Das Buch Amos

Am 5,18-20: Der Tag des HERRN

18Weh denen, die den Tag des HERRN herbeisehnen! / Was nützt euch denn der Tag des HERRN? / Finsternis ist er, nicht Licht.

19Es ist, wie wenn jemand einem Löwen entflieht / und ihn dann ein Bär überfällt;

kommt er nach Hause / und stützt sich mit der Hand auf die Mauer, / dann beißt ihn eine Schlange.

20Ist nicht der Tag des HERRN Finsternis / und kein Licht, / Dunkel und ohne Glanz?

Überblick

Die Meinung trifft man bis heute an: Die einen sehen sich auf der Gewinnerseite und meinen schon genau zu wissen, dass sie das ewige Leben gepachtet haben, während auf die nicht zur eigenen Gruppe Gehörenden genau so sicher dei Hölle wartet. Mit diesem Denken hat es auch schon der Prophet Amos zu tun, und er nimmt es auif die anschaulichste Weise auseinander.

 

Einordnung in den Kontext

An die gewaltige Leichenlied-Komposition Am 5,1-17 schließen sich zwei kürzere, dafür um so eindringlichere Sprucheinheiten an (5,18-20 und 5,21-27), die sich formal wie inhaltlch deutlich unterscheiden. Während 5,18-20 ein Wehe-Ruf und damit eine Art weiteres Leichenlied aus dem Mund des Propheten ist, das sich gegen verblendete Selbstsicherheit richtet, stellt 5,21-27 eine Verurteilungsrede Gottes dar. Er erklärt, dass ihm unter den gegebenen Umstzänden der Kult zuwider ist. Aufgrund dieser Unterschiedlichkeit werden beide Abschnitte jeweils eigenständig behandelt.

 

Der "Tag des HERRN" (Verse 18.20)

Am 5,18-20 greift mit seinem markanten "Wehe" als Einstieg die ebenso bedrohliche wie schmerzerfüllte Tonlage der Leichenklage aus Am 5,1-17 auf, lässt aber in der Ausführung eine Art Gleichnis folgen. Angesprochen sind wohl die selben Unrechtstäter wie in Am 5,1-17, diesmal jedoch nicht hinsichtlich ihrer Taten, sondern ihrer Selbstsicherheit, dass sie am Gerichtstag Gottes mit "Freispruch" rechnen dürfen.

Es scheint, dass Am 5,18-20 der älteste Beleg im Alten Testament für die Vorstellung vom "Tag des HERRN" ist. Wo sie genau herkommt, wissen wir nicht. Amos setzt sie aber offensichtlich als bekannt voraus: Es gibt einen in der Zukunft liegenden, aber innergeschichtlichen Tag, der - so vermutlich die Auffassung - den Nichtisraeliten Verderben, aber dem erwählten Volk Heil bringt. Woran das genau ablesbar sein wird, bleibt völlig offen: Geht es um eine Art "Endkampf", also eine kriegerische Auseinandersetzung, oder eine Naturkatastrophe ...? "Licht" und "Glanz" sind auf jeden Fall die Bilder, die für die positive eigene Erwartungshaltung stehen. "Finsternis" und "Dunkelheit" werden das Los der "Anderen" (Feinde, Nicht-Israeliten, Ungläubige ...?) sein. Dabei verweist das Stichwort "Glanz" auf die Sphäre Gottes, (vgl. z.B. Hab 3,4.11; Ps 18,13.29), in die Israel hineingenommen werden möchte. Die Pointe lautet also: Die Unrechtstäter gehen wie selbstverständlich davon aus, dass es einen Zeitpukt geben wird, an dem sich Gott für sie entscheiden wird - trotz all ihrer Verbrechen. Die Zusammenstellung mit dem Folgetext 5,21-27 legt die Vermutung nahe, dass sie auf die Wirkkraft ihrer Opfer bauen, die Gott besänftigen sollen. Andere Texte  lassen eher an einen Erwählungsglauben denken: "Weil Gott uns einst erwählt hat, kann uns nichts passieren" (vgl. Am 3,1-2) .oder an eine vom Luxusleben völlig verblendete Wirklichkeitswahrnehmung (vgl. Am 6,1-14).

Wie auch immer - Amos zieht den so Denkenden diesen "Zahn". Gnadenlos wird aus dem ersehnten Heilstag bei ihm ein bedrohlicher Tag, dessen Eintreten man am liebsten auf den Sankt-Nimmerleins-Tag hinauswünschen würde. Und der kommt so gewiss, dass Amos als Ankündigungsform schon vorausgreifend dieTotenklage wählen kann.

Während V 18 die Unheilsbotschaft als Aussage formuliert, kleidet V 20 dieselbe Botschaft ironisisierend in eine Frage, Einen späten Nachklang findet dieser Vers in Jes 59,9,  wohl kaum zufällig in einem Kontext, der - nun für die nachexilische Epoche - das Ausbleiben von Recht und Gerechtigkeit (59,8.14) schildert.

