Das Buch Amos

Am 6,8-14: Weitere Worte gegen die Hauptstadt Samaria

8GOTT, der Herr, hat bei sich selbst geschworen / - Spruch des HERRN, des Gottes der Heerscharen:

Ich verabscheue den Stolz Jakobs / und seine Paläste hasse ich; / die Stadt und alles, was in ihr ist, gebe ich preis.

9Wenn dann in einem einzigen Haus noch zehn Menschen übrig sind, / müssen auch sie sterben.

10Und hebt ein Verwandter oder der Leichenbestatter einen Toten auf, / um die Gebeine aus dem Haus zu schaffen,

und fragt er den, / der im hintersten Winkel des Hauses sitzt:

Ist noch jemand bei dir?, / dann antwortet dieser: Nein! und sagt: / Still! Sprich ja nicht den Namen des HERRN aus!

11Denn siehe, der HERR befiehlt / und man schlägt das große Haus in Trümmer / und das kleine in Stücke.

12Rennen denn Pferde über die Felsen / oder pflügt man mit Ochsen das Meer?

Ihr aber habt das Recht in Gift verwandelt / und die Frucht der Gerechtigkeit in bitteren Wermut.

13Ihr jubelt über Lo-Dabar / und sagt: Haben wir nicht aus eigener Kraft / Karnajim erobert?

14Fürwahr, seht: Ich werde gegen euch, / Haus Israel, Spruch des HERRN, des Gottes der Heerscharen,

ein Volk erstehen lassen, das euch bedrängen wird / von Lebo-Hamat bis zum Bach der Araba.

Überblick

"Hochmut kommt vor dem Fall." Unter diese Überschrift könnte man die Zusammenstellung der Einzelworte Am 6,8-14 fassen. Allerdings geht es dabei nicht um eine Allerwelts-Weisheit, vielmehr um die Folgen einer gestörten Gottes- und Menschenbeziehung.

 

Einordnung des Textabschnitts in den Zusammenhang des Buches

Diese Verse bilden den Schluss der Kapitel 5 - 6, die wiederum die zweite Hälfte der großen Einzelspruchsammlung Am 3 - 6 darstellen.  Zusammengehalten wird diese zweite Hälfte einerseits durch die gemeinsame Anrede "Haus Israel" am Beginn (Am 5,1) und am Ende (6,14), vor allem aber durch das wenig verlockende Stichwort "hassen", das sich wie ein roter Faden durch die Einzelsprüche zieht" - und zwar ausschließließlich in den Kapiteln 5-6:

Am 5,10: "Sie hassen den, der im Tor zur Gerechtigkeit mahnt, und wer Wahres redet, den verabscheuen sie."
Am 5,15: "Hasst das Böse, liebt das Gute und bringt im Tor das Recht zur Geltung! Vielleicht ist der HERR, der Gott der Heerscharen, dem Rest Josefs dann gnädig."
Am 5,21: "Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie und kann eure Feiern nicht riechen."
Am 6,8: "GOTT, der Herr, hat bei sich selbst geschworen - Spruch des HERRN, des Gottes der Heerscharen: Ich verabscheue den Stolz Jakobs und seine Paläste hasse ich; die Stadt und alles, was in ihr ist, gebe ich preis."

Dem "Hass" der Mächtigen gegenüber allem, was ihre Ansprüche einschränken könnte (Am 5,10) und den Gott in andere, lebenstauglichere Kanäle lenken möchte (Am 5,15), entspricht ein "Hass" auf Seiten Gottes: Hass auf einen unwahren, heuchlerischen Kult (Am 5,21; s. Überblick und Auslegung zu Am 5,21-27) und Hass auf die hinter allem Unrechtsgebaren stehende Grundhaltung: Stolz. 

Wie in Am 5,10 macht sich auch im Einzelspruch Am 6,12 alles an der Einstellung gegenüber "Recht" und "Gerechtigkeit" fest. Bei genauerem Hinsehen erweist sich dieser Vers als ein variierender Rückgriff auf

Am 5,7"Weh denen, die das Recht in bitteren Wermut verwandeln und die Gerechtigkeit zu Boden schlagen!"

