Das Buch Amos

Am 5, 21-27: Worte gegen den Kult

21Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie / und kann eure Feiern nicht riechen.

22Wenn ihr mir Brandopfer darbringt, / ich habe kein Gefallen an euren Gaben / und eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen.

23Weg mit dem Lärm deiner Lieder! / Dein Harfenspiel will ich nicht hören,

24sondern das Recht ströme wie Wasser, / die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.

25Habt ihr mir etwa Schlachtopfer und Gaben dargebracht / während der vierzig Jahre in der Wüste, ihr vom Haus Israel?

26Ihr werdet den Sakkut als euren König vor euch hertragen müssen / und den Kewan, euren Sterngott, / eure Götter, die ihr euch selber gemacht habt.

27Ich will euch in die Gebiete jenseits von Damaskus verbannen, / spricht der HERR; / Gott der Heerscharen ist sein Name.

Überblick

Eine regelrechte Hasstirade lässt Amos als Wort Gottes los - und zwar gegen das, was für Israel als das Wichtigste galt: Gottesdienst und Opfer. Wer gegen etwas ist, sollte allerdings auch sagen, wofür er ist. Auch hier bleibt Amos keine Antwort schuldig.

 

Einordnung in den Zusammenhang

Die Verse 21-27 schließen das Kapitel 5 des Amosbuches bündig ab. Nachdem der Prophet in der letzten Sprucheinheit (Am 5,18-20) eine Art Frage-Antwort-Spiel mit den Mächtigen des Volkes getrieben hat mit dem Ergebnis, sie hätten nichts Gutes zu erwarten ("Finsternis und kein Licht": Vers 18), wird nun als ausdrückliches Gotteswort ("Ich" [Vers 21] ... "...spricht der HERR" [Vers 28]) die Begründung nachgereicht. In ihrer Gegenüberstellung von Opfer aller Arten und ausbleibender Gerechtigkeit greift diese Begründung auf die zwei zentralen Vorwürfe der Einheit Am 5,1-16 zurück: Das Thema Gerechtigkeit wurde in Vers 7 markant eingeführt: Man tritt selbige mit Füßen. Das Thema "Opfer" war zumindest indirekt mit der Nennung der "klassischen" Kult- und damit Opferstätten Bet-El, Gilgal und Beerscheba angesprochen worden - und zwar mit ironischem, verächtlichem Unterton (s. die entsprechende Auslegung zu Am 5,4-6.). Auf solch subtile Anspielungen wird am Ende des Kapitels verzichtet. Schonungslos und ohne Rücksicht auf Konventionen bricht Gott gegen die sozialen Tabu-Brecher die gewohnten religiösen Tabus.1

 

Verse 21-23: Gott stinkt es

Es beginnt sogleich mit einem Paukenschlag geballter Emotion: “Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie.” Hier wird nicht etwas, sondern alles falsch gemacht: Der Gottesdienst als kultisches Geschehen "stinkt" dem, dem er eigentlich gelten soll, gewaltig in der Nase. Wenn Opferkult, und das ist zumindest eine Dimension, eine Einladung an die Gottheit zu einem gemeinsamen Mahl mit den Opfernden ist, dann gilt hier: Der Gast, Gott selbst, wendet sich mit Grausen. Die heilsgeschichtlich aufgeladenen "Feste" und gottesdienstlichen Zusammenkünfte (man denke z. B. an das Pessachfest, das jährlich an die göttliche Herausführung des Volkes aus Ägypten erinnert) haben mit Gott nichts mehr zu tun. Er spricht nicht von "meinen", sondern von "euren" Festen und Feiern. Die Auflistung verschiedener Opferarten verweisen auf das "Tagesgeschäft", also die täglich dargebrachten Opfer am Tempel. Sollten die Menschen dabei meinen: "Je fetter das Opfer, desto gnädiger der Gott" - immerhin galt Fett als kostbare Gabe, denn es setzte kosteninensive Mast voraus -, so haben sie sich verrechnet. Auch das prächtigste Fettstück ist für Gott keine Augenweide. Und ebensowenig ist die Musik ein Hörgenuss in seinen Ohren.2 Indem die drei Sinne des Riechens, Sehens und Hörens angesprochen werden, wird deutlich: Es geht nicht um Korrekturen im Opferbetrieb: um andere Opfer, andere Musik, andere Feiertage. Auch lautet der Vorwurf nicht, wie es beim Kollegen und Zeitgenossen des Amos, dem Propheten Hosea, der Fall ist, auf Fremdgötterverehrung. Nein, Amos ist klar: Die Leute meinen tatsächlich JHWH, den Gott Israels, mit ihren Opfern, und verfehlen ihn dennoch total. Genauer: Ihr Kult erreicht Gott überhaupt nicht mehr und ist daher völlig wirkungslos. Er führt weder dazu, dass Gott "Gefallen" an den Gaben und letztlich an den Gebern findet,3 noch bewirkt er Vergebung - etwa durch den "Wohlgeruch" von Opfern, von dem man glaubte, dass er Gott besänftige und zur Vergebung von Sünden bewege (vgl. Genesis 8,21). 

