Immer noch droht den Juden und Jüdinnen im persischen Reich der Tod – denn Hamans Edikt hat auch nach seinem Tod Bestand. Es bedarf eines Gegen-Edikts.
1. Verortung im Buch und Aufbau
Dem Fall Hamans folgt der Aufstieg Mordechais – doch das jüdische Volk wird durch Ester gerettet, die nun zum vierten Mal im Buch eine Bitte an den König ausspricht. Nun fällt die Ester als Königin und Jüdin vor dem König auf die Knie, um ihr Volk zu retten – nachdem Mordechai in Ester 3,2-4 sich geweigert hatte vor Haman auf die Knie zu fallen und somit Unglück über das jüdische Volk im persischen Reich gebracht hatte. Mordechai, der noch in Ester 4,1 im Trauergewand durch die Stadt ging, wird nun als neuer Stellvertreter des Königs eingekleidet. Die Juden und Jüdinnen Susas, die in Ester 3,15 noch der Schrecken über das von Haman verfasste Edikt, ihr Todesurteil, befallen hatte, können sich nun wieder Freuen. Und während Ester ihre jüdische Identität anfangs noch verstecken musste (Ester 2,10.20), wenden sich nun Nicht-Juden dem jüdischen Glauben zu.
Ester 8 ist bewusst als eine Gegenerzählung zu Ester 3 gestaltet. Nach der Konfrontation zwischen Mordechai und Haman (Ester 3,1-5), legt der „Feind der Juden“ das Datum für das Pogrom fest (Verse 6-7), wofür er erst im Nachhinein die königliche Erlaubnis einholt (Verse 8-9) und die notwendige Jurisdiktionsgewalt erhält (Verse 10-15). In Ester 8 ist die Erzählreihenfolge umgekehrt und damit rechtmäßig. Der König übertrag Mordechai (und später Ester) die Jurisdiktionsgewalt (Vers 2, siehe auch Vers 8). Ester trägt ihre Bitte dem König vor, die dieser dann gewährt (Verse 5-6.7-8). Das Gegenedikt, dessen Inhalt und Datierung, wird erst verfasst, nach der Beauftragung durch den König (Verse 10-14). Das Edikt und das Gegenedikt entsprechen sich zum Teil wörtlich (siehe die Erklärungen zu den einzelnen Versen).
Der Aufbau von Ester 8 ist bestimmt durch die rahmende Erzählung über den Aufstieg Mordechais. Im Zentrum steht jedoch die Handlung Esters. In Vers 5 leitet sie ihre Bitte noch mit der höfischen Höflichkeitsformel „Wenn es dem König gefällt“ ein. In Vers 8 sagt der König dann zu Ester und Mordechai: „wie Ihr es für gut haltet“ und legt die Abfassung des Gegen-Edikts in ihre Hände.
2. Erklärung einzelner Verse
Verse 1-2: „an jenem Tag“ (vgl. Ester 3,9), an dem Haman hingerichtet wurde, übergibt der König Ester Hamans gesamten Besitz und seine Familie in die Hand Esters. Im persischen Reich ging der Besitz eines Verschwörers an die Krone und es galt Sippenhaft. Mordechai wird statt Haman als Stellvertreter des Königs eingesetzt und Ester erhebt ihn zudem auch über das Haus Hamans. Den Ring und damit die Siegelgewalt, die Haman innehatte (Ester 3,10) wird nun Mordechai übergegeben. Das erste Mal im Buch Ester hat nun Mordechai direkten Zugang zum König – nachdem Ester dem König offengelegt hatte „was er für sie war“, wie eng die familiäre Verbindung zu ihr und somit auch zum König ist.
Vers 3: Zum vierten Mal trägt Ester dem König eine Bitte vor. In Ester 4,8 hatte Mordechai darum gebeten, dass Ester König „inständig um Gnade für ihr Volk anflehe“; nun flieht sie um Gnade (in beiden Versen formuliert mit חנן). Erstmals seit Ester 4,4, als Ester davon erfuhr, dass Mordechai vor dem Palast Selbstminderungsriten vollzog, berichtet der Erzähler wieder von Esters Emotionen. Ihre Körpersprache, ihre Gesten und Affekte eilen ihrer Bitte voraus.
