Der Aufstieg Hamans führt zur Planung eines Genozids. Eben noch las man vom Aufstieg Esters von der jüdischen Waise zur persischen Königin; nun sieht alles danach auch, dass das Volk, aus dem sie stammt, vernichtet wird.
1. Verortung im Buch
Nun tritt der Antagonist und damit die vierte, wichtige und letzte Hauptperson des Buches Ester auf: Haman, der „Feind der Juden“ (Vers 10). Das vorherige Kapitel war mit der Verhinderung eines Mordkomplottes gegen den König geendet. Der Jude Mordechai hatte zusammen mit Ester den König frühzeitig gewarnt und ihn so gerettet. Eigentlich hätte man eine Belohnung oder eine Würdigung für den Königstreuen erwartet – doch davon wird am Ende von Ester 2 nicht erzählt (siehe später Ester 6,1-3). Entgegen der Erwartung der Lesenden tritt nun unvermittelt Haman auf, der – ohne dass die Lesenden den Grund dafür erfahren – zum Hofmarschall und somit zur zweitmächtigsten Person im Reich aufsteigt. Dem in Ester 2 erzählten Aufstieg der jüdischen Waise zur Königin des Perserreiches wird nun also der Aufstieg Hamans, des Feindes der Juden, in Ester 3 gegenübergestellt – und die Situation eskaliert direkt; aber das Jüdisch-Sein Esters bleibt Haman vorerst verborgen.
Die Rolle Haman wird fortan das gesamte Buch hindurch stets durch Zusätze zu seinem Namen verdeutlicht; so wird er zum Beispiel in Ester 3,10; 8,1; 9,10 als „Feind der Juden" bezeichnet und abschließend in Ester 9,24 als „Feind aller Juden“.
2. Aufbau
Die ersten Verse des Kapitels erzählen vom Aufstieg Hamans und seinem Hochmut (Verse 1-6). Mordechai kreuzt seinen Weg und verbeugt sich ihm gegenüber nicht. Die Begründung für dieses Verhalten bleibt offen, doch es hat damit zu tun, dass Mordechai ein Jude ist (Vers 4). Aus der persönlichen Fehde zwischen Haman und Mordechai entwickelt sich ein das gesamte jüdische Volk betreffendes Drama: Haman plant den Völkermord und überzeugt den persischen König, dass er diesem mörderischen Plan zustimmt (Verse 8-11).
In den Versen 7.12 (siehe auch Vers 13) geschieht eine zeitliche Einordnung – die Erzählung in Ester 3 ereignet sich 5 Jahre nach der Krönung Königin Esters und in dem Monat, in dem das Volk Israel eigentlich seine Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten feiert.
Doch nun rollt die persische, bürokratische Vernichtungsmaschine an und es verbleiben nur noch elf Monate bis zum Genozid (Verse 12-15). Das Kapitel endet dann in einem abstrusen Bild: Während der König und sein Hofmarschall das Edikt zum Völkermord ausgelassen ‚begießen‘, also ein privates Trinkgelage feiern, sind ihre Untertanen – nicht nur die Juden – erschüttert und in Aufruhr (Vers 15).
