Retardierende Momente zeigen die geschickt agierende Ester und den machttrunkenen Haman.
1. Verortung im Buch
Scheinbar wird die Handlung verzögert. Im vorherigen Kapitel herrschte noch eine dramatische Stimmung: Wird Ester den Mord an allen Juden und Jüdinnen im persischen Reich verhindern können? Stattdessen folgt weinselige Stimmung, die das Buch schon seit dem ersten Kapitel durchzieht – bei den großen königlichen Festen in Ester 1,3.5.9; beim Festmahl zur Krönung Esters in Ester 2,18 und nach der Verkündigung des Edikts gegen die Juden in Ester 3,15. Das Motiv der Gastmähler zieht sich weiter als roter Erzählfaden durch die Geschichte.
Während in Ester 4,11 die Königin noch beschrieben hatte, welche Gefahr ein ungerufenes Vortreten in der Audienzhalle des Königs bedeutet, wird nun erzählt, wie selbstverständlich der König Ester dieses Privileg eingesteht. Doch anstatt nun, wie von Mordechai erbeten, um die Rettung des jüdischen Volkes zu bitten (Ester 4,8), lädt Ester wiederholt den König und Haman zu Gastmählern ein. Die Erzählung wird entschleunigt – und Ester tritt als selbstständig handelnde Protagonistin auf. Auf diese Entschleunigung folgt jedoch eine dramatische Wendung. Haman und Mordechai treffen wieder aufeinander; und nun wird deutlich, dass es dem Hofmarschall um persönliche Rache gegen „Mordechai, den Juden“ geht.
Der zweite Teil dieses Kapitels (Verse 9-14) ist bewusst parallel zum ersten Kapitel aufgebaut. Dort folgt auf den freudigen Höhepunkt, das große Festmahl, die Verweigerung Waschtis, dann die Beratung des Königs mit seinen Fürsten und die Bestrafung der Königin. Nun folgt in Ester 5,9-14 auf das Gastmahl des Königs, Esters und Hamans, die Weigerung Mordechais gegenüber Haman, dessen Beratung mit seiner Familie und die Absicht ihn durch eine öffentliche Hinrichtung zu bestrafen. Es ist fast so, als wäre Haman in die Rolle des Königs geschlüpft – doch seine Hybris wird so vom Erzähler den Lesenden vorgeführt. Das von Ester ausgerichtete erste Gastmahl und das erbetene zweite Gastmahl (5,1-8; 7,1-10) umrahmen zwei Szenen im Haus Hamans (5,9-14; 6,12-14), in deren Mitte Mordechais Ehrung steht – und am Ende des zweiten Gastmahls kommt es zum Fall Hamans.
2. Aufbau
Ester 5 ist zweigeteilt. In den Versen 1-8 wird Ester zur Handlungsführerin. Geschickt schreitet sie voran von der Planung des Bankets „für ihn“ den König (Vers 4) hin zum zweiten Festmahl „für sie“, den König und Haman (Vers 8). So wird schon angedeutet, dass die Strategie Esters auf Haman zielt.
Der zweite Teil des Kapitels (Verse 9-14) ist gerahmt durch Hamans Freude. Er verlässt freudig und weinselig das Festmahl – doch die Begegnung mit Mordechai und dessen wiederholte Weigerung – führt zur Eskalation. Erst der Plan, ihn hinrichten zu lassen, lässt Haman wieder froh werden (סמח in den Versen 9.14)
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1: In Ester 4,16 hatte Ester für die Juden und Jüdinnen in Susa ein dreitätiges Fasten angeordnet – nun, am dritten Tag, schlüpft sie sozusagen in ihre Rolle als Königin und verdeutlicht durch ihr Äußeres ihren Status. In den griechischen Textversionen wird der Übergang vom Fasten sogar noch deutlicher beschrieben: „Und es geschah am dritten Tag, als sie aufgehört hatte zu beten, da zog sie die gottesdienstlichen Gewänder aus und war ihren Glanz um“ (LXX Ester 5,1). Vielleicht ist auch ein Kontrast zum Verhalten von Waschti in Ester 1 angespielt. Sie weigerte sich mit dem königlichen Diadem vor der Festgemeinschaft zu erscheinen; nun zeigt sich Ester als Königin dem König.
Verse 2-3: Der Szene liegt eigentlich eine tödliche Dramatik zugrunde: „Alle Diener des Königs und alle Einwohner der königlichen Provinzen wissen, dass für jeden, Mann oder Frau, der zum König in den inneren Hof geht, ohne gerufen worden zu sein, ein einziges Gesetz gilt: Man tötet ihn. Nur wenn der König ihm das goldene Zepter entgegenstreckt, bleibt er am Leben“, lässt Ester zu Mordechai in Vers 11 des vorherigen Kapitels sagen. Das Innenleben von Ester, ob sie mutig ist oder Angst hat, wird nun am Anfang des Kapitels nicht beschrieben. Der Erzähler berichtet nun, dass Ester im „inneren Hof“ sich so positioniert, dass der König sie aus dem Königshaus von seinem Thron sehen konnte – und sie mit der Geste des ausgestreckten Zepters einlädt. Wie schon in Est 2,15.17 findet sie Gunst in den Augen des Königs; und diese positive Grundstimmung zeigt sich auch in den Worten des Königs, der – um seine Pracht und Großzügigkeit zu zeigen - bewusst übertreiben ihr alles „bis zur Hälfte des Königsreiches“ als Wunscherfüllung geben würde (siehe die Wiederholung in Vers 6 und 7,2). Es ist unvorstellbar, dass der König ohne seine Entourage auf dem Thron saß, doch in dieser Szene werden die anderen Personen ausgeblendet, um die nun etablierte Nähe zwischen König und Königin zu verdeutlichen. Üblicherweise war die große Distanz zum König ein Symbol seiner Machtfülle – sie wird hier nicht nur durch das Zepterritual überbrückt, sondern auch durch das Ausblenden der Entourage. Zugleich fällt auf, dass der Erzähler den König Ester immer in ihrem Status als Königin anreden lässt und somit zeigt, dass er sie würdigt. Auch Ester redet den König ehrerbietend an! Vielleicht ein Zufall, vielleicht ein versteckter Hinweis: Aus den Anfangsbuchstaben des Wunsches Esters יבוא המלך והמן היום ergibt sich der Gottesnamen JHWH.
