Das Buch Amos

Am 9,11-15: Heilszusage

11 An jenem Tag richte ich die zerfallene Hütte Davids wieder auf und bessere ihre Risse aus,

ich richte ihre Trümmer auf und stelle alles wieder her wie in den Tagen der Vorzeit,

12damit sie den Rest von Edom unterwerfen und alle Völker, über denen mein Name ausgerufen ist -

Spruch des HERRN, der das ausführt.

13Seht, es kommen Tage - Spruch des HERRN - ,

da folgt der Pflüger dem Schnitter auf dem Fuß und der Keltertreter dem Sämann;

da triefen die Berge von Wein und alle Hügel fließen über.

14Dann wende ich das Geschick meines Volkes Israel.

Sie bauen die verwüsteten Städte wieder auf und wohnen darin;

sie pflanzen Weinberge und trinken den Wein,

sie legen Gärten an und essen die Früchte.

15Und ich pflanze sie ein in ihren Boden

und nie mehr werden sie ausgerissen aus ihrem Boden, den ich ihnen gegeben habe,

und nie mehr werden sie ausgerissen aus ihrem Boden, den ich ihnen gegeben habe,

spricht der HERR, dein Gott.

Überblick

In zweifacher Form steigert das Finale des Amosbuches das in den vorangehenden Versen 7-10 nur angedeutete Heil für das Haus Jakob: Verse 11-12 verheißen das Wiedererblühen des zurzeit auf ein bescheidenes "Hüttendasein" zurückgeworfenen Volks, das dennoch die Erinnerung an das königliche Glanzgestirn David wachhält; die Verse 13-15 denken eher naturhaft-kosmisch und kündigen Ernteertrag im Überfluss an - eine Gegenvision zu den beiden Visionen in Amos 7,1-6, die das Ende von Ernte und Wachstum in der Natur ankündigten.

 

Einordnung in den Kontext

Nachdem Amos 9,7-10 zum ersten Mal innerhalb des Buches neben den Unheilsaussichten auch eine Heilsperspektive eröffnet hat, bauen die Verse 11-15 genau diese Heilsperspektive weiter aus und entwerfen zwei Hoffnung stiftende Bilder (s. o.). Dass dieses furiose Finale Aussagen des Amos ins Gegenteil umkehrt, setzt weder Amos ins Unrecht, noch banalisiert es den Text zu einem rhetorischen “happy end”, weil man das Buch nicht in düsteren Farben enden lassen wollte. Vielmehr ist der Schluss des Amosbuches Zeugnis der Hoffnung, dass auch das schlimmste Unheil nicht Gottes letztes Wort ist. Unwiderruflich heißt es bereits am Ende der Sintflut im Buch Genesis/1. Buch Mose:

"21 Ich werde den Erdboden wegen des Menschen nie mehr verfluchen; denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an. Ich werde niemals wieder alles Lebendige schlagen, wie ich es getan habe. 22 Niemals, so lange die Erde besteht, werden Aussaat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht aufhören" (Genesis 8,21-22).

Diese Sichtweise wird im Buch Jeremia bestätigt:

"25 So spricht der HERR: So gewiss ich meinen Bund mit dem Tag und mit der Nacht und die Ordnungen von Himmel und Erde festgesetzt habe, 26 so gewiss werde ich auch die Nachkommen Jakobs und meines Knechtes David nicht verwerfen; aus seinen Nachkommen werde ich die Herrscher über die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs nehmen. Denn ich werde ihr Geschick wenden und mich ihrer erbarmen" (Jeremia 33,25-26).

Und daran genau knüpft Amos 9,14 an, wenn der Vers einsetzt: "Dann wende ich das Geschick meines Volkes Israel." Der Schluss des Amosbuches will damit nicht die Worte des Amos ersetzen. Vielmehr haben die Unheilserfahrungen des Untergangs des Nordreichs (722 v. Chr.) und des Südreichs (587 v. Chr.) Amos ins Recht gesetzt, weshalb sein Wort ja auch als Heilige Schrift festgehalten wurde. Und dennoch gilt: Mit Amos endete das "Sprechen Gottes" nicht. Es gibt auch das Wort Gottes für die Zeit danach, und das ist eines der Hoffnung, die allerdings immer auch weiß, dass der Mensch die Grundlagen der Hoffnung selbst verspielen kann.