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1: Wie auch Ester 1 beginnt dieses Kapitel mit den Worten „nach diesen Ereignissen“ und zeigt so einerseits eine Verbindung zum vorherigen Aufstieg Esters und vor allem zum durch Mordechai verhinderten Mordkomplott auf. Andererseits ist der zeitliche Rahmen offen und in Vers 7 wird deutlich, dass fünf Jahre seit der Krönung Esters vergangen sind. Ebenso unvermittelt wie die Einführung Mordechais in Ester 2,5 geschieht nun die Einführung des für den Erzählverlauf wichtigen vierten und letzten Protagonisten Haman. Sein Aufstieg zur zweitmächtigsten Person, zum Hofmarschall im persischen Reich wird festgestellt – ohne dass die Leser und Leserinnen erfahren, wodurch er sich diese Erhebung verdient hat. Ein sprachliches Details ist hier besonders interessant. Die Beförderung wird im Hebräischen unter anderem durch das Verb גדל ausgedrückt, das eigentlich das Aufziehen von Kindern oder das Wachsen von Pflanzen beschreibt. Im politischen Sinne wird es fast ausschließlich mit Gott als Subjekt verwendet, wie auch König David gegenüber Gott erklärt: „es steht in deiner Hand, alles groß und stark zu machen“ (1 Chronik 29,12). Dass der Aufstieg Hamans für die Juden Mordechai und Ester zum Problem werden wird, ist bereits bei seiner ersten Nennung angedeutet. Sowie Mordechai direkt mit seiner kultisch-religiösen, ethnischen Zugehörigkeit eingeführt wurde („ein jüdischer Mann“, Ester 2,5), so wird Haman, nach der Nennung seines Vaters, direkt als Agagiter vorgestellt. In 1 Samuel 15,1-9 wird von einem Krieg des israelitischen Königs Sauls gegen die Amalekiter und ihren König Agag erzählt. Gott befielt Saul, das Volk der Amalekiter und deren Besitz vollständig zu vernichten, doch er verschont deren König Agag und bereicherte sich am Besitz des Volkes, woraufhin König Saul von Gott verworfen wird. In dieser Erzählung wird darauf verwiesen, dass das Volk der Amalekiter vernichtet werden solle, da es sich dem Volk Gottes „in den Weg gestellt [hat], als Israel aus Ägypten heraufzog“ (1 Samuel 15,2). Am Ende des im Buch Exodus erzählten Kampfes in der Wüste zwischen Israel und Amalek, verkündet Gott: „ich will die Erinnerung an Amalek unter dem Himmel austilgen“; und Mose ruft aus: „Krieg ist zwischen dem HERRN und Amalek von Generation zu Generation.“ (Exodus 17.14.16; siehe auch Numeri 24,7.20). Dieser Krieg zeichnet sich nun, durch die Bezeichnung Hamans als Agagiter am Horizont ab. Eine Andeutung hierfür findet sich vielleicht bereits in Ester 2,5: Der Vater Mordechais trägt denselben Namen wie der Vater Sauls – Kisch (1 Samuel 9,1). In Mordechai und Haman treten sich sozusagen – ein neuer – Saul und – ein Nachfahren von - Agag erneut gegenüber.
Vers 2-4: Die Proskynese, d.h. die Ehrerbietung gegenüber Göttern, Königin und hohen Beamten war im Alten Orient nichts Unübliches. Der persische König hatte erlassen, dass jeder Torwächter – zu denen vielleicht auch Mordechai gehörte -, sich vor Haman niederbeugen und auf den Boden niederwerfen muss, um ihm Ehre zu erweisen. Die geforderte zweiteilige Handlungsabfolge wird im restlichen Alten Testament aber nur gegenüber Gott gefordert: „Denn dem HERRN gehört das Königtum; er herrscht über die Nationen. Es aßen und warfen sich nieder alle Mächtigen der Erde. Alle, die in den Staub gesunken sind, sollen vor ihm sich beugen.“ (Psalm 22,29; siehe auch Ps 95,6: „Kommt, wir wollen uns niederwerfen, uns vor ihm verneigen, lasst uns niederknien vor dem HERRN, unserem Schöpfer!“). Doch der Grund, warum Mordechai dem Hofmarschall Haman die Ehrerbietung verweigert, wird nicht erzählt, auf die mehrfache Nachfrage der Torwächter gibt es keine wörtliche Antwort Mordechais. Der Erzähler berichtet nur, dass Mordechai auf sein Jüdisch-Sein hingewiesen hat. Seine Weigerung und diese Begründung werden Haman mitgeteilt.