Vers 4: Wie üblich im Buch Ester leitet die Königin einen Vorschlag für den König mit den Worten „Wenn es dem König gefällt…“ ein (auch Ester 1,19; 3,9; 9,13). Diese Formulierung ist formaler Ausdruck der Achtung vor dem Souverän. Trotz aller Machtspiele ist der König der Letztentscheider. Die folgende Einladung von Ester deutet jedoch in gewisser Weise einen Rollentausch ein, da der mächtige Gast und mit ihm sein Hofmarschall Haman nun zu Gästen im Königinnenpalast werden.
Vers 5: Die Reaktion des Königs überrascht in ihrer Intensität. Er nimmt die Einladung nicht nur an, sondern lässt eilig Haman herbeibringen, um dem Wunsch seiner Königin zu entsprechen. Hierin wird den Lesenden nochmals deutlich, dass der König über seinen Hofmarschall verfügen kann.
Verse 6-8: Beim Festmahl entschleunigt sich die Erzählung nochmals, in dem nun sich das erste Gespräch des Königs und Esters wiederholt und wieder schreitet Ester nicht zu ihrer eigentlichen Bitte voran, sondern lädt erneut zu einem Gastmahl, am nächsten Tag, ein. Bemerkenswert ist, dass sie die in Vers 4 verwendete Höflickeitsformel noch weiter ausbaut: „Wenn ich beim König Gnade gefunden habe und es ihm gefällt, mir zu geben, worum ich bitte, …“ – und nun ist das neue Gastmahl nicht mehr nur für den König, sondern für den König und Haman.
Verse 9-10: Die Stimmung kippt. Weinselig kommt Haman vom Gastmahl. Der hebräische Ausdruck לב טוב, der hier mit „gut gelaunt“ übersetzt ist, verweist im Alten Testament häufig auf einen betrunkenen Zustand, aus dem eine folgende Fehlentscheidung resultiert, hin (vgl. Richter 16,25). Mordechai fastet nun anscheinend nicht mehr und befolgt auch keine Selbstminderungsriten mehr, sondern er sitzt wieder an seinem Ort im Tor des Palastes. Während er sich in Ester 3,2 geweigert hatte, vor Haman niederzufallen, wird nun erzählt, dass er nicht einmal aufstand, als sie sich begegnen. Darin kann man eine Radikalisierung des Streites von Seiten Mordechai erkennen – er zollt Haman nicht des mindesten Respekts. In Haman entbrennt eine zügellose Wut, die er für den momentan jedoch noch kontrolliert und stattdessen nach Hause geht, um sich mit seiner Familie zu beraten.
Verse 11-12: Der Autor macht sich über Haman lustig, indem er den Hofmarschall denen, die als seine Familie doch von seinem Standing wissen, von seinem hohen Status erzählt. Er redet also eher zu sich selbst und vergewissert sich seines Status. Am Ende wird er seinen Reichtum verlieren (8,1-2); seine Söhne werden gehängt (9,6-10.13-16) und Mordechai tritt an seine Stelle (9,3-4; 10,1-3). Die Selbstüberheblichkeit Hamans wird in Vers 12 überdeutlich: In seinen Worten klingt es so, als sei der König mit ihm eingeladen; nicht er mit dem König. Er fühlt sich von Esters Einladung gebauchschmeichelt – das ist ihr Plan.
Verse 13-14: Der persönliche Hass Hamans auf Mordechai leitet ihn. Dass dieser Hass sich auf Mordechai als Juden bezieht, wird betont. Mordechai hatte seine Weigerung, sich vor Haman niederzuwerfen, (vielleicht) mit seiner eigenen jüdischen Identität begründet (Ester 3,4). Wie aus einem Mund sagen seine Frau und seine Freunde: Mordechai solle hingerichtet werden, wie die Verschwörer gegen den König, die Mordechai aufgedeckt hatte (Ester 2,21-23). Sie sehen also Mordechai wie einen Verschwörer, der Haman in seinem königgleichen Status bedroht. Sie reden so, als könnte Haman dem König gar befehlen, Mordechai hinrichten zu lassen. Der Galgen oder das Kreuz wird sogar aufgerichtet, bevor der König um die Hinrichtung gebeten wird. Es geht nun nicht mehr einfach um den Tod Mordechais, sondern um eine öffentliche, gut und weit sehbare Hinrichtung an einem sieben Stockwerke Balken soll er hängen!