Das Buch Rut

Rut 3,7-15: Rut, die Exegetin

7Als Boas gegessen und getrunken hatte und es ihm wohl zumute wurde, ging er hin, um sich neben dem Getreidehaufen schlafen zu legen. Nun trat sie leise heran, deckte den Platz zu seinen Füßen auf und legte sich nieder.

8Um Mitternacht schrak der Mann auf, beugte sich vor und fand eine Frau zu seinen Füßen liegen.9Er fragte:

Wer bist du?

Sie antwortete:

Ich bin Rut, deine Magd. Breite doch den Saum deines Gewandes über deine Magd, denn du bist Löser.

10Da sagte er:

Gesegnet bist du vom HERRN, meine Tochter. So zeigst du deine Güte noch schöner als zuvor; denn du bist nicht den jungen Männern, ob arm oder reich, nachgelaufen.11Jetzt aber, fürchte dich nicht, meine Tochter! Alles, was du sagst, will ich dir tun; denn jeder im Tor weiß, dass du eine tüchtige Frau bist.12Gewiss, ich bin Löser, aber es gibt noch einen Löser, der näher verwandt ist als ich.13Bleib über Nacht, und wenn er dich dann am Morgen lösen will, gut, so mag er lösen. Wenn er dich aber nicht lösen will, so werde ich dich lösen, so wahr der HERR lebt. Bleib liegen bis zum Morgen!

14Sie blieb zu seinen Füßen liegen bis zum Morgen. Doch noch ehe man einander erkennen konnte, stand sie auf. Denn Boas wollte nicht bekannt werden lassen, dass die Frau auf die Tenne gekommen war.

15Er sagte zu ihr:

Reich mir das Tuch, das du umgelegt hast.

Sie hielt es hin und er füllte sechs Maß Gerste hinein und lud es ihr auf. Dann ging er zur Stadt.

Überblick

In der Intimität der Nacht, an Boas Beinen liegend, wird Rut zur Gesetzesauslegerin und denkt nicht nur an sich oder Boas, sondern auch an Noomi. Sie ist keine Frau, die einfach auf einen Befehl des Mannes wartet.

 

1. Verortung im Buch

Noomis Plan zielt darauf ab, dass es Rut gut gehen soll (Rut 3,1). Auf der Tenne sieht Rut, wie es Boas gut geht (Vers 7). Boas, der bereits im vorherigen Kapitel als möglicher Löser vor- und als Gönner dargestellt wurde (Rut 2,1.15-16), soll nun die Not Ruts und Noomis beenden. Das Geschehen im Tageslicht des vorherigen Kapitels wird in der Dunkelheit der Nacht fortgesetzt.

 

2. Aufbau

Die Nacht des Geschehens teilt sich in drei Phasen: (1.) Der Abend, der zur dunklen Nacht wird (Vers 7); (2.) das Gespräch um Mitternacht (Verse 8-13); der Abschied bei Morgengrauen (Verse 14-15). Am Ende wird aus dem Essen und Trinken Boas‘ (Vers 7), eine erneute Versorgung mit Getreide für Rut und Noomi (Vers 15).

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 7: Zufrieden legt sich Boas nach dem Abendessen nicht einfach neben den Getreidehaufen, sondern, wie es wörtlich heißt, an dessen Ende. Vermutlich sind damit ein abgelegener Ort und somit die für den Plan die notwendige Verborgenheit angedeutet. Rut befolgt die Anweisungen Noomis, und legt sich zu dem bereits liegenden Boas an dessen Beine.

Vers 8: Erst um Mitternacht erwacht Boas. Wörtlich heißt es im Hebräischen: „er erbebte“. In der Auslegungsgeschichte finden sich unterschiedliche Annahmen, warum Boas plötzlich mitten in der Nacht aufwacht. Friert er? Hat er einen Orgasmus? Doch der Phantasie mancher Ausleger steht wohl eine viel einfachere Bedeutung gegenüber. Der Schrecken, der jemanden um Mitternacht befällt, ist im Alten Testament sprichwörtlich (Ps 91,5). Vermutlich ist nur erzählt, dass um Mitternacht, wenn die Nacht am dunkelsten ist, Boas plötzlich einen Menschen neben sich liegen spürt, den er aber nicht erkennen kann.  So drückt sich in seinem Erbeben die Reaktion auf etwas völlig Unerwartetes aus (Gen 27,33). In dieser intimen Situation spricht der Erzähler nicht von Boas und Rut, sondern nennt beide entsprechend ihrem Geschlecht als Mann und Frau.

