Altersarmut, Generationengerechtigkeit und der Umgang mit Fremden – im Buch Rut werden die großen Themen der Gegenwart behandelt. In der Geschichte einfacher Leute findet der Leser und die Leserin eine Ermutigung. Konkrete Solidarität und die eigene Initiative weisen einen Weg aus dem Leid des Alltags – nicht, weil Gott zur Hilfe eilt, sondern weil Gott mit den Leidenden ist. Dabei ist es nicht entscheidend, ob die Hauptpersonen der Erzählung – Noomi, ihre Schwiegertochter Rut und deren zukünftiger Ehemann Boas – historische Personen waren. Ob es sie gab und ob die Geschichte sich so zugetragen hat, lässt sich nicht klären. Der Wert des Buches Rut liegt in dessen Botschaft.

Die bedingungslose Solidarität mit Menschen, die in Not sind, ist der Weg, den Gott begleitet und zu einem guten Ende führt. Dieser Weg beginnt nicht bei Gott, sondern beim Menschen. Rut verkörpert ihn. Sie ist die personifizierte bedingungslose Solidarität. Bereits ihr Name verdeutlicht dies. In ihm klingt das hebräische Wort für „Freundin“, „Nächste“ und „Gefährtin“ an (רעות, gesprochen: reut). Vor einer Hungersnot war Noomi mit ihrer Familie aus ihrer Heimatstadt ins Ausland, nach Moab, geflohen. Dort verlor sie alles und wurde zur mittellosen Witwe. Als sie hört, dass Gott die Hungersnot in Betlehem beendet hat, hofft sie auf die helfende Solidarität ihrer Großfamilie und bricht zur Rückkehr auf.  Auf diesem Weg lässt ihre moabitische Schwiegertochter, Rut, sie nicht alleine, sondern begleitet sie: „Rut antwortete [Noomi]: Dränge mich nicht, dich zu verlassen und umzukehren! Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott.“ (Rut 1,16).

Das Buch Rut erzählt wie die mittellose Witwe Noomi, deren Söhne kinderlos gestorben sind, von ihrer Schwiegertochter versorgt wird und die beiden Frauen zusammen zu einer Lösung ihrer Not gelangen. Am Ende des Buches wird den beiden Witwen ein Sohn geboren, der ihr Erlöser und der Großvater König Davids ist. In der alttestamentlichen Welt bietet nur ein männlicher Nachkomme einer Familie Rechtssicherheit und finanzielle Absicherung. Was es in der damaligen Welt bedeutete kinderlos zu sein, verdeutlicht sich in einer Inschrift des ägyptischen Priesters Petesuchos: „denn ein Mann, dem kein Kind geboren ist, der ist wie einer, der nicht gewesen ist, er ist gar nicht geboren. Seines Namens wird nicht gedacht, sein Name wird nicht ausgesprochen wie der von jemandem, der gar nicht gewesen ist.“ (vergleiche 1 Samuel 1,11). Noomi deutet ihr Schicksal selbst als Strafe Gottes: „viel Bitteres hat der Allmächtige mir getan“ (Rut 1,20).

Doch so wie Rut entspricht auch Noomi keinem Frauenklischee. Nach dem Tod ihres Ehemanns hätte Rut zurück in das Haus ihres Vaters kehren sollen, um neu verheiratet zu werden. Aber sie macht sich zum Akteur ihrer eigenen Geschichte und definiert ihre Lebensaufgabe nicht in Abhängigkeit zu gesellschaftlichen Vorgaben. Sie sucht ihr Lebensglück nicht in einer neuen Ehe, um Mutter zu werden, sondern sie identifiziert sich mit Noomi und steht fest an ihrer Seite. Die Nächstenliebe zu Noomi definiert ihr Leben. Deswegen wird sie am Ende des Buches von den Bewohnerinnen Betlehems gepriesen, sie ist „mehr wert […] als sieben Söhne“ (Rut 4,15). Noomi und Rut übernehmen in der Erzählung Rollen von Männern in der damaligen Welt. Noomi wird im ersten Kapitel zum Familienoberhaupt. In Betlehem angekommen versorgt Rut im zweiten Kapitel, die aus ihr und Noomi bestehende Familie und im dritten Kapitel ergreift Rut entgegen der gesellschaftlichen Norm die Initiative und bittet Boas, sie zu heiraten. Im vierten Kapitel jedoch zeigt sich die Realität der patriarchalen Gesellschaft: Über das Schicksal der beiden Frauen entscheiden die Männer der Stadt. Im entscheidenden Rechtsurteil wird das geltende, primär Männer begünstigende Recht dann jedoch zum Wohl der beiden Witwen ausgelegt.