 

Vers 11

Die Einleitungsformel “an jenem Tag” stellt einen Bezug zum Vortext her. So werden die Verse 11-12 auf jenes hörbereite und umkehrwillige “Haus Jakobs” (Vers 8) gemünzt, das die Botschaft des Amos ernst nimmt und sie nicht mit den Worten des vorangehenden Verses 9,10b beiseite schiebt: "Das Unheil erreicht uns nicht, es holt uns nicht ein."

Das erste Bildwort, das auffällt, ist die "Hütte Davids". Das ist nur noch ein sehr bescheidenes Überbleibsel der Rede vom "Haus Davids", mit der einst der Prophet Natan dem König David eine großartige Zukunft mit beständiger Dynastie und einem gesicherten Königreich in Aussicht stellen konnte (vgl. 2 Samuel 7,14). Bei "Hütte Davids" denkt niemand mehr an Repräsentationsbauten wie Palast und Tempel, ja nicht einmal an Königtum. "Hütte" erinnert auch weniger an die "Laubhütten" (Mehrzahl!), die einem der drei großen jüdischen Wallfahrtsfeste ihren Namen gegeben haben und zumindest ursprünglich wohl die Sonnenunterstände für Erntearbeiter auf dem Feld meinen (vgl. auch Jona 4,5). Im Blick sein dürfte eher ein älteres Prophetenwort. Darin beschreibt Jesaja das im Jahr 732 v. Chr. von den Assyrern durch Krieg schon arg dezimierte Südreich Juda mit den Worten:

"Die Tochter Zion [das ist das übriggebliebene Jerusalem mit Umland] ist übrig gelassen wie eine Hütte im Weinberg, wie ein Schutzdach für die Nacht im Gurkenfeld, wie eine belagerte Stadt" (Jesaja 1,8).

Und diese "Hütte" liegt mittlerweile auch noch in "Trümmern" (Vers 11), denn die Verse 11-12 blicken schon zurück auf die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier unter König Nebukadnezzar im Jahr 587 v. Chr. Die "Hütte Davids" ist das "vernichtete", aber eben "nicht völlig vernichtete" "Haus Jakobs" (Vers 8).

Das Bild vom "Bauwerk" legte sich in einer Trümmerlandschaft nahe, will aber nicht einfach bezogen werden auf den Wiederaufbau von Gebäuden aus Stein. Der Wiederaufbau der "Hütte Davids" meint wohl eher das Wiederaufblühen des Volkes. Garant dafür ist die Treue Gottes zu seinem Wort, für die David steht. Ihm hatte Gott einst durch Natan seine prinzipielle Zuwendung zugesprochen, und zwar als Person und Anfang einer Generationenkette (vgl. 2 Samuel 7,1-17). Offensichtlich hegt der Schluss des Amosbuches - wie auch andere Texte des Alten Testaments sowie außerbiblische Texte des Judentums es tun (z. B. aus der "Gemeinde" von Qumran am Toten Meer aus der Zeit des 2. Jh. v. Chr. - 1. Jh. n. Chr.) - Hoffnungen und Erwartungen, die an die Person Davids und seine Nachfahren anknüpfen. Über die konkreten Formen des Wiederaufblühens Israels, dieser darniederliegenden "Hütte Davids", lassen sich die Verse nicht aus. Denkbar wären z. B. ein Königtum mit einem König aus Davids Geschlecht; ein nicht speziell monarchisch verfasstes Volk mit einem Heilsbringer ("Messias") aus dem Haus Davids; eine von einem priesterlichen Anführer geleitete Tempelgemeinde.

Schließlich greift Vers 11 versteckt zurück auf das Leichenlied Amos 5,2. Denn die "Aufrichtung" der "zerfallenen" (wörtlich: "gefallenen") Hütte Davids" ist Gottes Antwort auf die Klage des Amos: "Gefallen ist ... die Jungfrau Israel ... niemand richtet sie auf" (Amos 5,2). Amos 9,11 versteht sich damit offensichtlich als hoffnungsvolles Gegenwort zum Untergangslied des Amos, das seine Berechtigung nicht nur im Blick auf das Nordreich, sondern auch auf das Südreich mittlerweile erwiesen hat.