Verse 5-6: Mordechai verweigert im Endeffekt einen königlichen Befehl. Die Folgen einer solchen Verweigerung sind den Lesenden aus dem Handeln Waschtis und dessen Folgen, in Ester 1 erzählt, bekannt. Nun ist jedoch nicht der König verärgert, sondern Haman ist – wörtlich übersetzt - „mit Zorn erfüllt“. Aus der persönlichen Spannung, bzw. der Hofgeschichte ist die Geschichte eines geplanten Genozids geworden. Ein ironischer Zug der Erzählung wird hier auch in der Wortwahl deutlich. Der königstreue Mordechai, der ein Attentat gegen den König vereitelt hatte, ist nun selbst bedroht, ermordet zu werden – sowohl der verhinderte Mordkomplott als auch die Tötungsabsicht Hamans wird im Hebräischen durch die Formulierung לשלוח יד ausgedrückt.
Vers 7: Nun werden die in diesem Kapitel erzählten Ereignisse zeitlich eingeordnet: fünf Jahre nach der Krönung Esters, in dem Monat, in dem Israel das Pessachfest feiert und seiner Befreiung aus Ägypten gedenkt (siehe Levitikus 23,5). Das Los entscheiden zu lassen, war eine im Alten Orient und auch im Alten Testament verbreitete Praxis, um einen Gottesentscheid zu erwirken. Hier nun dient der Loswurf der Datumsfindung – wofür bleibt dem Leser und der Leserin aber vorerst verborgen (siehe Vers 13). Noch bevor Haman mit seiner mörderischen Absicht an den König herantritt und so den Genozid vorbereitet, lässt er bereits über das Datum dafür entscheiden. Dadurch wird deutlich, dass er den König im Folgenden für seine Tat instrumentalisiert – das Los ist also gefallen. Das Wort „Pur“, das hier als „Los“ erklärt wird, stammt aus dem Akkadischen und bedeutet auch „Schicksal“.
Vers 8: Das Vorgehen Hamans wird direkt zu Beginn seiner Rede in einem kleinen Detail deutlich. Er redet den König direkt in der zweiten Person an („dein Reich“) und wechselt dann erst in die standesgemäße Anrede in der dritten Person („Gesetze des Königs“). Er legt der folgenden Argumentation somit sowohl seine persönliche Beziehung zum König als auch dessen Autorität zugrunde. Ebenso wie die Berater des Königs im ersten Kapitel das Verhalten Waschtis auf alle Frauen im Reich bezogen haben (Ester 1,17), so überträgt nun Haman das Verhalten Mordechais auf alle Juden und Jüdinnen im Reich. Die Exilssituation (vgl. Ester 1,6) wird zum Anklagepunkt; sie leben verstreut und abgesondert in den Siedlungsgebieten anderer Völker. Und das Verhalten Mordechais wird zum Präzedenzfall stilisert. Das Gesetz der Israeliten steht ihm Widerspruch zum Gesetz des Königs – und beide werden durch das Wort דת definiert. Dieses persische Lehnwort ist unüblich für die Bezeichnung der Torah Israels, aber findet sich in Deuteronomium 33,2 als Auszeichnung Israels gegenüber den anderen Völkern. Angespielt wird hier unter anderem auf die jüdischen Speisegebote, Essenvorschriften sowie vor allem dem Alleinverehrungsanspruches ihres Gottes. Die von Haman vorgetragene Generalisierung trifft bei den Lesenden auf Verwunderung nach der Darstellung Mordechais in Ester 2,21-23 als integrierten, königtreuen Juden. Auch historisch ist der Vorwurf ungenau, da es für die verschiedenen Völker im Perserreich durchaus die Möglichkeit eines Partikularrechtes gab – insofern dadurch die Autorität des Königs nicht in Frage gestellt wurde. Die Argumentation Hamans zielt nun ebenso wie die Argumentation des Berater Memuchan in Ester 1,16-20 darauf, dass die Autorität des Königs bedroht ist.