 

Vers 24: Das Zentrum: Recht und Gerechtigkeit

Der Grund für diesen wirkungslosen Kult sind nicht die Opfer, sondern die Opfernden. Sie hindern den freien Fluss von Recht und Gerechtigkeit bzw. sind wie der rissige Boden eines Wadis, in dem das Wasser langsam aber sicher versickert. Die "Einzelverstöße" gegen Recht und Gerechtigkeit (zum Begriffspaar s. die Auslegung von Am 5,7) summieren sich und sind bereits bislang aus den Passagen Am 2,6-8; 3,9-12; 4,1-3 und 5,7-12 ablesbar: Der Mensch wrd zur Ware degradiert, Abhängigkeiten werden geschaffen und ausgenutzt, Schutzrechte für die Armen werden "locker" übergangen, (Kind-)Frauen werden missbraucht, auch Gewalttätigkeit scheint kein Problem, Instrumentalisierung des Rechts zugunsten der Rechtsbrecher einschließlich Bestechung und Prozessverhinderung sind an der Tagesordnung. Triebfedern sind erkennbar reines Machtstreben und pure Luxussucht. Diese Anhäufung von Unrecht lässt sich durch keinen noch so pompösen, großzügigen oder korrekten Kult übertünchen, "ausgleichen" oder "wiedergutmachen". Hier liegt ein grundsätzliches Missverstädnis von Gottesdienst vor: Er ist keine "Ersatzleistung" für das Versagen im Alltag, sondern er soll eine den Alltag prägende Gottesbeziehung noch einmal in eine ausdrückliche, feierliche und vergewissernde Form bringen. Dem Gott, der sozusagen im Alltag "still und unerkannt", aber doch lebenserhaltend wie das Grundwasser mitgeht, sollen ausdrückliche Zeiten und ausdrückliche Handlungen der Zuwendung gewidmet werden. Davon hat nicht Gott etwas, sondern vor allem der Mensch. Wenn aber dieser Gott im Alltag ausgeklammert wird als Störfaktor für die eigenen Absichten, Geschäftsinteressen und Lustbefriedigungen, dann gibt es auch im Gottesdienst nichts, was ausdrücklich gemacht werden könnte. Die Entsprechung der Missachtung Gottes im Alltag durch die Menschen ist für Amos die Missachtung der menschlichen Kulthandlungen durch Gott im Gottesdienst: "Ich hasse ... ich verabscheue" (Vers 21). Die Botschaft des Gotteswortes ist hart, aber deutlich: Der Alltag entscheidet über den Unterschied zwischen Frömmigkeit und Frömmelei. Letztere ist absolut nutzlos.

 

Vers 25: Eine etwas andere Sichtweise

Der vermutlich von anderer Hand stammende Vers 25 bringt ein völlig anderes Argument ein. Offensichtlich gibt es eine Tradition, nach der es in der Wüstenzeit keine Opfer Israels gab. Sie wird erkennbar in Jeremia 7,21-23 und stellt heraus: Beim Auszug aus Ägypten hat Gott als Erstes nicht Bestimmungen zu Opfern erlassen, sondern sein Volk darauf verpflichtet, auf seine Stimme zu hören, d. h. seinen Lebensweisungen zu folgen:  
21 So spricht der HERR der Heerscharen, der Gott Israels: Häuft nur Brandopfer auf Schlachtopfer und esst Fleisch! 22 Denn ich habe euren Vätern am Tag, als ich sie aus dem Land Ägypten herausführte, nichts gesagt und nichts befohlen, was Brandopfer und Schlachtopfer betrifft. 23 Vielmehr gab ich ihnen folgendes Gebot: Hört auf meine Stimme, dann will ich euch Gott sein und ihr sollt mir Volk sein! Geht in allem den Weg, den ich euch befehle, damit es euch gut geht!" (Jeremia 7,21-23).

Damit wird in Am 5,25 der Aussageschwerpunkt verlagert: Es geht nicht mehr um das Auseinanderfallen von Kult und Alltag, sondern um den Verstoß gegen den Gehorsam Gott gegenüber. Diese Theologie ist vor allem im Buch Deuteronomium beheimatet (vgl. z. B. Deuteronomium 13,5; 26,17; 27,10).