 

Vers 12

Von der Bescheidenheit des Verses 11 sticht der eher auf rücksichtlose Härte und Stärke setzende Vers 12 ab. Die Einheitsübersetzung spricht von "unterwerfen". Etwas neutraler könnte man übersetzen "in Besitz nehmen". Aber das ändert nichts daran, dass hier offensichtlich Vormachtsphantasien herrschen, die heutzutage wenig anziehend anmuten. Man kommt nicht umhin, festzustellen, dass auch die Heilige Schrift Passagen mit wenig "heiligmäßigen" Vergeltungsvorstellungen kennt. Es sind ins Wort gefasste Bewältigungen von Ohnmacht und Erniedrigung. Im konkreten Fall wird dies durch die Nennung Edoms deutlich. Das südjordanische Reich gilt als Bündnispartner der Babylonier, der in Kriegsgewinnlermanier seinen ganzen Spott über das untergegangene Juda ausließ. Dass da die Hoffnung aufkeimte, dass Gott dieses Edom strafe, ist nachvollziehbar. Es gehört aber entscheidend dazu: Das Wort gegen Edom ist nicht der Aufruf, selbst zur Waffe zu greifen, sondern auf ein wirklich göttliches Handeln zu hoffen. Er allein kann die Voraussetzungen schaffen, dass die Bewohner der "Hütte Davids" - der Vers spricht allgemein von "sie" - überhaupt handlungsfähig werden. Deshalb formuliert Vers 11 ausschließlich im "Ich" Gottes.

Trotz allem bleibt Vers 12 schwierig, zumal er nicht nur von der Einnahme des "Rests Edoms" spricht, sondern sogar "alle(r) Völker, über denen mein Name ausgerufen ist". Durch die vorangehende Passage, die Kuschiten, Philister und Aramäer ausdrücklich als  Gott gehörende Völker erwähnt hat (s. die Kommentierung von Amos 9, 7), wird man zunächst einmal an sie denken.

Über weitere mögliche Hintergründe von Vers 12, die das Verständnis zumindest erleichtern können, als auch zur überraschenden Lösung der griechischen Übersetzung s. unter "Auslegung".

 

Vers 13

Ein sehr viel weniger politisches, eher paradiesisches und friedliches Heilsbild bieten die abschließenden Verse des Amosbuches. 

Vers 13 macht die "schlaraffenlandähnlichen" Zustände, die in Aussicht gestellt werden, deutlich, indem der Agrarkalender durcheinandergewirbelt wird: Dem Pflügen (Herbst) folgt nicht das Säen, sondern direkt die Ernte (eigentlich im Sommer), die herbstliche Weinernte hingegen folgt direkt der Aussaat, die eigentlich in der winterlichen Regenzeit erfolgt. Ist es dabei Zufall oder ein bewusstes Wortspiel, dass der "Traubentreter" (hebräisch: dorēḵ ʽanābîm, Einheitsübersetzung: "Keltertreter") lautlich fast  identisch ist mit dem "Weg der Elenden" (hebräisch: däräḵ ʽanābîm) in Amos 2,7, der gewaltsam vom Ort der ordentlichen Rechtsprechung "abgebogen" wird (die Einheitsübersetzung schreibt zum leichteren Verständnis an dieser Stelle: "das Recht der Schwachen beugen")? Eine lautmalerische Möglichkeit, Elend und Freude einander gegenüberzustellen.

Auf jeden Fall deutet Vers 13 die überbordende Fülle, aber auch das dahinter stehende Handeln Gottes an, der - in der Sicht der Bibel - allein der Herr aller zeitlichen Ordnung ist und sie somit auch als einziger umzustellen vermag. Und er ist der, der Elend in Jubel verwandeln kann.

 

Verse 14-15

In den folgenden Versen 14-15 fällt besonders die intensive Bezugnahme auf vorangehende, zumindest teilweise mit Amos selbst zu verbindenden Worten auf, die nun aus Unheilsrede in Heilsrede umgewandelt werden.