Vers 9: Nun bezeichnet sich Rut nicht mehr nur als einfache Arbeitssklavin (Rut 2,13), sondern als Magd, wodurch sie sich indirekt bereits zu Boas‘ Haus zählt und ihre Weiblichkeit hervorhebt. Wenn zum Beispiel eine Ehefrau unfruchtbar war, konnte eine Magd stellvertretend für sie gebären (Gen 16,1-5). Rut macht sich aber nicht zum Objekt, sondern ergreift gegen den Plan Noomis selbst die Initiative. Rut knüpft  wörtlich an den Segensspruch Boas, indem er sie lobte, dass sie Schutz unter den „Flügeln“ Gottes gesucht hatte (Rut 2.12), an. Im Hebräischen bezeichnet dasselbe Wort im Plural „Flügel“ und im Singular den Gewandsaum. So zeigt Rut an, dass Boas selbst die schützende Funktion Gottes stellvertretend übernehmen kann, indem er seinem Gewandsaum über sie ausbreitet, d.h. sie heiratet (vergleiche Ezechiel 16,8). Diese Bitte begründet sie durch die Feststellung, dass er ein Löser ist. So antwortet Rut im Endeffekt auf die Frage, wer sie sei, indem sie ihm aufzeigt wer er ist und was er zu tun hat.

Vers 10: Boas preist das Handeln Ruts, das eigentlich gegen gesellschaftliche Konventionen verstößt. Üblicherweise ging der Wille zur Hochzeit vom Mann aus, der bei den zukünftigen Schwiegereltern um die Hand einer Frau anhielt. Ihre Güte hatte sie zum ersten Mal in ihrer Solidarität zu Noomi gezeigt (Rut 1,16-17), indem sie Moab mit ihr verlassen hatte. Boas hatte dies im vorherigen Kapitel im Besonderen gewürdigt (Rut 2,11). Auch ihr nächtliches Auftreten deutet er als Beweis ihrer Güte. Denn in ihren Worten wird deutlich, dass sie die Ehe anstrebt, um Noomis willen. Die Solidarität zur Familie Elimelechs und die Liebe zu ihrem verstorbenen Mann, führt sie in der Nacht zu Boas (siehe Auslegung).

Vers 11: Noomi sagt voraus, dass Boas Rut sagen wird, was sie zu tun hat. Nach Ruts Initiative jedoch stellt sich Boas ganz den Wünschen Ruts zur Verfügung („für dich“). Er spricht ihr Mut zu durch die Formel „Fürchte dich nicht!“, die in den prophetischen Büchern häufig am Anfang von Heilsorakeln steht (vergleiche Jesaja 41,14). Ihr Schicksal wird sich zum Guten wenden, weil sie sich einen Namen als „tüchtige Frau“ gemacht hat. Durch die Wortwahl wird sie auf eine Stufe mit Boas gestellt, der in Rut 2,1 vom Erzähler vergleichbar als „tüchtiger Mann“ beschrieben wird. In der Bücheranordnung der Jüdischen Bibel folgt das Buch Rut auf das Buch der Sprichwörter, in dessen letzten Kapitel ein Lob auf die tüchtige Ehefrau steht: „Eine tüchtige Frau, wer findet sie? Sie übertrifft alle Perlen an Wert“ (Sprichwörter 31,10). Vergleichbar mit der Aussage über Rut steht dort am Endes Buches: „Gebt ihr vom Ertrag ihrer Hände, denn im Stadttor rühmen sie ihre Werke.“ (Sprichwörter 31,31).

Verse 12-13: Boas‘ Zuneigung zu Rut ist durch das Gesetz begrenzt, dem er seinen eigenen Willen unterwirft. Es gibt einen Löser aus der Familie Elimelechs, der Noomi nähersteht (Rut 2,20) und der gemäß Lev 25,25 vor Boas verpflichtet ist, bzw. das Anrecht hat, zu lösen. In seinen Worten, die eine Anspielung auf Deuteronomium 25,7 sind, drückt sich aber auch seine Hoffnung aus, dass er dennoch zum Löser für Rut werden kann. Dazu verpflichtet er sich mit einem Eid. Im Buch Rut leisten nur Rut (Rut 1,16f.) und er einen Eid. Beide Eide stellen eine lebenslange Gemeinschaft in Aussicht.