 

Vers 26-27: Herrschaftswechsel als Strafe

Die letzten beiden Verse kündigen die Folge des Rückzugs Gottes in die Nicht-Ansprechbarkeit an: Er überlässt Israel den "Herren", die es sich selbst gesucht hat.  Jetzt kommt doch auf einmal Fremdgötterkult, nämlich die Übernahme assyrisch-babylonischer Gestirnsgottheiten zur Sprache. Sie scheinen schon eingebürgert ("die ihr euch selbst gemacht habt"). Ihre ursprüngliche Herkuft weist auch auf das kommende Ziel hin: Verschleppung nach Assyrien. Wenn Gott nicht das Sagen haben darf, soll Assyrien es eben haben. Der Weg dorthin führte zwangsläufig über Damaskus, weil es von Israel aus keine horizontal (also von Westen nach Osten) verlaufenden Straßen durch die Wüsten des heutigen Jordanien gen Irak (Assyrien) gab. Immr war der Umweg über den Norden (Damaskus) notwendig. für den Einmarsch der Feinde ebenso wie für die Deportationen. Gottesspruch-Formel und Gottes-Namen-Formel (sie erinnert an die Hymnusstrophen Am 4,13; 9,5) geben dem ganzen Wort Am 5,21-27 massives Gewicht. Hier gibt es einfach nichts mehr zu erwidern.

Auslegung

Gottesdienst contra Ausbleiben der Gerechtigkeit

Den Tabubruch des Amos kann man sich wohl nicht groß genug vorstellen.Bis zu seinem Auftreten ist uns jedenfalls kein anderer biblischer Text bekannt, der eine solch radikale Gleichung aufstellt: Ohne ein Gott entsprechendes Alltagsverhalten wird der Kult wirkungslos. Immer lag der andere Gedanke näher: Was im Alltag an Vergehen geschieht, wird im Kult in irgendeiner Weise "ausgeglichen". Er hat die Aufgabe, die negativen Folgen von bösen Taten fernzuhalten und Gott zu versöhnen. Sicherlich kennt man die Vorstellung, dass ein Sünder direkt von Gott gestraft wird. Dies hält der sogenannte Tun-Ergehen-Zusammenhang fest, der ja sogar in den deutschen Sprachgebrauch eingegangen ist: 

"Wer eine Grube gräbt, fällt selbst hinein, wer einen Stein hochwälzt, auf den rollt er zurück" (Sprüche 26,27).

Dabei ist dieser Zusammenhang nicht einfach ein Automatismus, sondern er wird als eine Vernetzung verstanden, die von Gott selbst in Gang gehalten wird, aber auch unterbrochen werden kann. Das nennt man dann Vergebung. Auf diese hoffte man - bei aller Souveränität Gottes - mit Opfer, Gebet und Fasten positiv Einfluss nehmen zu können. 

Solchen Versuchen erteilt das prohetische Gotteswort Am 5,21-27 eine radikale Absage. Der behauptete Zusammenhang von kultischem Tun und Wirksamkeit wird zerschlagen. Dabei geht es nicht um die tragische, letztlich nicht aufzulösende Erfahrung, dass nicht jede Gebetsbitte so erhört wird, wie man sich das vorstellt. Sondern es geht um die Behauptung der grundsätzlichen Außerkraftsetzung eines Zusammenhangs von Opfer und göttlicher Antwort durch Gott selbst. Die Selbstverweigerung des Menschen im Alltag Gott gegenüber trifft auf die Selbstverweigerung Gottes dem Menschen gegenüber im Kult.

Dieser radikale Gedanke hat "Schule gemacht" und wird öfters aufgegriffen: sowohl im Alten als auch im Neuen Testament. Zu den entsprechenden Texten siehe die Rubrik "Kontexte".

Wichtig zu beachten ist: Das Buch Amos erklärt keine grundsätzliche Absage an den Kult oder an die Opferpraxis. Vielmehr lautet die Gleichung ausschließlich: Ohne das Bemühen um Gerechtigkeit im Alltag lass auch den Kult bleiben! Wo aber Recht und Gerechtgkeit strömen, hat der Gottesdienst - in welcher Form auch immer - seine Berechtigung; ja, er ist sogar wesensnotwendig, um den Strom von Recht und Gerechtigkeit am Fließen zu halten, der sich letztlich aus Gott selbst herleitet, der die Kräfte verleiht, die dem Menschen fehlen.

 

 

Kunst etc.

Aquastop, GNU Free Documentation License, Version 1.2
Aquastop, GNU Free Documentation License, Version 1.2

"Aquastop" - so nennt man ein Bauteil, etwa für Waschmaschinen, das den freien Wasserlauf unterbricht, wenn Auslaufen der Maschine und Überschwemmung droht. 

Das technische Gerät mag ein modernes Symbol sein für das, wovon Am 5,21-27 spricht: Hier geht es um Menschen, die den freien Lauf von Recht und Gerechtigkeit unterbrechen. Der Unterschied zum Aquastop: Käme dieser "Wasserlauf" von Recht und Gerechtigkeit wirklich in Gang, wären keine negativen Folgen zu befürchten. Ganz im Gegenteil: Es entstünden blühende Lebensgemeinschaften. Schade, dass es immer noch so viele "Stopper" gibt. Die Mahnung des Amos hört nicht auf, aktuell zu bleiben.