Man vergleiche nur einmal

Amos 9,14: "Sie bauen die verwüsteten Städte wieder auf und wohnen darin; sie pflanzen Weinberge und trinken den Wein, sie legen Gärten an und essen die Früchte.

mit

Amos 5,11: "Weil ihr vom Hilflosen Pachtgeld annehmt und sein Getreide mit Steuern belegt, darum baut ihr Häuser aus behauenen Steinen - und wohnt nicht darin, legt ihr euch (wörtlich: ihr pflanzt) prächtige Weinberge an - und werdet den Wein nicht trinken."

Amos 9,15 hingegen greift über ein hebräisches Wortspiel eindeutig zurück auf die Totenklage Amos 5,2. Nach Ihr liegt die "Jungfrau Israel ... zerschmettert (hebräisch: niṭṭeschā) auf ihrem Boden". Die Heilszusage in Amos 9,15 ist in großer lautlicher Ähnlichkeit gebildet: "nie mehr werden sie ausgerissen (hebräisch: yinnāteschû) aus ihrem Boden".

Schließlich kann man noch als Kontrastfolie zu Amos 9,13-15 das Unheilsmotto aus Amos 1,2 anführen:

"Da welken die Auen der Hirten und der Gipfel des Karmel verdorrt.", zumal "Karmel" nicht nur ein Name ist, sondern zugleich auch "Weinberg" bedeutet.

Der vielfache Rückgriff auf das Amosbuch und die gezielte Umkehrung eines Drohwortes (Amos 5,11) in eine Heilszusage, eines Totenliedes (Amos 5,2) in eine Art Jubellied und eines düsteren Anfangsmottos (Amos 1,2) in ein überbordendes Naturbild lassen erkennen: Wie im Finale einer Symphonie, das am Ende noch einmal viele Themen der vorangegangenen Sätze anklingen lässt, oft aus dunklem Moll in strahlendes Dur gewandelt, so erhält auch das Amosbuch mit den Versen 13-15 ein leuchtendes Finale.

Insofern es als Gotteswort ausgewiesen ist, zeugt es von einem tiefen Glauben, der auf die Möglichkeiten Gottes und nicht nur der Menschen setzt. Allein dieser Glaube gestattet das Aufreißen eines Heilshorizontes in wenig heilvoller Zeit.

Theologisch wird als Hintergrund der Bundesgedanke erkennbar, der ja schon in Amos 9,7 anklang. Er schlägt sich nieder in der bereits im Kommentar zu diesem Vers zitierten sogenannten "Bundesformel", die verschiedene Varianten kennt:

- "Er hat dir erklärt: Er will dein Gott werden ... Du hast ihm erklärt: Du möchtest das Volk werden, das ihm persönlich gehört" (Deuteronomium 26,17-18)

- "... ich bin euer Gott und ihr seid mein Volk." (Levitikus 26,12).

Die beiden fettgedruckten Kernelemente dieser Formel rahmen in umgekehrter Reihenfolge die Verse Amos 9,14-15:

"Dann wende ich das Geschick meines Volkes Israel ... ... spricht der HERR, dein Gott."

Diesem Gott des Bundes ist zu trauen und auf ihn ist zu hoffen. Er gibt nicht sparsam und nach dem Prinzip von Kosten und Nutzen, sondern in überbordender Großzügigkeit.

Das Bild des letzten Verses ist mit seiner Gegenüberstellung von "ausreißen" und "einpflanzen" jeremianisch geprägt (vgl. bereits die Berufung Jeremias in Jeremia 1,10: "Sieh her! Am heutigen Tag setze ich dich über Völker und Reiche; du sollst ausreißen und niederreißen, vernichten und zerstören, aufbauen und einpflanzen. ", aber auch Jer 12,14; 18,7.9; 24,6 u.ö). Verbunden wird aber diese fast formelhafte Sprache mit einer Art Leitwort, die gut zum Landwirt Amos passt, den das Buch vor Augen führen will: "Erdboden" (hebräisch: ʼadāmāh):

"Und ich pflanze sie ein in ihren Boden und nie mehr werden sie ausgerissen aus ihrem Boden, den ich ihnen gegeben habe,"