Der einleitende Schwur (Am 6,8) greift hingegen noch weiter zurück auf den ersten Teil der großen Spruchsammlung Am 3 - 6, nämlich auf die Kapitel 3-4. Denn dort wurde bereits das Unheilswort gegen die Damen-Oberschicht von Samaria (Am 4,1-3) mit einem Schwur Gottes eingeleitet:

Am 4,2: "Bei seiner Heiligkeit hat GOTT, der Herr, geschworen: Seht, Tage kommen über euch, da holt man euch mit Fleischerhaken weg, und was dann noch von euch übrig ist, mit Angelhaken."

So ist Am 6,8-14 deutlich der Abschluss der großen Redepassage Am 3 - 4. 5 - 6. Er ist so etwas wie ein Ausrufezeichen, ehe ab Kapitel 7 ein völlig neuer Teil beginnt, der aus der Verkündigung des Propheten zurückspringt in die Anfänge seiner Berufung. Die sich daran anschließende nächste Einzelspruchsammlung in Kapitel 8 wird in Vers 7 mit den markanten Motiven des Gottessschwurs und des "Stolzes Jakobs" noch einmal auf Am 6,8-14 zurückgreifen. 

 

Aufbau des Textabschnitts

Mit dem Gottesschwur Vers 8 setzt ein Spruch ein, dessen eigentliche Fortsetzung Vers 11 sein dürfte: Hauszertrümmerung als Antwort auf den maßlosen Stolz auf die Paläste in der Stadt Samaria  ("Paläste" ['armenôt] ist Zitat aus dem Samaria-Spruch Am 3,10: "Sie kennen die Rechtschaffenheit nicht - Spruch des HERRN - , sie häufen Gewalt und Unterdrückung in ihren Palästen auf.").

Dazwischen geschoben findet sich mit den Versen 9-10 ein Spruch, der vor allem am Grauen des Todes und seiner Verursachung durch Gott interessiert ist, dessen Namen man am besten erst gar nicht aussprechen soll. Dieser Gedanke verweist eher in spätere Zeiten als die des Amos.

Vers 12, der in Form einer Frage die Verkehrung des Rechts in Unrecht als widersinnig enttarnt, macht den Eindruck eines Einzelworts, dessen Einfügung an dieser Stelle die Funktion hat, noch einmal das zentrale Thema "Recht und Gerechtigkeit" der Passage Am 5 - 6 anklingen zu lassen.

Die Verse 13-14 knüpfen hingegen in gewisser Weise an den Vers 8 an: Diesmal beruht der Stolz aber nicht auf den städtebaulichen Prestigeobjekten, sondern auf militärischen Errungenschaften. So wie aber der Städtebau nicht vor der Hauszerstörung bewahrt, so wenig werden militärische Siege davor bewahren, dass am Ende nicht doch noch ein stärkerer, vernichtender militärischer Gegner "ante portas" ("vor den Toren") stehen wird.

 

Die Verse im einzelnen

Verse 8.11: Stolz und Untergang

Der Eid ist im Alten Testament die verbindlichste Form einer Zusage. Beim Menschen geschieht dies in der Regel unter Anrufung des Namens Gottes (oder im Alten Orient unter Anrufung einer eigenen Schwurgottheit). Unter dieser Rücksicht ist ein Schwur Gottes selbst, des Garanten eines jeden menschlichen Schwurs, in gewisser Weise widersinnig. Sein Wort gilt prinzipiell und bedarf nicht einer zusätzlichen Absicherung, die natürlich nur er selbt sein kann ("bei sich"). Der Ausdruck ist eher menschlicher Vorstellung entnommen und soll in nicht steigerbarer Weise die Gewissheit und Endgültigkeit des Gesagten festhalten.

