Vielleicht ist Königin Waschti eine der ersten Feministinnen. Ihr Handeln führt jedenfalls zu einer Staatskrise und bietet die Grundlage für das Auftreten Esters.
1. Verortung im Buch
Unüblich für die alttestamentliche Art des Erzählens ist der Stil in den ersten Versen des Buches von einer gewissen Langsamkeit und Getragenheit geprägt (Verse 1-9). Ausführlich werden die Macht und Pracht des Königs dargestellt, die eine grundlegende Bedeutung für die Erzählung des gesamten Buches besitzen – und diese wird auch im letzten Kapitel des Buches wieder aufgenommen in dem abschließenden Lobpreis auf den Juden Mordechai, der nun der zweitbedeutendste Mann in Reich geworden ist: „König Artaxerxes verpflichtete das Land und die Inseln zum Frondienst. Alle großen und eindrucksvollen Taten und der genaue Bericht über die hohe Stellung Mordechais, die ihm der König verliehen hatte, sind in der Chronik der Könige von Medien und Persien aufgezeichnet.“ (Ester 10,1-2).
Innerhalb der ersten neun Verse des Buches wird bereits von drei Festgelagen berichtet und somit erklingt ein Hauptmotiv des ganzen Buches – auf insgesamt zehn Banketten entfalten sich die entscheidenden Ereignisse der Erzählung. In der Reaktion des Königs auf die Weigerung Waschtis erklingt erstmals zudem ein weiteres Motiv, das die weitere Geschichte prägen wird: „Da wurde der König erbost und es packte ihn großer Zorn.“ (Vers 12). Bigtan und Teresch planen aus Zorn einen Anschlag auf den König (Ester 2,21); Haman beabsichtigt aus Zorn das Volk der Juden zu vernichten (Ester 3,5-6) und Mordechai umbringen zu lassen (Ester 5,9); und schließlich lässt Ester den König zornig werden über Haman (Ester 7,7).
Weder Ester noch Mordechai spielen im ersten Kapitel des Buches eine Rolle. Aber die Erzählung der Weigerung Waschtis wird zur Folge haben, das Ester zur Königin wird. Der Ratschlag Memuchans in Vers 20 ist ein Vorverweis auf Ester: „Der König aber verleihe den Rang der Königin einer anderen, die würdiger ist als sie.“ Waschti ist sowohl Vorbild als auch Kontrast sowohl zu Ester als auch zu Mordechai. Während Waschti sich weigert vor den König zu kommen, wird Ester im Kontrast gerade durch das Erscheinen vor dem König, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, die entscheidende Wendung der gesamten Erzählung herbeiführen, obwohl das für sie zum Tod führen könnte (Ester 4,11). Und Mordechai widersetzt sich ebenso wie Waschti einem königlichen Befehl (Ester 3,3).