Gott selbst scheint in der Erzählung nur eine Nebenrolle zu spielen. Er ist es, der die Hungersnot in Betlehem beendet und somit Noomis Willen zur Rückkehr verursacht. Danach ist er nur in den Worten der Handelnden anwesend. Generell ist das Buch Rut vor allem geprägt von den Dialogen der verschiedenen Personen untereinander. 55 der 85 Sätze des Buches beinhalten direkte Rede. Der Erzähler berichtet erst wieder am Ende des Buches, dass Gott in die Geschichte eingreift und Rut einen Sohn schenkt. Nur das, was der Mensch nicht von allein vollbringen kann – das Ende der Hungersnot und die Fruchtbarkeit der Frau (Rut 1,6; 4,13) – vollbringt Gott. Die entscheidende positive Wende der Erzählung wird von Rut eingeleitet. Ihre beispiellose Solidarität wirkt ansteckend. Boas, auf dessen Feld sie Getreide für Noomi und sich sammelt, würdigt ihr Tun nicht nur, sondern wird aufgrund dessen zu ihrem Versorger. Die Beziehung zwischen Boas und Rut ist keine Liebesgeschichte, sondern in ihr zeigt sich verwirklichte Güte. Nach der jüdischen Tradition ist dies die Botschaft des gesamten Buches. Es sei nur geschrieben worden, „um dich zu lehren, dass diejenigen, die sich gegenüber anderen gütig erweisen, viel Lohn empfangen“. Dies zeigt sich daran, dass das Wort „geben“ die Erzählung prägt. Gott „gibt“ Betlehem wieder Nahrung. Diese Gabe gibt Rut weiter an Noomi, indem sie ihr das gesammelte Getreide „gibt“, nachdem ihr Boas es ermöglicht hatte, reichlich auf seinem Feld zu sammeln. Boas selbst „gibt“ schließlich Rut und Noomi Getreide, um sie direkt zu versorgen. Und im letzte Kapitel wird Boas der Rechtsanspruch „übergeben“, so dass er sie aus ihrer Not erlösen kann (Rut 2,18; 3,17; 4,7). So zeigt die Erzählung beispielhaft, wie die Menschen handeln müssen, damit das von Gott grundgelegte Heil alle erreicht. Weil Rut und Boas in Fülle geben, was ihnen Gott ermöglicht zu geben, belohnt sie Gott am Ende, indem er ihnen einen Sohn gibt. Im alltäglichen Leben müssen die Menschen die Güte Gottes verwirklichen, damit sie für andere erfahrbar wird. Bemerkenswert ist hierbei, dass das Handeln Ruts nicht durch Gott motiviert ist, sondern von Solidarität getrieben ist. Weil sie in Noomi ihren Nächsten erkennt, den sie lieben will, erfüllt sie den Willen Gottes.

Rut, die keine Israelitin, sondern eine Fremde ist, wird zum Vorbild für das Volk Gottes. Am Ende des Buches wird sie von den Bewohnerinnen Betlehems gar in den Status einer Erzmutter des Volkes gehoben und Gott macht sie zur Vorfahrin König Davids. Dabei ist sie nicht nur eine Fremde, sondern aus dem Volk der Moabiter, deren Mitglieder das alttestamentliche Gesetz den Zutritt zum Volk Israel strikt verbietet, „denn sie sind euch nicht mit Brot und Wasser auf dem Weg entgegengegangen, als ihr aus Ägypten zogt“ (Deuteronomium 23,5). Das Buch Rut zeigt, dass eine solche Verallgemeinerung und Diskriminierung der einzelnen Person nicht gerecht wird. Entscheidend ist nicht die Herkunft, sondern das Handeln der Person: Die Moabiterin Rut versorgt die Israelitin Noomi und kehrt mit ihr ins verheißene Land zurück. Gegenüber einer Theologie der Ausländerfeindlichkeit, Abgrenzung und Intoleranz, wie sie im Buch Nehemia in den Gesetzen gegen Mischehen zu finden sind, plädiert das Buch Rut für eine gesellschaftliche Solidargemeinschaft mit einem offenen Asylrecht.

Rut fragt Boas: „Wie habe ich es verdient, dass du mich so achtest, da ich doch eine Fremde bin?“ (Rut 2,10). Auf diese Frage antwortet das Buch Rut mit einer deutlichen Botschaft: Menschliche Solidarität soll keine Grenzen kennen und sie ist auch nicht durch gesellschaftliche Normen begrenzt, denn in ihr verwirklicht sich Gottes Handeln in dieser Welt.