Das Buch Ester trägt den Namen einer jüdischen Frau, die durch ihre geschickte Fürsprache beim persischen König, die drohende Vernichtung ihres Volkes im Perserreich verhindert. Doch am Ende des Buches wird ihr Onkel Mordechai als großer Held gefeiert und als exemplarischer Jude gelobt. Das Purimfest, das bis heute im Judentum die in dem Buch niedergeschriebene Geschichte erinnert, trägt dann gar im 2. Buch der Makkabäer seinen Namen: der „Mordechai-Tag“ (2 Makk 15,36). Und zumindest in der Fassung, in der das Buch auf Bibelhebräisch überliefert ist, herrscht ein „Gottesschweigen“. Kein einziges Mal kommt in ihm der Gottesname vor und Gott handelt scheinbar nicht. Die breite Rezeption des Buches in der jüdischen Traditionsliteratur, im Midrasch und im Targum, lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass aus der Sicht der antiken Leser und Leserinnen auch in dieser Erzählung Gott der Herr der Geschichte und der Beschützer seines Volkes ist. In der antiken Übersetzung des Buches Ester ins Griechische wurde das Buch dann auch „theologisiert“ – zum Beispiel wurde an den Anfang der Erzählung ein Traum Mordechais, der ihm vor Augen führt, „was Gott zu tun beschlossen hat“ (wörtliche Übersetzung von Ester 1,1l), gestellt.

 

1. Zur Textüberlieferung

Sowohl in der alten als auch in der revidierten Einheitsübersetzung liegt eine Textform des Buches Ester vor, die weder dem bibelhebräischen Text noch der antiken, griechischen Übersetzungen entspricht. Dieser Übersetzung ins Deutsche liegt ein auf den Heiligen Hieronymus zurückgehender Mischtext zu Grunde: dem sogenannten masoretischen Text – das ist der bibelhebräische Text, der sich in jüdischen Bibeln befindet und auch die Grundlage der Übersetzungen der evangelischen Kirchen ist – wurden zusätzliche, antike Textabschnitte hinzugefügt, die nur auf Griechisch überliefert sind. Das Buch Ester existiert eigentlich in drei Fassungen: (1.) Die kürzeste und einzige in der Abfassungssprache überlieferte Version ist der bibelhebräische Text gemäß der masoretischen Tradition; (2.) demgegenüber bietet die antike, griechische Übersetzung des Buches, die in der Septuaginta (= LXX) überliefert ist, einen deutlich längeren Text mit mehreren Zusätzen (z.B. Gebeten von Mordechai und Ester, einen Traum von Mordechai sowie dessen Deutung und Edikten und ein Kolophon). Eigentlich ist es falsch, wenn man über Ester-LXX als Übersetzung spricht, denn die Zusätze sind Teil einer durchgehenden Überarbeitung des Textes, weshalb diese Textversion als eine eigenständige Komposition betrachtet werden muss; (3.) neben Ester-LXX gibt es noch eine zweite griechische Textversion: den sogenannten Alpha-Text. Dieser enthält zwar größtenteils auch die in der Septuaginta überlieferten zusätzlichen Abschnitte, doch zugleich sind einige Textpassagen deutlich gekürzt. Da der im Bibelhebräischen überlieferte Text des Buches Ester, die einzige Textversion in der Abfassungssprache ist, und da die antiken, griechischen Zusätze Teil einer größeren Überarbeitung, die sich durch das gesamte Buch zieht, sind, wird hier im Folgenden nur ein Kommentar zu dem aus dem Bibelhebräischen übersetzten Text der revidierten Einheitsübersetzung gegeben. In der revidierten Einheitsübersetzung sind die Übersetzungen der Zusätze aus dem Griechischen durch Buchstaben markiert (z.B. Ester 1,1a-r).