Damit gibt es keinen Zweifel, wie sehr Gott mit Verachtung auf den "Stolz Jakobs" schaut. Dieser Begriff (hebräisch: ge'ôn "Stolz, Hochmut") wird hier extra eingeführt; später wird Am 8,6 noch einmal an ihn erinnern. Er ist ebenso markant wie in geiwsser Weise ein Selbstwiderspruch - ein hölzernes Eisen. Denn "Jakob" spricht Israel als das von Gott erwählte Volk an, das sich damit ganz und gar von diesem abhängig wissen sollte. "Stolz" hingegen ist Emanzipation in einem negativen Sinne: Das Volk bzw. seine Mächtigen tun so, als hätten sie alles aus sich. Ausdruckssymbol des Stolzes ist offensichtlich die Stadt (gemeint ist Samaria als Hauptstadt des Nordreiches Israel) samt ihren Palästen. Das klingt nur nach Prahlsucht, meint aber Schlimmeres. Denn die Begriffe verweisen zurück auf Am 3,9-10: "9 ... seht das wilde Treiben in ihrer Mitte und die Unterdrückung in ihrem Innern! 10 Sie kennen die Rechtschaffenheit nicht - Spruch des HERRN - , sie häufen Gewalt und Unterdrückung in ihren Palästen auf." Die Stadt ist Symbol menschenverachtenden Terrors, und gegen den wenden sich Verachtung und Hass JHWHs.

Die Wahl der beiden Verben ("hassen" und "verabscheuen" [hebräisch tā'aw]) erinnert im übrigen an  Am 5,21-27, auch wenn nur eines der Verben identisch ist: 

"Ich hasse eure Feste, ich verabscheue [hebräisch: mā'as] sie und kann eure Feiern nicht riechen" (Am 5,21).

Der Terror und der so fromm tuende Kult, der diesen Terror verdecken und religiös bemänteln soll, rufen bei Gott dieselben Ekelgefühle hervor. Und in beiden Fällen ist die Folge Gottes seine Abwendung: Die Kultgaben nimmt er nicht an, so dass sie nichts bewirken; den mit der Erwählung verbundenen Schutz zieht er ab, so dass die Stadt untergeht.

Davon spricht Vers 11, wobei die Nennung von "großen" und "kleinen" Häusern die Unterschiedslosigkeit aller zum Ausdruck bringt, die überhuapt für steinernen Hausbau erst einmal die Mittel hatten. Die ärmere Bevölkerung dürfte außerhalb der Stadt in einfacheren Unterkünften gewohnt haben.

 

Verse 9-10

Die sekundären VV 9-10 leiten über vom Thema “Stadt” (V 8) zum Thema “Haus” (V 11) und dramatisieren zugleich die Unheilsankündigung von V 8. Wie in einem Zoom wird der Blick auf ein einzelndes Haus gelenkt. Nachrichtenbilder von Kriegen, in denen Soldaten Siedlungen hausweise durchkämmen, geben den zunächst vielleicht rätselhaft anmutenden Worten eine beklemmende Aktualität. Trotz mancher  Unklarheiten (Was ist z. B. die Ursache der vielen Toten? Eine Seuche? Ein Feldzug?) ist erkennbar, dass V 9 in gewisser Weise Am 5,3 fortschreibt und nicht einmal von zehn Überlebenden ausgeht (d.i. der minjan, die Mindestzahl einer Gemeinschaft nach biblisch-jüdischer Vorstellung, die bis heute Voraussetzung für einen Synagogengottesdienst ist; vgl. Gen 18,32). Das düstere Zwiegespräch beim Herauschaffen der Leichen zwischen dem Verwandten eines Toten und einer im äußersten Winkel verborgenen Gestalt zielt darauf, ja nicht den Namen Gottes zu erwähnen. Es ist ein Schweigen voller Furcht angesichts der vielen Toten. Dies ist auch die Brücke zu Am 8,3, wo dieselbe Auforderung zum Schweigen noch einmal steht. Beide Texte (6,9-10 und 8,3) scheinen Nachträge zu sein, die vielleicht die älteren Texte angesichts der Katastrophe der Zerstörung Jerusalems 586 v.Chr. aktualisieren. Deutlich zu unterscheiden sind diese Verse jedoch von den nachexilischen Hymnenfragmenten (4,13; 5,8-9; 9,5-6), die gerade nicht den JHWH-Namen meiden, sondern ihn angesichts des erfolgten Gerichts rühmend herausstellen.

 

Vers 12: Ich habe da mal eine Frage

Die Hörenden bzw. Lesenden mit Fragen wachzurütteln - diesem Verfahren begegnet man im Amosbuch öfters. Das gilt z. B. für die Kette rhetorischer Fragen in Am 3,3-8 oder das kleine ironische "Quiz" in Am 5,18-20, bei dem Gott Fragesteller wie Antwortender zugleich ist.