2. Aufbau
Nachdem eine ausgeschmückte Orientierung in Raum und Zeit den Lesern gegeben wurde (Verse 1-9), und das Festmahl der Eliten des Reiches (Verse 1-4), das Festmahl aller in der Stadt Susa (Verse 5-8) und - ganz kurz – auch das Festmahl der Frauen (Vers 9) geschildert wurde, eskaliert die Erzählung. In den Versen 1-8 werden 10mal von der hebräischen Wurzel מלך abgeleitete Worte verwendet, die die königliche Atmosphäre hervorheben – die Pracht und Macht, die durch das Verhalten Waschtis dann aus der Sicht des Königs und seiner Berater so radikal in Frage gestellt wird. Der König schildert seinen Beratern das Verhalten Waschtis (Verse 13-15), einer der Berater, Memuchan schlägt eine Lösung des Problems vor (Verse 16-20), die dann auch umgesetzt wird (Verse 21-22). Die Rede Memuchans ist geprägt vom „Verschwinden“ der Königin Waschti: Zunächst bezeichnet er sich noch als Königin (Verse 17-18), dann nennt er sie nur noch bei ihrem Namen (Vers 19) und am Ende in der Schilderung der Umsetzung seines Vorschlags durch den König wird sie gar nicht mehr genannt – in Ester 2,2 ist sie für den König nur noch eine traurige Erinnerung.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1: Auch wenn die antike, griechische Übersetzung – genannt Septuaginta – den hier genannten König als den persischen Herrscher Artaxerxes identifiziert, ist der im Hebräischen wiedergegebene Name אֲחַשְׁוֵרוֹשׁ (gesprochen: achaschverosch) eine Transkription des persischen Namens Ḫšajāršā, der in anderen griechischen Texten als Xerxes wiedergegeben wird. Der Name bedeutet "Herrscher der Helden". Durch die Nennung des Königs direkt im ersten Vers, "es war zur Zeit ..." wird die Erzählung vergleichar mit den Überschriften der Prophetenbücher in einer konkreten Zeit verortet - und direkt lokalisiert. Auch der antike, griechische Geschichtsschreiber Herodot beschreibt die Ausdehnung des persischen Weltreiches in der Zeit Xerxes I von Indien bis Äthiopien reichend (siehe auch die Erklärung zu Vers 2). Zu diesem Herrschaftsbereich gehörten während der Existenz des Persischen Reiches zwischen 20 und 31 Länder, bzw. Völker; diese Provinzen wurden Satrapien genannt. Vermutlich beziffert die Zahl 127 hier kleinere Verwaltungseinheiten. Diese hohe Zahl soll die Machtfülle des persischen Königs veranschaulichen.
Verse 2-3: Die Ruinen der Königsstadt Susa wurden im Südwesten des heutigen Iran nahe der irakischen Grenze gefunden. Susa war neben den Städten Ebkatana, Persepolis und Babylon einer der Regierungssitze des Perserkönigs, zwischen denen er im Verlauf des Jahres hin- und herzog. Die Formulierung, dass Achaschverosch / Xerxes I. damals, „in jenen Tagen“ seines dritten Regierungsjahres (siehe Vers 3) auf dem Thron, dem zentralen Machtsymbol, saß, hat verschiedene Bibelwissenschaftler dazu veranlasst, darin den Moment seiner Krönung zu erkennen. Kurz nach seiner Thronnachfolge musste er erst Aufstände in Ägypten und Babylonien niederschlagen, bevor er in seiner Macht gefestigt war und dann später Versuche unternahm Griechenland zu erobern (siehe auch Vers 4). Der hebräische Text nennt jedoch keinen konkreten Anlass für das im Folgenden beschriebene Freudenfest (siehe auch „Kontext“), in dem vor allem das Trinken im Vordergrund steht. Das hier verwendete hebräische Wort מִשְׁתֶּה (gesprochen: mischté) kann auch als „Trinkgelage“ übersetzt werden (siehe Vers 7). Anwesend bei diesem Fest ist die Elite des Reiches, die poitischen als auch die militärischen Beamten und Würdenträger - sowohl aus dem Kernland, die Perser und Meder, sowie aus den Provinzen. In der antiken, griechischen Geschichtsschreibung wird immer wieder auf die opulenten persischen Feste hingewiesen, die anders als in Griechenland keinen rituellen Charakter hatten; so seien auf manchen Festen ganze Rinder, Pferde, Kamele und Esel geröstet worden und 15.000 Männer hätten davon gegessen.
Vers 4: Der Königspalast in Susa wurde größtenteils von Xerxes I. Vater und Vorgänger Dareios erbaut und der Bau wurde von ihm abgeschlossen. Der antike, griechische Geschichtsschreiber Starbon berichtet, dass "die Perser den
Palast von Susa mehr als alle anderen“ bewunderten. Das Festgelage an diesem machtpolitisch wichtigen Ort hat repräsentativen Charakter und symbolisiert die königliche Macht. Der ganze Satzbau im Hebräischen verdeutlicht, dass dies der Sinn und Zweck der Feierlichkeit ist; dem dient auch die Nennung der vielen Tage, die das Fest andauert.