 

2. Zum Aufbau

Die Erzählung entfaltet sich entlang von insgesamt zehn Gastmählern, bzw. Trinkgelagen. Das Buch beginnt mit zwei Gastmählern, die der persische König Artaxerxes/Achasverosh (siehe dazu die Kommentierung von Ester 1,1) für die Edlen seines Volkes und für das gesamte Volk gibt (Ester 1,2-4.5-8). Auch seine Königin Washti gibt für die Frauen ein Gastmahlt (1,9). Daran anschließend weigert sie sich jedoch vor dem König bei seinem Gastmahl zu erscheinen und wird von ihm abgesetzt. Ester, die ihre jüdische Identität auf Geheiß ihres Onkels Mordechai verheimlicht, wird die neue Königin, ihre Hochzeit wird wiederum mit einem großen Gastmahl gefeiert (2,18).  Nach diesen opulenten Festen folgt eine fast intime Szene: Der König trinkt zusammen mit Haman, seinem Hofmarschall, nachdem dieser beim König ein Edikt zur Vernichtung der Juden erwirkt hatte (Ester 3,15). Um das jüdische Volk im Perserreich zu retten, lädt Königin Ester den König und Haman zu zwei Gastmählern ein (5,4-8; 7,1-9); so erwirkt sie, dass die Juden nun selbst Grund zu einem Trinkgelage haben (8,17) und nach der Vernichtung ihrer Feinde die wiedergewonnene Ruhe mit dem ersten Purimfest feiern können (9,17-19). In der erzählerischen Mitte all dieser Festgelage steht das Fasten Mordechais und aller Juden im Perserreich im Angesicht der drohenden Vernichtung (4,3) und die erneute Aufforderung zum Fasten durch Ester (4,16; siehe auch 5,1) – aus den fastenden Juden und Jüdinnen wurde die ausgelassen Feiernden. 

Dieser Wandel ist das erzählerische Prinzip des gesamten Buches. Am deutlichsten wird dieses „Spiegelprinzip“ vielleicht an der Figur Haman. Er wird zum zweitmächtigsten Mann am persischen Hof ernannt (3,1), doch trotz eines königlichen Erlasses weigert sich Mordechai vor ihm niederzufallen (3,2). In seinem Hass beschließt Haman die Vernichtung aller Juden, doch am Ende fällt er vor der Jüdin Ester auf die Knie und bittet erfolglos um sein Leben (7,7). Am Ende wird er an dem Galgen, den er zur Hinrichtung Mordechais errichten ließ (4,14), aufgehängt (7,16). An seiner Stelle wird „der Jude Mordechai“ zum zweitmächtigsten Mann im Perserreich (10,2).  

 

3. Zum geschichtlichen Hintergrund

Das Buch Ester ist der frühste Beleg für das Motiv des Judenhasses, der bis zur Vernichtung des jüdischen Volkes führen kann. Der bis heute oft anzutreffenden Antijudaismus gegen jüdische Mitbürger und Mitbürgerinnen ist in den Worten Hamans deutlich zu erkennen: „Es gibt ein einziges Volk, das über alle Provinzen deines Reiches verstreut lebt, aber sich von den anderen Völkern absondert. Seine Gesetze sind von denen aller anderen Völker verschieden; auch die Gesetze des Königs befolgen sie nicht. Es ist nicht richtig, dass der König ihnen das durchgehen lässt“ (3,8). In der Zeit des Perserreiches (550 bis 330 v. Chr.), das sich durch seine Toleranz gegenüber den verschiedenen Religionen auszeichnete, ist eine solche Geschichte eigentlich nicht denkbar. Sie passt eher in die Zeit der Diadochenkämpfe nach dem Tod Alexanders des Großen (324 v.Chr.), in der zunehmend Judenhass und -verfolgung aufkamen.