 

Gebissen! (Vers 19)

Der so umrahmte Vers 19 beschreibt in einer Art Gleichnis, wie es wirklich um den "Tag des HERRN" steht. Es wird eine Szenerie entwickelt, in der der "Tag des HERRN" in seiner prinzipiellen Bedrohlichkeit mit wilden Tieren verglichen wird (zunächst mit dem schon aus Am 3,12 bekannten Löwen, dann mit dem damals ebenfalls zur Tierwelt Israels gehörigen Bären, auf dessen Gefährlichkeit die düstere Anekdote 2 Könige 2,23-24 anspielt). Die Flucht ins "Haus" lässt verschiedene Übertragungen zu: Glaubt man die Rettung vor den Gefahren des Tages des HERRN durch Opfer im "Haus ihres Gottes" (s. Am 2,8)? Oder hofft man einfach auf den Schutz der Erwählung durch die Zugehörigkeit zum "Haus Israel"? Diese Anrede ist ja gerade typisch für Am 5 - 6 (s. Am 5,1.4; 6,14). Das würde edeuten, man nähme "Zuflucht" zu Glaubensgrundsätzen, die aber mittlerweile losgelöst gesehen werden von aller Wirklichkeit und damit zur Ideologie geworden sind.Dass solche "Flucht" keine wirkliche Retung bedeutet, zeigt das böse Ende des Gleichnisses. Die "Mauer" des Hauses rettet nicht vor dem hinterhältigen, giftigen Schlangenbiss. Die Schlange verweist indirekt auf Am 6,12, wo von der Verkehrung des Rechts in "Gift" die Rede ist. Das hebräische Wort für Gift (rôsch) bedeutet sonst "Kopf" und könnte abgeleitet sein vom Gift im Kopf der Schlange. Dann aber besagt das Gleichnis: Das Haus Israel geht letztlich an der Vergiftung des Lebens zugrunde, für die es selbst verantwortlich ist: an seinem permanenten Rechtsbruch. Gott selbst überlässt sein Volk den Konsequenzen seines eigenen Handelns. Dass Gott im Spiel ist, darauf verweist die "Mauer", von der noch einmal in Am 7,7 die Rede sein wird, wo Gott selbst nicht als Verteidiger Israels, sondern als sein Angreifer auf einer Mauer steht. Diese schützt ncht mehr.

Auslegung

In diesem Text ist Alles voll tödlicher Ironie: die Anwendung der Gattung des Leichenliedes auf Lebende, die Umdeutung des Tages des HERRN zur finsteren Nacht für Israel, die Frage “Was nützt euch denn der Tag des HERRN?” wie schließlich auch das Gleichnis in V 19.

Vermutlich wählt der Prophet das Stilmittel der Ironie, weil der Panzer falscher Selbstsicherheit und Ideologie so schwer zu durchbrechen ist. Das scheinbar Sichere und Gewisse: "Uns kann nichts passieren. Am Ende stehen wir auf der Lichtseite, denn Gott ist mit uns!" wird in Frage und auf den Kopf gestellt: "Euch kann sehr wohl etwas passieren und Gott kann sich von euch zurückziehen bzw. vom Beschützer zum Angreifer verwandeln." Auf diesen Gedanken sind die Mächtigen offensichtlich von selbst nicht gekommen, und es ihnen zu sagen hat sich bis Amos auch noch keiner getraut. Zumindest wissen wir bbilisch von keinem "Vorläufer" des Amos mit vergleichbar hart Botschaft.

Amos warnt damit vor der Gefahr der Ideologisierung, die allem Glauben innewohnt: Grundsätzlich richtige Aussagen werden isoliert und gewinnen ein eigentümliches Eigenleben. Im konkreten Fall steht am Anfang der Glaube Israels, erwählt zu sein, also als erstes Volk von allen von Gott angesprochen zu sein mit dem Zuspruch von Liebe und Schutz. Damit ist aber verbunden, dieser Erwählung gemäß das Leben zu gestalten, also ebenfalls sich von Liebe zum und Schutz des Anderen leiten zu lassen. Man kann sagen: Der Adel der Erwählung verpflichtet. Hier ordnen sich die Weisungen Israels ein mit ihrer Bündelung in den Zehn Geboten. Genau diese zweite Seite der Medaille gerät aber allmählich in Vergessenheit. Die Zusage Gottes wird umgedeutet als Garantieerklärung, die in keinerlei Bezug zum eigenen Verhalten besteht. Der Glaube wird instrumentalisiert, führt zu einer unangreifbaren Selbstsicherheit, die religiös begründet wird. Zugleich werden die Riten, die zu diesem Glauben gehören (z. B. Opfer) zum Deckmäntelchen vor Gott für die Verbrechen im Alltag. So kann ein unbrechbarer Heilsoptimismus entstehen: Der Tag des HERRN bringt Licht.

Solche Ideologisierung des Glaubens, die sich ja keineswegs auf Israel oder die Zeit des Amos beschränkt, sondern bis heute und in allen Religionen als Gefahr besteht, enttarnt Amos und stellt sie als nutzlos dar: "Was nützt euch denn der Tag des HERRN" (Vers 18)?

Es ist erstaunlich, dass Israel und damit im Nachhinein auch die Kirche - einen solchen harten Text zur Überprüfung der eigenen Glaubenswirklichkeit in die eigene Heilige Schrift aufgenommen hat. Darin liegt eine große Chance!

Kunst etc.

Mühldorf am Inn — Münchner Tor (Nagelschmiedturm) — geschmiedete Schlange.JPG; CC BY 2.0 de
Mühldorf am Inn — Münchner Tor (Nagelschmiedturm) — geschmiedete Schlange.JPG; CC BY 2.0 de

Auch wenn auf dem Bild nur eine geschmiedete Schlange zu sehen ist, die an einer Mauer unterhalb der Jahreszahl 1821 entlangkriecht - sie erinnert mit Ihrem zum Biss bereiten Maul durchaus an das Bildwort von Am 5,19: Der im Haus Zuflucht suchende Mensch stützt sich, abgehetzt von der Flucht vor Löwe und Bär, mit der Hand gegen die Hauswand, schließt sich sicher wähnend  die Augen, atmet tief durch, und bemerkt nicht die tödliche Gefahr, die zu seinen Füßen lauert.