Achtmal ist der Begriff "Erdboden" vorher bereits vorgekommen. Dabei fallen vor allem die Belege ins Gewicht, in denen es darum geht, dass Gott das sündige Israel bzw. Amazja als seinen Vertreter "von seinem Erdboden" entfernen will (vgl. Amos 7,11.17; 9,8). Auch das Klagelied Am 5,2 von der "auf ihrem Erdboden" tot hingestreckten "Jungfrau Israel" gehört in diesen Zusammenhang. Dem Verlust des Bodens als Lebensquelle für Nahrung und Wasser, als Garantieort für Freiheit (im Sinne des "eigenen Grund und Bodens") wie auch als "heiliger Boden" bzw. "reiner Boden" (vgl. Amos 7,17: "du selbst stirbst auf unreinem Boden") im Sinne der  Gottesgegenwart wird die dauerhafte Gabe dieses Bodens gegenübergestellt. Solche Hoffnung konnte besonders in den eher friedlichen Zeiten der Perser aufkommen, nachdem diese die Babylonier besiegt hatten (539 v. Chr.) und die Exulanten, wenn sie wollten, aus Babylon nach Jerusalem zurückkehren ließen. Die Perserzeit ist damit nicht die Erfüllung dieser Hoffnung, eher der Anlass ihrer Formulierung. Es gilt aber weiterhin, bis heute und darüber hinaus: "Seht, es kommen Tage ..." (Amos 9,13).

Auslegung

 Der "Rest Edoms" (Vers 12)

Viele Ausleger des Verses merken zu Recht an, dass der Ausdruck "Rest Edoms" innerhalb des Alten Testaments nur an dieser einen Stelle Amos 9,12 belegt ist. Es liegt nahe, ihn auf die Reste eines bereits zerstörten Edoms zu beziehen. Auf eine solche Zerstörung weist aber weder biblisch noch archäologisch in den in Frage kommenden Zeiträumen etwas hin. Aufschlussreicher ist es daher, innerhalb des Buches Amos zu bleiben und einen Blick zu werfen auf die Rede von "Edom" einerseits und die Rede vom "Rest" (hebräisch: scheʼērît) andererseits.

Edom ist kein "unbeschriebenes Blatt". Es begegnet fast beiläufig in der zweiten Fremdvölkerstrophe Amos 1,6-8:

"6 So spricht der HERR: Wegen der drei Verbrechen von Gaza und wegen der vier nehme ich es nicht zurück: Weil sie ganze Gebiete entvölkerten, um die Verschleppten an Edom auszuliefern, 7 darum schicke ich Feuer in Gazas Mauern; es frisst seine Paläste. 8 Ich vernichte den Herrscher von Aschdod und den Zepterträger von Aschkelon. Ich wende meine Hand gegen Ekron und der Rest der Philister wird verschwinden, spricht GOTT, der Herr."

und als eigener "Ansprechpartner" in der vierten Fremdvölkerstrophe Amos 1,11-12:

"11 So spricht der HERR: Wegen der drei Verbrechen von Edom und wegen der vier nehme ich es nicht zurück: Weil Edom seinen Bruder mit dem Schwert verfolgte und jedes Mitleid unterdrückte, weil es unversöhnlich festhielt an seinem Zorn und nie abließ von seinem Groll, 12 darum schicke ich Feuer gegen Teman; es frisst Bozras Paläste."

In der Philisterstrophe begegnet zugleich auch zum ersten Mal der Begriff "Rest". Dies ist der erste von insgesamt drei Belegen innerhalb des Amosbuches. Die beiden anderen sind:

Amos 5,15: "Hasst das Böse, liebt das Gute und bringt im Tor das Recht zur Geltung! Vielleicht ist der HERR, der Gott der Heerscharen, dem Rest Josefs dann gnädig."

Amos 9,12: "...damit sie den Rest von Edom unterwerfen und alle Völker, über denen mein Name ausgerufen ist - Spruch des HERRN, der das ausführt.

Stimmt die von einigen Exegeten (Walter Dietrich; Georg Steins) vertretene und hier übernommene These, dass die drei Strophen gegen die Philister, Phönizier (Tyrus) und Edomiter gerichteten Strophen sich einer einzigen Überarbeitungsschicht aus exilisch-nachexilischer Zeit verdanken, ergibt sich nun eine plausible Erklärung des Verses Amos 9,12:

