare Landschaft, in der Amos gut als Herdenführer und Maulbeerfeigenbauer (s. zu Am 7,14) vorstellbar ist. Von hier aus, dem Südreich Juda mit der Hauptstadt Jerusalem, ist er in König Jerobeams Nordreich gezogen, um dort in der Hauptstadt Samaria und am Heiligtum von Betel den Mund im Namen Gottes aufzumachen.

Die eigentümliche Doppelformulierung "Worte ... in Visionen hören" verweist darauf, dass am Anfang des Prophetenweges Visionen standen (Am 7,1-9; 8,1-3; 9,1-4):Was Amos vernahm – schaute und hörte – , musste unters Volk gebracht werden; es machte ihn vom Hörenden zum Verkündiger. Der hebräische Begriff „dabar“ meint sowohl „Wort“ als auch „Ereignis“. Das Amosbuch stellt also Israel betreffende (gegenwärtige wie zukünftige) Ereignisse zusammen, die der Prophet geschaut und angekündigt hat. Dazu hat er offensichtlich sein Heimatland Juda, dessen Hauptstadt Jerusalem war, verlassen und ist in das Nordreich Israel mit der politischen Hauptstadt Samaria und dem religiösen Zentrum Bet-El gezogen. Ihnen ordnet die Überschrift die zur Zeit des Amos regierenden Könige zu: Usija von Judaregierte 787-736 v. Chr. und Jerobeam II. von Israel regierte 787-747 v. Chr.

Für das Nordreich war diese Epoche wohl eine Zeit des Aufatmens.Politische Gegner, besonders Assyrien, waren anderweitig eingebunden und hatten keine Kapazitäten für die Durchsetzung ihrer Tributansprüche. Dadurch konnte Israel wirtschaftlich erstarken, allerdings um den hohen Preis eines zerbrechenden Sozialfriedens in der eigenen Gesellschaft. Und genau darum geht es Amos.

Bleibt noch der Name Amos. Glaubten die Eltern bei der Namenswahl - wie Ps 68,6 - an einen wirklich "tragenden" Gott (hebr. 'amas = "tragen"), so muss Amos verkündigen: Gott entzieht seine tragende Kraft. Er "erträgt" nicht alles, am wenigsten soziales Unrecht auf Kosten der Schwachen und Armen. Einen solchen sich in die Tagespolitik einmischenden Gott findet allerdings die Gesellschaft, vorneweg König Jerobeam und sein Priester Amazja ("JHWH ist stark"), "unerträglich". Sie werden Amos kurzerhand des Landes verweisen (Am 7,10-17).

 

Auslegung

Amos als Prophet

"Der Prophet ist jemand, der mit den Augen schreit" (Norbert Greinacher). Kein plumper Zukunftsredner und Wahrsager, sondern ein Analyst der gegenwärtigen Zustände betritt mit Amos den Boden Israels. Seine tiefe Gottverbundenheit bewahrt ihn davor, Teil des Systems zu werden, das mit dem Namen Jerobeam II. verbunden ist. Außenpolitische Ruhe und Wirtschaftswachstum im Inneren, von dem aber allein die Oberschicht profitiert, machen ihn nicht blind, im Gegenteil: Er sieht die Opfer dieser Entwicklung in den eigenen Reihen und den gnadenlosen Einsatz der Mittel zur Wohlstandsvergrößerung. Als Prophet sieht Amos mehr und schärfer als andere, vor allem erkennt den inneren Zusammenhang zwischen Gegenwart und Zukunft, den die augenblicklichen Gewinnler gerne verdrängen. Von alledem sagen Überschrift und Mottovers explizit noch nichts, aber sie wollen genau auf diese Botschaft vorbereiten und einstimmen.

Gott als brüllender Löwe

Das Gottesbild überrascht: Gott brüllt wie ein Löwe. Kein Säuseln oder gar Schweigen wie in 1 Könige 19,12, sondern ein unüberhörbares Getöse. „Der Löwe brüllt – wer fürchtet sich nicht?“, so wird Am 3,8 fragen. Das Bild kann im Grunde nur nachvollziehen, wer Löwen als reale Lebensbedrohung kennt und den markerschütternden Ruf vernommen hat. Das war im Israel des Alten Testaments noch möglich. Wenn dann ein solches Bild für Gott gewählt wird, ist er aller Harmlosigkeit beraubt. Er ist kein „lieber Gott“, sondern ein machtvoll-majestätischer, der mit den Schallwellen seiner Stimme die Schöpfung lahmlegt: Der Lebensspender wird zum Lebensentzieher, wenn die Viehweiden als Futtergrundlage entfallen und der noch heute waldreiche Karmel, der vom Namen her „Weingarten Gottes“ (kaeraem ʻel) bedeutet, wie ein verbrannter oder durch einen Orkan abgeholzter Wald aussieht.

Ja, der machtvoll brüllende Löwengott soll zumindest den Lesenden Furcht einflößen, auf dass die Menschen zur Besinnung kommen und ihr Verhalten ändern. Denn auch wenn im Buch noch kein Wort davon gesagt ist: Nichts geschieht ohne Grund (vgl.Am 3,3-6). Also muss es auch einen Grund dafür geben, dass aus Israels Gott als dem Hirten (vgl. z. B. Psalm 80) ein brüllender und vernichtender Löwe wird. Von diesen Gründen wird im Amosbuch die Rede sein. Im Grunde wird Amos verstanden als der von Gott berufene „Transporteur“ des göttlichen Löwengebrülls in das Volk Israel hinein. Allerdings hatte sein „Gebrüll“ keine warnende Funktion. So wie Am 3,4 fragen wird: „Brüllt der Löwe im Wald und er hat keine Beute?“, so musste Amos verkünden: Gott hat Beute gefunden. Gegen alle Erwartung sind diese Beute nicht die bösen anderen, sondern Israel selbst: „Das Ende ist gekommen zu meinem Volk Israel“. Rettung ausgeschlossen, so wird es ein weiterer Löwen-Text in Am 3,12 in bissiger Ironie verdeutlichen.

Kunst etc.

Prophetenschicksal

"ich seh', was du nicht siehst."

Kinderspiel!

Welcher Ernst,

welche Einsamkeit dem,

der diesen Blick aushält

und steht

und kündet

und lebt!

(Ulrich Debler)