Das Buch Ester ist kein Geschichtswerk, kein historischer Bericht, sondern eine literarische Erzählung. In ihr wird der persische König ins deutsche transkribiert Achaschverosch genannt („Artaxerxes“ in der revidierten Einheitsübersetzung gemäß der Septuaginta). Gemeint ist vermutlich Xerxes I. (486-464 v. Chr.). Die vielen persischen Lehnwörter und Namen, und viele Details über den persischen Staat, wie zum Beispiel die sieben fürstlichen Ratgeber (1,14), im Buch Ester sprechen dafür, dass der Autor sehr gut mit den Gegebenheiten im persischen Reich vertraut war – entweder aus erster Hand oder durch die griechischen Geschichtsschreiber vermittelt. Gegen die Geschichtlichkeit der Erzählung sprechen zum Beispiel, dass die Königin von Xerxes I. weder Washti noch Ester hieß, sondern Amestris. Auch werden Ester und Mordechai in keiner Quelle zu seiner Regierungszeit oder der eines späteren persischen Königs genannt. Und der persische König wählte seine Königin immer aus einer der sieben vornehmen Familien des Perserreiches aus – nicht durch einen Schönheitswettbewerb, den eine Frau ohne bekannte Herkunft gewinnen konnte. Sei es während der Zeit des Perserreiches oder erst später während des Hellenismus, egal wie man die Entstehung des Buches datiert, stellt der Autor mit seinem Buch die Frage: Welche Möglichkeiten und Grenzen ergeben sich für das Leben des jüdischen Volkes in der Diaspora?

 

4. Zur Theologie

Die jüdische Identität von Ester und Mordechai spielt die eigentliche Hauptrolle des Buches. Ester wird zur Königin, indem sie ihre jüdische Herkunft verschweigt (2,10.20). Mordechai gerät in Konflikt mit Haman, weil er ihm die verlangte Proskynese verweigert und sein Verhalten mit seinem Jude-Sein begründet (3,4). Die erste im Buch erzählte Religionsausübung ist sodann das Fasten und Wehklagen der Juden und Jüdinnen in 4,3 und Esters folgender Aufruf zum stellvertretenden Fasten bedeutet, auch wenn es nicht explizit geschrieben steht, ein Fürbitten vor Gott (4,16). Gott bleibt trotzdem weiterhin unerwähnt in der bibelhebräischen Version des Buches Ester. Alles dreht sich weiterhin nur um die jüdische Identität – am radikalsten ausgedrückt in dem Deutewort der Frau von Haman und seiner Freunde, die ihm verkünden: „Wenn dein Sturz vor Mordechai schon begonnen hat und er zum Volk der Juden gehört, wirst du nichts gegen ihn ausrichten, sondern du wirst gewiss durch ihn zu Fall kommen“ (6,13). Diese Worte weisen nicht auf eine Überlegenheit des jüdischen Volkes als Nation hin, sondern verweisen auf eine Macht, die hinter dem jüdischen Volk steht.

Ester wirkt wie so eine Macht im Verlauf der Geschichte. Ihr von Haman unterkanntes Wirken am Hof rettet das jüdische Volk. Sie wirkt im vor den Augen Hamans Verborgenen – bis es für ihn zu spät ist und er nichts mehr gegen sie ausrichten kann. Durch sie kommt er zu Fall. Im Verborgenen, zwischen den Zeilen wirkt auch Gott in der Geschichte – doch der Leser und die Leserin muss diese Leerstellen entdecken und mit dem eigenen Glauben erfüllen. Ein entscheidender Wendepunkt der Erzählung ist die Schlaflosigkeit des Königs in 6,1: Mitten in der Nacht lässt er sich die königlichen Chroniken bringen und ‚zufällig‘ entdeckt er darin eine nicht gewürdigte Heldentat Mordechais. Schon der griechische Übersetzer glaube nicht an Zufall und schrieb stattdessen: „Der Herr nahm jene Nacht hindurch den Schlaf vom König weg …“ (Ester-LXX 6,1). Gott handelt im Verborgenen: Mordechai wird nun im Nachhinein geehrt und Haman dadurch gedemütigt. Das Blatt hat sich gewendet – doch für die Rettung des jüdischen Volkes bedarf es noch der menschlichen Hilfe durch Ester. Ist es Gottvertrauen aus dem Ester ihre Stärke schöpft? Wirkt Gott durch Ester? – solche Fragen werden zur Beantwortung dem Leser und der Leserin überlassen. In gewisser Weise ist die Lektüre des Buches Ester eine Gottsuche.