Er ist nicht nur Ausdruck von Ohnmacht und Wut gegenüber dem "Kriegsgewinnler" Edom, das sich zu seinem eigenen Vorteil auf die Seite des Siegers Babylon schlug und gegen das untergegangene Reich Juda agitierte. Offensichtlich gab es eine anti-judäische Koalition, zu der neben Edom auch die Philister und Phönizier gehörten, wobei sich das Duo Edom - Philister besonders im biblischen Gedächtnis eingeschrieben hat (vgl. ihre gemeinsame Nennung in Ezechiel 16,57). Sie sind als Feinde Judas so austauschbar, dass man beiden die Minimierung auf einen armseligen "Rest" wünscht (Amos 1,8; 9,12), der dann auch noch entweder im Gebiet fremder Länder aufgehen oder dem eigenen Land einverleibt werden soll. Dies wäre die Entsprechungsstrafe dafür, dass diese Völker mit dem "Rest Josefs" (Amos 5,15), also dem auf ein Minimum reduzierten Israel/Juda, keinerlei "Mitleid" (s. Amos 1,11) hatten. "Gnade" kann dieser "Rest Josefs" in Gestalt der Wiederaufrichtung der "Hütte Davids" - ein anderes Bildwort für das zerstörte Juda - nur von Gott selbst erwarten. Für die Unterdrücker soll hingegen rücksichtlose Härte gelten.

Diese schwer verdauliche Theologie findet sich noch öfters, ganz besonders in der direkten Umgebung des Amosbuches. Zugleich wird ihr aber auch massiv widersprochen.

So beherrscht das Edom-Thema das auf Amos folgende ganze Prophetenbüchlein Obadja, das sich mit seinen 21 Versen wie eine Abrechnung mit diesem Staat liest. Dabei wird der Kreis wie in Am 9,12 größer gezogen, wenn es z. B. in Vers 16 heißt: "... so werden alle Völker ... werden, als seien sie niemals gewesen." Und auch von "Inbesitznahme" (hebräisch: yārasch wie in Amos 9,12: "unterwerfen/einnehmen") der Gebiete der Philister und der auf den Jakob-Bruder Esau zurückgeführten Edomiter ist in Vers 19 die Rede.

Nicht viel anders klingt es, wenn es im dem Amosbuch vorangehenden Buch Joël heißt:

"19 Ägypten wird zur Wüste, Edom wird zur verödeten Steppe, wegen der Gewalttat an den Kindern Judas, in deren Land sie unschuldiges Blut vergossen" (Joël 4,19).

Möglicherweise spricht in Vers 12 also jemand, der die Bücher Joel, Amos und Obadja als eine große Einheit verstanden wissen will und Vertreter einer eher Israel-zentrierten Sicht ist. Doch diese Sicht wird aufgesprengt durch die nächste Umrahmung:

Vor Joel steht das Buch Hosea, das sich ganz auf die Schuld Israels und die Hoffnung auf dessen Umkehr konzentriert, also ohne Gerichtsworte gegen fremde Völker auskommt. Im Gegenteil: Der vorletzte Vers dieses Buches verwendet in seiner Ansprache an "Ephraim" (der Name für das Nordreich Israel) in gewagter Weise eine Formulierung, die absolut positiv gemeint ist und dennoch lautgleich mit dem hebräischen Namen des Erzfeindes Assyrien (ʼaššûr) ist: "Ich ... achte auf ihn" - hebräisch: ʼašûrännû.

"Ich, ja, ich habe ihm geantwortet und achte auf ihn (waʼašûrännû): Ich bin wie der grünende Wacholder, an mir findest du reiche Frucht" (Hos 14,9).

Dieses Buchende mit positiver Erwähnung Assyriens eröffnet einen Bogen, der zum Buch Jona führt, das auf Obadja folgt.

Dieses rechnet sogar mit einer Umkehr des Erzfeindes Assyrien und der Vergebung Gottes. Durch diese große Rahmung wird ein Lesehinweis gegeben, den schwierigen Vers Amos 9,12 und auch die schwierigen Bücher Joel und Obadja nicht zu verabsolutieren, sondern zu hoffen, dass aus den "Völkern, "über denen mein Name ausgerufen ist", solche werden, die den Namen des Herrn anrufen. Dann wird auch von ihnen gelten, was ebenfalls im Buch Joel angekündigt wird: "Und es wird geschehen: Jeder, der den Namen des HERRN anruft, wird gerettet" (Joël 3,5).