Verse 4-5: In diesem Vers wird nun deutlich, dass die Geste mit dem Zepter als Erlaubnis, eine Bitte aussprechen zu dürfen, verstanden werden kann. Ester ist ja bereits in der Gegenwart des Königs. Die formale Geste verdeutlicht nun, dass sie sich dem König in seiner Machtposition durch ihre Bitte nähern darf. Ihre höfische Sprache ist hier nun nochmals gegenüber Ester 5,4.8; 7,3 gesteigert und die von ihre genannten vier Bedingungen verdeutlichen, dass sie sich mit ihrer Bitte ganz dem Willen und der Macht des Königs unterwirft – man könnte auch sagen: Sie schmeichelt seiner Macht und verschweigt dabei, dass seine Macht, bzw. sein Handeln in Ester 3 zu dem Edikt Hamans geführt hat. Zur Angabe der familiären Herkunft von Haman, siehe die Kommentierung von Ester 3,1.
Vers 6: Die Begründung ihrer Bitte verfasst die Königin in einem poetischen Parallelismus. Der Verweis auf das Schicksal ihrer „Verwandtschaft“ ist ein geschickter Hinweis auf die nun bekannte Verbindung des Königs zum jüdischen Volk. Dass sie im Angesicht des Edikts nun nicht, wie zuvor, um ihr eigenes Leben fleht, sondern als Fürsprecherin für ihr Volk auftritt, ist eine geschickte Art und Weise den Lesenden vor Augen zu führen, dass Ester ein Vorbild für die Lesenden ist: Sie, die ihre eigene Identität zuerst verheimlichte, tritt nun öffentlich nicht für sich, sondern zum Wohl ihres Volkes auf.
Verse 7-8: Erstmals im Buch zieht der König selbst direkt die Verbindung zwischen Haman und dem bevorstehenden Pogrom. Anders als es im vorherigen Kapitel erzählt wird, erklärt er die Hinrichtung Hamans nun, mit dessen Absicht die Juden und Jüdinnen zu töten. Das hat eine gewisse Ironie, da er selbst nichts gegen die Gültigkeit des Edikts unternimmt. Darauf weist der Erzähler vielleicht mit erhobenem Zeigefinger nochmals hin, indem er den König neben Ester auch zu dem „Juden Mordechai“, der seit Vers 1 in der Szene anwesend ist, sprechen lässt. Wieder handelt der König nicht selbst, sondern delegiert. Das kann als Wertschätzung gegenüber Ester und Mordechai oder als Schwäche des Königs ausgelegt werden: Er erscheint wohlwollen, aber auch schwach. Besonders auffallend ist im Hebräischen die deutliche Anrede durch den König, wörtlich: „Jetzt aber sollt ihr, ihr“. Nun tritt eine Komplikation in der Erzählung ein: Das Edikts Hamans bleibt bestehen, es kann nicht für ungültig erklärt werden. Die Kunst besteht nun darin ein Gegen-Edikt zu verfassen, dass Hamans Edikt ausgleicht. Bereits in Ester 1,19 hatte sich angedeutet, dass eine königliche Entscheidung nicht revidiert werden kann.
Verse 9-10: Erst werden die Adressaten benannt und die Gültigkeit geklärt, bevor der Inhalt kommt. Die Beauftragung der Schreiber in Vers 9 stimmt fast wörtlich mit der Formulierung in 3,12a überein. Nun wird das Edikt jedoch von Mordechai diktiert und es ist auch an die Juden und Jüdinnen gerichtet – ihre Nennung umrahmt sogar die der Satrapen, Statthalter und Provinzen und wie diese erhalten auch die Juden und Jüdinnen das Edikt in ihrer Schrift und Sprache. Allein dies bedeutet schon eine gewisse Gleichstellung gegenüber den anderen Völkern innerhalb des persischen Reiches. Zwischen dem ersten Edikt und dem Gegen-Edikt vergehen 70 Tage – vielleicht hat dies eine symbolische Bedeutung: Im Buch Jeremia wird das babylonische Exil als eine 70 Jahre dauernde Versklavung angekündigt. Und auch die Autorität des Edikts und die Versendung wird in Vers 10 fast wörtlich so beschrieben wie in 3,12b.13. Allerdings setzt der Erzähler in einer unterschiedlichen Formulierung einen Akzent: Während die Handlungen Hamans im Passiv formuliert sind, handelt Mordechai selbst. Und die ausgesendeten Eilboten reiten nun auf königlichen Rossen und damit auf besonderes königliches Geheiß.