Verse 5-7: Die Feierlichkeiten werden am Ende, in den letzten sieben Tagen, in den Palastgarten verlegt und auf alle Bewohners der Königsstadt Susas – ohne gesellschaftliche Grenzen – ausgeweitet. In der persischen Königsideologie wird der König auch als Gärtner tituliert und der Garten symbolisiert seine Ordnungsmacht und zugleich die Bewältigung des weltlichen Chaos. Die zur Beschreibung der Sonnensegel, der Säulen, des Mosaikbodens und der Ruheliegen verwendeten Worte klingen auch im Hebräischen wertvoll und besonders – die Bedeutung einiger Worte ist aus heutigem Wissenstand gar unsicher. Schon in antiken griechischen Geschichtsquellen wird darauf verwiesen, dass die Perser bei ihren Festgelagen Trinkgefäße in unterschiedlichsten Formen verwendeten, die wahrscheinlich von Hand ohne Vorlagen oder Schablonen gefertigt waren.
Vers 8: Zum Trinkgelage gab es eine königliche Verordnung. Antike Quellen lassen verschiedene Schlüsse zu, ob auf königlich-persischen Festen ein Trinkzwang herrschte. Die Wortwahl im Hebräischen deutet jedoch eher daraufhin, dass entweder das Hofprotokoll für die Feierlichkeit aufgehoben wurde oder im Anschluss an Vers 7 jeder so viel von dem reichlich ausgeschenkten Wein trinken durfte, wie er wollte.
Vers 9: Eine persische Königin mit dem Namen Waschti ist in keiner historischen Quelle außerhalb des Buches Ester belegt. Der Name der Ehefrau und Königin von Xerxes I. war Amestris – und über sie ist keine der Erzählung des Esterbuches vergleichbare Geschichte überliefert. Auch ist die Bedeutung des Namens unklar. Es wird diskutiert, ob der Name sich von einem altpersischen Wort ableitet und vielleicht „die Beste“, „Schönste“, oder auch „die Gewünschte“ oder „Geliebte“ bedeutet. Sie veranstaltet parallel zu dem Fest im Garten innerhalb des Palastes ebenso ein Festgelage für Frauen. Dass Waschti von Frauen umgeben ist, hat eine wichtige Bedeutung für das von Memuchan in Ver 17 vorgetragene Argument.
Verse 10-11: Am Ende des Festes will der König seinen Gästen seine Königin als Krönung seines Reichtums und seiner Pracht zur Schau stellen. Umschreibend steht im hebräischen Text, dass der König „fröhlich war beim Wein“, was nichts anderes bedeutet, als dass er betrunken war. Der Satzbau und die Wortwahl klingen an Vers 4 an, womit verdeutlicht wird, dass die Königin ebenso wie der Reichtum zur Schau gestellt werden soll. Die Betonung, dass sie mit ihrem Diadem, der Frauenkrone, vor der angetrunkenen Gesellschaft erscheinen soll, verweist darauf, dass ihr Kommen einen gewissen zeremoniellen Charakter hat – dies wird auch deutlich durch die Gesandtschaft von sieben vertrauten Dieners des Königs – wörtlich übersetzt bedeutet ihr Titel „die zum Kopf des Königs gehören“. Das Diadem zeigt weniger die Stellung der Königin in ihrer eigenen Macht an, als dass es sie in Verhältnis zum König beschreibt. Das Diadem ist ein königlicher Kopfschmuck, mit dem zum Beispiel auch das Pferd, auf dem Mordechai zur Ehre reiten darf, geschmückt wird (Ester 6,8).
Vers 12: Der Kontrast zur Machtentfaltung durch die Pracht der zuvor beschriebenen Festgelage könnte nicht größer sein. Der reiche und prächtige Herrscher über viele Völker wird von seiner Frau gedemütigt, die auf seinen Wunsch hin nicht erscheint. Warum sie sich weigert, wird nicht erzählt (siehe „Kontext“) – auch der Erzähler wertet dies nicht, sondern wendet sich ganz dem König zu, dessen Wut als überbordend dargestellt wird.