Übrigens hat sich schon die griechische Übersetzung des Alten Testaments aus dem 3.- 1. Jh. n. Chr. (die sogenannte Septuaginta) offensichtlich mit Vers 12 schwer getan und bietet eine vom uns bekannten hebräischen Text abweichende Wiedergabe. Danach sagt Gott die Wiederaufstellung der "Hütte Davids" mit der Folge zu, dass "die Übriggebliebenen der Menschen und alle Völker, über denen mein Name ausgerufen ist, sie (die Hütte Davids) aufsuchen werden, spricht der Herr, der dies macht" (Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, Stuttgart 2010).

Damit interpretiert die Septuaginta den Vers im Sinne einer in der Zukunft einsetzenden Völkerwallfahrt zum Zion, d. h. nach Jerusalem. Dieses Motiv findet sich z. B. ausdrücklich in Jesaja 66,18.23 ("18 Ich ... komme, um alle Nationen und Sprachen zu versammeln, und sie werden kommen und meine Herrlichkeit sehen. ... 23 Und es wird geschehen, dass Neumond für Neumond und Sabbat für Sabbat alles Fleisch kommt, um sich vor mir niederzuwerfen, spricht der HERR."), Jesaja 2,2-3 ("Am Ende der Tage wird es geschehen: Der Berg des Hauses des HERRN steht fest gegründet als höchster der Berge; er überragt alle Hügel. Zu ihm strömen alle Nationen. 3 Viele Völker gehen und sagen: Auf, wir ziehen hinauf zum Berg des HERRN und zum Haus des Gottes Jakobs.") sowie 2 Chronik 36,23b: "Jeder unter euch, der zu seinem Volk gehört - der HERR, sein Gott, sei mit ihm - , der soll hinaufziehen."

Genau diese oben genannte Übersetzung hat auch Eingang in das Neue Testament gefunden, nämlich in die Apostelgeschichte. Dazu s. weiter unter "Kontext".

 

"... alle Völker, über denen mein Name ausgerufen ist" (Vers 12)

Vergleicht man Vers 12 mit anderen Texten des Alten Testaments, fällt auf, dass die ein Hoheits- und Besitzrecht anzeigende Erwählungsformel “den Namen ausrüfen über”, die sich ursprünglich auf den Tempel (vgl. z. B. Jeremia 7,11), die Stadt Jerusalem (vgl. z. B. Jeremia 25,29) oder das Volk Israel (vgl. z. B. Deuteronomium 28,10) bezog, hier nun auf viele Völker ausgedehnt wird. Das für die Zukunft (V 11: “an jenem Tag”) erwartete Geschehen will also Erweis der universalen Herrschaft Gottes sein. Dies bestätigt die Schlussaussage von JHWH als dem, “der dies tut”. Auf Grund ihrer partizipialen Formulierung (wörtlich: "der dies Tuende") möchte man in Anlehnung an die Hymnenfragmente des Amosbuches an dieser Stelle fast einen Hymnus heraushören: “Der dies Tuende - JHWH ist sein Name” (etwa in Entsprechung zu Am 5,8, der mit demselben Partizip beginnt). Auf jeden Fall eröffnet diese Preisung JHWHs allein ihm einen Handlungsspielraum. Die neue Hoffnung nach den Unheilsankündigungen eines Amos ist allerdings die, dass es wieder ein Handeln zu Gunsten Israels sein wird. 

 

Vers 14: "das Geschick wenden"

Diese Formel “das Geschick wenden” (wörtl.: “die Wendung wenden”), die insgesamt 26mal im Alten Testament vorkommt (davon 16mal in den exilischen Prophetenbüchern Jeremia und Ezechiel), meint nicht einfachhin die Wiederherstellung früherer Verhältnisse. 

Schon ein erster Durchblick durch die Belege lässt erkennen: Der Rückführung ins Land und der Gewährung von Sicherheit entspricht auf Seiten des Volkes ein Gottesverhältnis, das in der Zeit der Monarchie niemals als wirklich gegeben vorausgesetzt ist, sondern immer nur als Maßgabe im Raum steht. Am deutlichsten wird dies aus Jeremia 29,12-14:

"12Ihr werdet mich anrufen, ihr werdet kommen und zu mir beten und ich werde euch erhören. 13 Ihr werdet mich suchen und ihr werdet mich finden, wenn ihr nach mir fragt von ganzem Herzen. 14 Und ich lasse mich von euch finden - Spruch des HERRN - und ich wende euer Geschick ...."