Vers 9: Haman formuliert seine Absicht – den organisierten Völkermord – als ein Wollen des Königs. Unklar ist, was es mit der genannten Geldsumme auf sich hat. 10.000 Talente Silber sind in der damaligen Zeit ein immens hoher Betrag; die gesamte Steuereinnahmen des persischen Königs in einem Jahr beliefen sich nach Quellenangaben auf 7.600 bis 14.560 Silbertalente. Zwei Deutungen sind möglich: (1.) Haman beziffert mit 10.000 Talente die durch den Völkermord in den Besitz des Königs übergehenden Reichtümer und Besitzungen der Ermordeten – für diese Deutung spricht vielleicht die Antwort des Königs in Vers 10, wörtlich: „das Silber sei Dir gegeben/überlassen“; er kann sich also durch die Plünderung, die gemäß Vers 13 erlaubt wird, selbst bereichern. (2.) Die Summe beziffert den Betrag, den Haman für die Erlaubnis zum Völkermord dem König zu zahlen bereit ist. In 2 Makkabäer 8,9-11 wird erzählt, dass der seleukidische Befehlshaber Nikanor, entgegen dem Befehl die Juden zu töten, sie als Sklaven verkaufte. Die Tötung der Juden anstatt sie als Sklaven zu verkaufen könnte somit als Verlust für den persischen König verstanden werden, der von Haman ausgeglichen wird. In Ester 7,4 sagt Königin Ester dann zu dieser Interpretation passend zu ihrem König: „Denn man hat mich und mein Volk verkauft, um uns auszurotten, hinzumorden und zu vernichten. Wenn man uns als Sklaven und Sklavinnen verkaufen würde, hätte ich nichts gesagt; denn dann gäbe es keinen Feind, der es wert wäre, dass man seinetwegen den König belästigt.“
Verse 10-11: Der König legt in der Form des Siegelringes das Schicksal der Juden in die Hand Hamans. Wie Joseph in Ägypten (Genesis 41,42) wird Haman durch die Überreichung dieses Machtsymbols die Ausübung stellvertretender herrschaftlicher Gewalt übertragen. Dies wird vom Erzähler eindeutig kommentiert, indem er Haman als „Feind der Juden“ tituliert, der nun die Macht hat, das Volk auszurotten. Das Silber und das Volk übergibt der König in die Hände Hamans, um mit beiden nach seinem Gutdünken zu verfahren.
Verse 12-14: Die in diesem Vers verwendeten Verben stehen im Passiv und lesen sich wie eine anrollende, unpersönliche Vernichtungsmaschinerie. Das Todesedikt wird einen Tag vor der Pessachfeier (vgl. Lev 23,5) veröffentlicht. Die Juden sind an dem Tag, an dem sie sich eigentlich auf die Feier der Befreiung aus der Sklaverei vorbereiten sollten, mit dem bevorstehenden Genozid bedroht. Den Juden verbleiben noch 11 Monate – am 13. des Monats Adar sollen sie getötet werden. Mit diesem Datum ist dann später in den Büchern der Makkabäer eine entscheidende Schlacht verbunden: Am 13. Adar 161 v. Chr. standen sich die Makkabäer und die seleukidische Armee unter der Führung Nikanors gegenüber. Die Makkabäer gewannen diese Schlacht und Nikanor wurde getötet (siehe 2 Makkabäer 15).
Vers 13: Auffallend ist die dreigliedrige Formulierung der Tötungsabsicht: ausrotten, töten, vernichten. Das Volk soll vollständig ‚ausradiert‘ werden und keine der Gruppen, die normalerweise im Krieg verschont werden, soll am Leben bleiben.
Vers 15: Der Kontrast zwischen der Machtzentrale, dem König und seinem Hofmarschall, die ihre Tat feierlich ‚begießen‘ und der Reaktion auf das Edikt in der Hauptstadt Susa könnte nicht größer sein. Der Feierlaune steht Verzweiflung und damit Emphatie der Bevölkerung gegenüber.