Verse 13-14: Der König berät sich nun mit – wörtlich übersetzt – „den Weisen, die die Zeiten kennen“. In der Hebräischen Bibel ist die Zeit kein von den Geschehnissen zu trennendes Abstraktum: Zeit ist eine Abfolge von Ereignissen. Es handelt sich also um Berater des Königs, die sich mit der persischen Geschichte auskennen und daraus Schlüsse für die Gegenwart ziehen können – und die zudem als Rechtsgelehrte ausgewiesen werden. Dieses Siebenergremium gehört dem inneren Machtkreis des Königs an, durch das er sich beraten lässt. Sie sind es, die zugleich im Kerland des Reiches, in Persien und Medien, loyal seine Macht sichern. Auffallend ist, dass die Zahl 7 eine hervorgehobene Rolle spielt: Sieben Diener werden am siebten Tag des Festes ausgesendet, um Waschti herbeizuholen - und nach ihrer Weigerung berät sich der König mit seinem aus sieben Personen bestehenden Hofrat (siehe auch Ester 2,9.16). In der Hebräischen Bibel steht die Zahl 7 für Vollkommenheit, während für die Perser diese Bedeutung eher die Zahl 3 oder ihre Mehrzahl 6 und 9 tragen.
Vers 15: Erstmals innerhalb des Buches Ester erklingt eine direkte Rede. In ihr wird aus der Weigerung Waschtis ein Rechtsfall und eine Staatsangelegenheit. Betont am Anfang des Satzes steht die Frage „nach dem Gesetz“ – das bedeutet nicht, dass nach einer Rechtsnorm gesucht wird, sondern die Frage gestellt wird, wie der König innerhalb des Rechtssystems nun zu verfahren hat.
Verse 16-20: Memuchan verweist darauf, dass Waschti sich nicht nur gegen den König als Person, sondern gegen dessen Macht gewendet hat. Seine These lautet: Ein Vergehen gegen den König bedeutet ein Vergehen gegen alle seine Untertanen. Diese Generalisierung erklärt er im Folgenden, um dann seinen Rat zu erteilen. In Vers 18 wird deutlich, dass sein Ratschlag am letzten Tag des Festgelages und daher vielleicht in betrunkenem Zustand ergeht. Zudem ist zu bedenken, dass erzähltechnisch er nicht abstrakt die Bedeutung Waschtis Verhaltens für Beziehung von Ehepartnern reflektiert, sondern im Endeffekt der Einfluss ihrer Entscheidung auf seine Ehe ebenso bedacht ist (wenn er verheiratet ist). Um eine Lawine der Emanzipation zu verhindern, soll der König ein Edikt erlassen, das – so wird es im hebräischen Text betont – „nicht übertreten wird“. Waschti wird als Königin abgesetzt und somit zu einer Nebenfrau im Harem degradiert (siehe Ester 2,14). An ihre Stelle soll eine Frau treten, die sowohl im Ästhetischen als auch im Ethischen „besser“ als sie ist. Abschließend in Vers 20 betont Memuchan nochmals, dass durch die individuelle Handlung Waschtis sich eine universale Scham auf den König in seinem Reich gelegt hat, die durch das allgemeingültige Edikt aufgehoben wird.
Verse 21-22: Der König befolgt den Rat Memuchans. Umstritten ist die Auslegung des letzten Teilverses – wörtlich: dass jeder Mann „in der Sprache seines Volkes spreche“. Die antike, griechische Übersetzung vereindeutig die Aussage zu „dass Furcht vor ihnen [d.h. den Ehemännern] sei in ihren Häusern“. Der hebräische Text bezieht sich vielleicht darauf, dass das in den Sprachen des Reiches verkündete Gesetz vom Mann in seiner Sprache gegenüber seiner Frau zitiert werden kann.