Ähnlich verhält es sich mit Zefanja 3,20, dessen Adressat ein “demütig und arm” gewordenes Volk ohne Lüge und Hochmut ist (3,11-13) oder mit Ezechiel 39,25. Hier spricht die Fortsetzung vom Wandel von schändlicher Untreue zur Gotteserkenntnis. Jeremia 30,18ff endlich ruft in Vers 22 die Bundesformel (“Ihr werdet mein Volk sein, und ich werde euer Gott sein”) in Erinnerung: Die Wendung des Geschicks (V18) hängt also daran, dass JHWH wirklich der Gott Israels ist. Diesen Zusammenhang zwischen Wendung des Geschicks und Wende im eigenen Verhalten zu Gott zu erkennen bzw. aufzuzeigen, wird geradezu zum Kriterium wahrer Prophetie: “Deine Propheten schauten dir Lug und Trug. Deine Schuld haben sie nicht aufgedeckt, um dein Schicksal zu wenden. Sie schauten dir als Prophetenworte nur Trug und Verführung” (Klagelieder 2,14).

Dass es bei der Formel nicht grundsätzlich nur um die Wiederherstellung der früheren Verhältnisse geht, zeigen schließlich auch auf je eigene Weise Ezechiel 29,14-16 und Ijob 42,10. Im ersten Fall meint die "Wendung des Geschicks" - diesmal auf Ägypten bezogen - die Zurückstutzung des mächtigen Pharaonenreiches auf das Maß seiner bescheidenen Anfänge, das Überheblichkeit ausschließt und dafür Raum für Gotteserkenntnis gibt. Im zweiten Fall bedeutet die Wende eine Steigerung gegenüber der Ausgangssituation.

Auf diesem Hintergrund ergibt sich für das Verständnis von Amos 9,14-15.: Angekündigt wird eine Wende zum Heil, das aber zugleich Bescheidenheit einschließt und voraussetzt, dass Israel sich wirklich als das erweist, was es ist: Gottes Volk. Die betonte Rede von “mein(em) Volk Israel” am Beginn von V 14 und die Schlussworte des Textabschnitts: “spricht JHWH, dein Gott” (V 15) lesen sich wie eine aus der Bundesformel gewonnene Klammer, die das rechte Verständnis der Heilsankündigung in Form der großen Wende sichert: Sie ist allein das Werk JHWHs, der sich darin als “dein Gott” erweist, und sie gilt einem Empfänger, das zu “meinem Volk Israel” geworden ist.

Kunst etc.

Shuk ha-Karmel, Tel Aviv, Israel; Photo: Eugenie Vasilyeff , 28.8.2014, CC BY 2.0
Shuk ha-Karmel, Tel Aviv, Israel; Photo: Eugenie Vasilyeff , 28.8.2014, CC BY 2.0

Shuk oder Suk - dieses Wort bezeichnet im Orient den typischen Markt. Enge Gassen führen durch hunderte Buden, die ihre heute meist metallenen Türen geöffnet haben und in den Auslagen zeigen, was zum Verkauf ansteht. Besonder üppig sieht es immer in den Gemüse- und Gewürzgassen aus. Das Bild zeigt eine solche Gemüsegasse im Suk von Tel Aviv, der seinen Namen nach dem nahe Haifa gelegenen Karmel-Gebirge trägt - derselbe Karmel (von hebräisch: käräm-ʼēl "Weinberg Gottes"), der im Stichwort "Weinberg" ( hebräisch: käräm) als Bild endzeitlicher Üppigkeit auch im Amosbuch genannt wird (Amos 9,14: "sie pflanzen Weinberge und trinken den Wein") und derselbe Karmel, der bis heute auch eine der großen Weingegenden Israels ist: 

Aber auch das reichhaltigste Martkangebot auf dem Shuk-ha-Karmel ist noch nicht die Erfüllung dessen, was das Buch Amos am Ende verheißt. Aber als ein vorausverweisendes Bild für den Gott des Lebens, der eine Fülle in Aussicht stellt, die jedes Maß übersteigt, darf die prachtvolle Fülle dieses Marktes schon verstanden werden.