Verse 14-15: Im Morgengrauen sind Rut und Boas darum bekümmert, dass sie in Verruf geraten könnten, da sie die Nacht auf der Tenne verbracht hat. Zum Abschied in der Morgendämmerung gibt er ihr zur Bestätigung seines Willens, sich um Rut und Noomi kümmern zu wollen „6 Maß Gerste“. Im hebräischen Text ist die Maßeinheit nicht angegeben. Da es sich aber um ein feminines Zahlwort handelt, liegt es nahe, dass es sich um 6 Sea Gerste gehandelt hat. 6 Sea sind 2 Epha. Somit gibt Boas am Ende des Kapitels Rut die doppelte Menge an Getreide, die sie zuvor im zweiten Kapitel innerhalb eines Tages aufgelesen hatte. Nachdem Rut mit Getreide versorgt ist, geht er direkt in die Stadt, um sie dauerhaft zu (er)lösen.

Auslegung

Beieinanderliegend dreht sich zwischen Boas und Rut alles ums Lösen. Alleine in seinen Worten in den Versen 12-13 fällt sechsmal das Wort „lösen“. Die Bedeutung dieses Wortes wird von Rut ungewöhnlich definiert und Boas akzeptiert ungefragt die Auslegung des israelitischen Gesetzes durch die Moabiterin.

Rut fordert von Boas eine verwandtschaftliche Solidarität, die das vom Gesetz vorgeschriebene Maß übersteigt und sowohl die Zukunft beider Witwen absichert, als auch das Gedenken an die verstorbenen Ehemänner bewahrt. Um ihr Ziel zu erreichen legt sie Boas eine Rechtsauslegung vor, die zwei verschiedene Gesetze miteinander verbindet und sie auf ihre Situation bezieht. Das im Hintergrund des Buches Rut stehend Gesetz (Lev 25,23-25) gesteht einer Sippe ein Rückkaufrecht ein, wenn ein Familienmitglied aufgrund seiner Verarmung einen Teil seines Grundbesitzes verkaufen muss. Rut verbindet mit dem Rechtsinstitut der Lösung nun die sogenannte Leviratsehe (vom lateinischen Begriff levir, „Schwager“; Dtn 25,5-10). Dieses Gesetz fordert, dass der Schwager einer kinderlosen Witwe, mit dieser einen Sohn zeugen soll, der als Nachfahre des Verstorbenen gilt. Durch diesen Sohn sind das Erbe des Verstorbenen und die Versorgung der Witwe abgesichert. Die Leviratsehe ist keine Pflicht und Boas ist nicht Ruts Schwager, aber in ihrer Situation greifen beide Gesetze ineinander, bzw. sie bieten eine Lösung. Das Gesetz in Lev 25,23-25 regelt nicht den Fall, dass der eigentliche Besitzer tot ist und eine zu versorgende Witwe hinterlässt. Und das Gesetz in Dtn 25,5-10 regelt nicht, was passiert, wenn die Brüder des Ehemanns ebenso gestorben sind. Gemäß der Auslegung Ruts ist der Löser verpflichtet, beide Witwen zu versorgen, weil er den Grundbesitz kauft, von dem die verwitweten Frauen abhängig sind. Dass Boas dieser Auslegung zustimmt, zeigt sich daran, dass er in seinen Worten auf beide Gesetze anspielt. Sein Verweis auf einen Noomi näherstehenden Löser entspricht der Klarstellung in Levitikus 25,49, dass der Verwandtschaftsgrad die Reihenfolge der möglichen Löser festlegt. Aus Deuteronomium 25,7 zitiert er sogar ausdrücklich, wenn er auf die Möglichkeit verweist, dass derjenige die Witwe nicht heiraten will.  

Kunst etc.

William de Brailes entwarf ca. 1250 in Oxford eine Bibelhandschrift, in der er Rut zu den Füßen Boas liegend darstellte. Er betont die Keuschheit beider Personen. Boas liegt angezogen und zugedeckt in einem Bett. Nur seine Füße samt Schuhen sind von Rut aufgedeckt worden. Sie selbst liegt vollständig angezogen und mit einer eigenen Decke zugedeckt ein Stück entfernt von ihm. Mit seiner linken Hand hält er die Decke fest über seinem Schambereich und der erhobene Finger an der linken Hand wirkt belehrend oder gar verneinend.

William de Brailes, Ruth at Boaz’s Feet, ca. 1250. Manuskriptillumination, The Walters Art Museum - Lizenz: gemeinfrei.
William de Brailes, Ruth at Boaz’s Feet, ca. 1250. Manuskriptillumination, The Walters Art Museum - Lizenz: gemeinfrei.