Verse 11-13: Gleiches darf mit Gleichen vergolten werden – das ist das Prinzip hinter dem Gegen-Edikt. Die Juden und Jüdinnen dürfen sich an dem Tag des angekündigten Pogroms versammeln, d.h. wehrhaft machen. Sie bekommen das Recht auf Notwehr zugesprochen. So, wie das erste Edikt erlaubt Juden und Jüdinnen auszurotten, zu töten, zu vernichten und ihren Besitz zu plündern, wird nun den Juden und Jüdinnen im Falle eines feindlichen Angriffs das gleiche Recht gegenüber ihren Angreifern zugesprochen. Dass auch feindliche Frauen und Kinder ermordet werden dürfen, entspricht der Idee, dass das Übel mit der Wurzel ausgerissen werden soll. Zudem ist es in einem rechtlichen Text wie diesem auch als eine Warnung gegen die Durchführung des ersten Edikts zu lesen. In Ester 9,10.15-16 wird dann erzählt werden, dass die Juden und Jüdinnen das Plünderungsrecht nicht beansprucht haben werden.
Vers 14: Die große Eile wird betont, da in der damaligen Zeit, wie der antike, griechische Geschichtsschreiber Herodot berichtet bis zu drei Monaten dauern konnte, bis eine Botschaft sich im gesamten persischen Reich verbreitete.
Vers 15: Die Ehrung Mordechais in Ester 6,10-11 war ein temporärer Akt. Nun zeigt seine ‚Ausschmückung‘ seinen Statuswechsel, seine Einsetzung als Stellvertreter des Königs, an. Purpur und Leinen waren auch die Stoffe, die die Pracht des königlichen Gastmahls in Ester 1,6 prägten. Ein ironischer Seitenhieb liegt vielleicht darin, dass Mordechai in seinem Amt gekrönt wird, während Haman sich so aufführte, als sei er dem König gleichgestellt. Nach der Bestürzung in Susa nach dem ersten Edikt, herrscht nun wieder Freude – in der Stadt und bei den Juden und Jüdinnen.
Vers 16: Die vier Begriffe „Licht“, „Freude“, „Fröhlichkeit“ und „Ehrung“ geben dem Ereignis einen messianischen Unterton der Rettung; vgl: zum Beispiel Jes 51,3.11.
Vers 17: Nun endlich, nach so vielen königlichen Festmählern, kann von einem Festmahl der Jüdinnen und Juden erzählt werden. Der Tag des Gegen-Edikts wird zu einem „guten Tag“, einem freudigen Festtag erklärt. Währen Ester noch ihre jüdische Identität verbergen musste, wenden sich nun auch Nicht-Juden Esters Glauben zu. Die biblische Hoffnung, dass auch Angehörige anderer Völker, sich dem jüdischen Volk anschließen klingt zum Beispiel im Tempelweihgebet König Salomos an: „Auch Fremde, die nicht zu deinem Volk Israel gehören, werden wegen deines Namens aus fernen Ländern kommen; 42 denn sie werden von deinem großen Namen, deiner starken Hand und deinem hoch erhobenen Arm hören. Sie werden kommen und in diesem Haus beten. Höre sie dann im Himmel, dem Ort, wo du wohnst, und tu alles, weswegen der Fremde zu dir ruft! Dann werden alle Völker der Erde deinen Namen erkennen. Sie werden dich fürchten, wie dein Volk Israel dich fürchtet, und erfahren, dass dein Name ausgerufen ist über diesem Haus, das ich gebaut habe“ (1 Könige 8,42-43). Dies wird durch den „Schrecken vor den Juden“ begründet. Der Schrecken Gottes bedeutet im Alten Testament gemeinhin eine Theophanie, eine Demonstration militärischer Macht, auch ohne eine Kampfhandlung (Exodus 15,16; Psalm 76,5-8). Ob die Nicht-Juden konvertieren oder zu Sympathisanten werden, lässt sich aus diesem Vers nicht schließen.