Vers 12 führt über das Stilmittel der rhetorischen Frage  zum Thema "Recht und Gerechtigkeit", das mit Kapitel 5 eingeführt wurde (vgl. Am 5 7.10.15.24). Dabei soll verdeutlicht werden, wie sehr die Instrumentalisierung des Rechts für eigene Zwecke (in Form von Bestechung, Zurückweisung von wahren Zeugenaussagen, Einsatz von Gewalt, Vertragsbruch etc.) dem Wesen des Rechts widerspricht. Die Widersinnigkeit des Verhaltens verdeutlicht das Wort durch zwei Fragen, deren Antwort klar ist, ohne dass sie ausgesprochen wird: “Natürlich tut man beides nicht!” Bezüglich der ersten Frage ist erklärend zu ergänzen, dass Pferde zur damaligen Zeit nicht als Reittiere, sondern nur als Zugtiere vor Wagen, besonders Kriegswagen, benutzt wurden. In beiden Fragen geht es darum, Tiere nicht für etwas zu ge- bzw. missbrauchen, für das sie nicht gedacht sind.

Die Widersinnigkeit der menschlichen Rechtsverkehrer ist aber um so größer, weil der "Stolz Jakobs" (Vers 8) in Widerspruch zu den Brautgaben steht, die Gott einst in seine Verbindung mit Israel eingebracht hat (Hosea 2,21: "Ich verlobe dich mir auf ewig; ich verlobe dich mir um den Brautpreis von Gerechtigkeit und Recht, von Liebe und Erbarmen".) bzw. die in den Psalmen als tragende "Stützen seines Thrones" genannt werden (vgl. Psalm 89,15; 97,2). Von Gott her erweisen sich "Recht und Gerechtigkeit" als Werte, die mit Tragfähigkeit ("Stützen des Thrones") und Liebe ("Brautpreis") verbunden sind. Genau um diesen innersten Kern haben die Machthaber von Samaria Recht und Gerechtkeit gebracht. Sie gebrauchen diese beiden Größen gesellschaftszerstörend und wie ein tödliches Gift.

 

Verse 13-14

Die letzten beiden Verse machen den "Stolz Jakobs" an militärischen Erfolgen fest, auf die man sich in Samaria viel einzubilden scheint. Die beiden genannten Orte Karnajim ("Doppelhorn") und Lo-Dabar lagen wohl auf ostjordanischem Gebiet. Dem Propheten dürfte es ein Genuss sein, seine bzw. Gottes Einschätzung der Eroberung im zweiten Ortstsnamen herauszuhören: Lo-Dabar - "Kein Ding"! 

So wie Kapitel 5 mit der düsteren Aussicht für Israel endet, über Damaskus hinaus in die Verbannung ziehen zu müssen (Am 5,27), so endet Kapitel 6 mit der ebenso düsteren Prognose, von der Nordgrenze (Lebo-Hamat) bis zur Südgrenze (Araba) einem fremden Herrn Knecht sein zu müssen. Das Verb "bedrängen" (hebr. lāhaṣ, gesprochen: lachátz) erinnert bei gesamtbiblischer Betrachtung an Exodus 3,9:  "Jetzt ist die laute Klage der Israeliten zu mir gedrungen und ich habe auch gesehen, wie die Ägypter sie unterdrücken." Hier lässt die Übersetzung "unterdrücken" deutlicher als die Übersetzung "bedrängen" erkennen, welche "Qualität" das Verb lāhaṣ hat: Es geht um Knechtung. Dies zeigt auch die Verwendung des Verbs in Exodus 23,9 und 22,20 mit dem Verbot, Fremde "auszubeuten". So wie Israel selbst das pharaonische Prinzip der Unterdrückung durch seinen Rechtsterror in das Land Israel "importiert" und die breite Unterschicht ausgenutzt hat, so werden die Verantwortlichen nun selbst erfahren, was sie anderen angetan haben: unterdrückende Bedrängnis. Gezielt steht an dieser Stelle (Am 6,14) noch einmal die Anrede “Haus Israel”, die im Amosbuch das Land als politische Größe mit territorialen Grenzen und staatlicher Verfassung meint. Der Bogen zu Am 5,1 schließt sich damit. Zugleich begegnet auch noch ein letztes Mal das Gottesprädikat Gott "der Heerscharen" (hebräisch: zebā'ôt), der die gesamte Spruchzusammenstellung Am 3 - 6 durchzieht: Am 3,13; 4,14; 5,14.15.16.27; 6,8.14). Er betont die Macht und Majestät Gottes, die alle scheinbare wirtschaftliche und politische Macht letztlich klein aussehen lässt. 

Auslegung

Eigeninteresse kann blind machen (Vers 12)

"Rennen denn Pferde über die Felsen oder pflügt man mit Ochsen das Meer? Ihr aber habt das Recht in Gift verwandelt und die Frucht der Gerechtigkeit in bitteren Wermut." (Vers 12)

Wie unsinnig es ist, mit Pferden, die in des Amos Zeiten im Wesentlichen als Zugtiere von Kriegswagen genutzt wurden, über Felsen zu rennen oder mit Rindern das Meer zu pflügen, bedarf keiner weiteren Erklärung.  Die Drastik der Bildwahl passt dabei übrigens gut zur landwirtschaftlich-derben und von bitterer Ironie sprühenden Sprache des Viehzüchters Amos.

Doch der anschließende Überstieg zu Recht und Gerechtigkeit zeigt ein tiefes menschliches Problem an. Während bei Pferd und Rind der Unsinn sofort deutlich ist, weil beide Handlungen zu keinem Ziel führten, sieht das bei der Verkehrung von Recht und Gerechtigkeit völlig anders aus. Zumindest aus ihrer Sicht kommen die Rechtsverkehrer zu einem Ziel. Die Opfer interessieren sie dabei nicht. Dass diese Optik eine pervertierende ist, kommt je weniger in den Blick, je stärker die Eigeninteressen sind. Sie aufzubrechen und - vielleicht - zu verändern, dazu bedarf es eines Wortes, das nicht von der Perspektive des Eigeninteresses geleitet ist, sondern ein Weltverständnis hat, in dem alle gleich wichtig sind. Es bedarf einer Perspektive, die einen Sinn jenseits aller selbstverhafteten und durch Machbarkeit erreichbaren Ziele kennt. Solch eine weltunterbrechende Sicht - weltunterbrechend im Sinn der Durchbrechung gängiger Verhaltensmuster damals wie heute - vertritt der Prophet als Sprachrohr Gottes. Insofern Israel Gottes Volk ist, müsste es auch seine Perspektive sein. Doch menschliches Versagen verdunkelt sie immer wieder. Dies ist die Erfahrung Israels wie auch die Erfahrung des Christentums  bis heute. So bleibt durch die Zeiten die Notwendigkeit des prophetischen Rufes.

Diese weltunterbrechende Perspektive haben übrigens auch die Mütter und Väter des Grundgesetzes 1949 eingebracht, als sie - keineswegs unumstritten - die Präambel mit der Formulierung beginnen ließen:

"Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ..." (https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html; Fettdruck vom Verf. des. Artikels).

 

Die Nicht-Aussprache des Namens Gottes (Vers 10)

Vers 10: "Still! Sprich ja nicht den Namen des HERRN aus!"

Über das Schweigegebot in Am 6,10 wird diskutiert, da die Bedeutung nicht hundertprozentig klar ist. Die "klassischen Gründe" für die Nichtsaussprache des Gottesnamens JHWH entfallen. Welche wären das?

Zunächst ist ja gerade als Besonderheit des Gottes Israels festzuhalten, dass er sich mit Namen vorgestellt hat. So heißt es in Exodus 6,2: "Gott redete mit Mose und sprach zu ihm: Ich bin JHWH." In Exodus 3,14 wird dieser Name, dessen korrekte Aussprache (es fehlen dafür die notwendigen Vokale) nicht überliefert ist, mit dem hebräischen Verb für "sein" in Verbindung gebracht: hāyāh. Man müsste den Namen dann übersetzen: "Er ist [(wirksam) da]" bzw. "Er wird [(wirksam) da] sein". Der Name formuliert also in der 3. Person, was Exodus 3,14 in der ersten Person formuliert: "Ich bin, der ich bin. " Es wird sich also jeweils erweisen, wer und wie und dass Gott ist. Von diesem Namen nun, der Gottes Souveränität wahrt und doch seine Gegenwart zusagt, die heilvoll, aber auch unheilvoll sein kann - das zeigt ja gerade das Amosbuch -, wird nun in den Zehn Geboten gesagt:

"Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht missbrauchen" (Exodus 20,7).

Gemeint ist hier wohl, dass Gottes Name nicht in Zusammenhängen genannt werden darf, die nicht mit Gottes prinzipielem Willen zu Leben und Freiheit vereinbar sind. Das markanteste Beispiel ist der Meineid, der anderen unrechtmäßig schaden will.

Möglicherweise ist es aus der Sorge, dass sich nicht immer so klar sagen lässt, ob die Nennung des Gottesnamens nicht doch unter unwürdigen Voraussetzungen geschieht, im Judentum zu einem gänzlichen Verzicht auf die Aussprache des Gottesnamens gekommen. Adonay (wörtlich: "mein Herr") ist an die Stelle getreten.

Dieses Motiv der Namensvermeidung aus  Vorsicht vor der Unangemessenheit passt für Amos nicht. 

Allerdings hat sich die revidierte Einheitsübersetzung diese im Judentum bis heute gültige Namensvermeidung zu eigen gemacht und schreibt an allen Stellen, wo im hebräischen Text des Alten Testaments die vier Konsonanten des Gottesnamens JHWH stehen, "der HERR". Die Großbuchstaben unterscheiden dabei Gott von jedem anderen weltlichen "Herrn", wie z. B. dem König, der durchaus auch "Herr" (hebräisch: 'adôn) genannt werden kann. Also heißt die Übersetzung des oben genannten Verses Exodus 6,2 in der neuen Einheitsübersetzung: "Gott redete mit Mose und sprach zu ihm: Ich bin der HERR." 

Der zweite "klassische" Fall der Namensvermeidung ist der Ausruf  “Still!” (hās) im Zusammenhang mit einer Theophanie (Gotteserscheinung) und meint damit das schaudernde Schweigen angesichts der Begegnung mit Gott (vgl. Habakuk 2,20; Zephanja 1,7; Sacharja 2,17), dem wohl vor allem im Gottesdienst eine besondere Rolle zukam. Auch das passt zu Am 6,10 eher nicht.

So bleibt für Am 6,10 die Vermutung, dass entweder "Tod" und der "Gottes des Lebens" nicht zusammengebracht werden sollen, oder dass man mit der Nennung Gottes seine Gegenwart nicht "herbeireden" möchte, die auch noch den letzten Überlebenden töten würde.

Kunst etc.

Wermut (Artemisia absinthium), CC BY-SA 4.0
Wermut (Artemisia absinthium), CC BY-SA 4.0

"Vergällung" nennt man die Veränderung eines Stoffes durch Zusatzmittel, die das Ausgangsprodukt ungenießbar machen. Paradebeispiel ist die Vergällung von besteuertem Konsumalkohol zu ungenießbarem Nutzalkohol (als Desinfektionsmittel etc.), der nicht der Alkoholsteuer unterliegt.

Auch wenn Wermut in der Vergällung keine Rolle spielt, kann der Vorgang veranschaulichen, was in Am 6,12 gemeint ist: Die an sich für den Menschen nützlichen Größen Recht und Gerechtigkeit werden durch Korruption und Instrumentalisierung so "vergällt", dass sie für einen großen Teil der Menschen nicht nur unbrauchbar, sondern sogar gefährlich werden. So wie Ethanol (Nutzalkohol) durch Zusatz von Methanol nicht nur ungenießbar, sondern auch schädlich wird (Sehverlust ud Vergiftung), so führt das missbrauchte Recht für verarmte Bürger zu Grundbesitzverlust, Verlust von Wiedergutmachungsansprüchen, Verlust von Freiheitsrechten durch Schuldsklaverei u. ä. Das Recht verliert seine Funktion, sich gegen Unrecht wehren zu können, und "Gerechtigkeit", die biblisch zuallererst fragt, was der Gemeinschaft nutzt, wird gegen die Gemeinschaft  als rigoroser Anspruch auf eigene Vorteile (miss)verstanden.

Recht und Gerechtigkeit werden "vergällt" - sie schmecken wie bitteres Wermutkraut. Ja, in ihrer Fehlform "vergiften" sie eine Gesellschaft. Am 6,12 hat seine Aktualität nicht verloren.