Das Buch Amos

Am 3,1-2: Israels Erwählung und Verantwortung

31Hört dieses Wort, das der HERR gesprochen hat / über euch, ihr Söhne Israels,

über den ganzen Stamm, / den ich aus Ägypten heraufgeführt habe.

2Nur euch habe ich erkannt / unter allen Stämmen der Erde;

darum suche ich euch heim / für alle eure Vergehen.

Überblick

Achtung! Eure Rechnung geht nicht auf! Unter diese Überschrift werden die Kapitel 3 – 4 gestellt. Sie sind gestaltet als eine Sammlung von Einzelworten an die „Söhne Israels“ – eine Anrede, die es in sich hat.

Ohne Anknüpfung an den Völkerzyklus Am 1,3 – 2,16 setzt Am 3,1-2 einen Neuanfang. Das „klassische“ Markenzeichen eines solchen Neubeginns ist der sog. „Hör-Aufruf“: „Hört dieses Wort …“. Der Sprecher verschafft sich damit Aufmerksamkeit und gibt der folgenden Rede Gewicht. Das Amosbuch ist durch solche Höraufrufe gegliedert: Am 4,1; 5,1; 8,4. Eigenständig, aber ebenfalls mit dem Verb „hören“, formulieren Am 3,9 (wörtl.: „Lasst es hören …“, EÜ: „Ruft es aus …“) sowie Am 3,13: „Hört und bezeugt es …“. Das ständige Einschärfen des Hörens hat Folgen: Am Ende kann keiner sagen: „Ich habe es nicht gewusst.“

Zum Hör-Aufruf treten zwei weitere markante Sprachelemente: zum einen die Anrede „Söhne Israels“, die schon aus dem Einschub Am  2,12 bekannt ist, und nun in Am 3,1.12 und 4,5 begegnet (Näheres s. unter Auslegung), zum anderen das Verb „heimsuchen“ (hebr. pāqad), das Am 3,2 mit Am 3,14 verbindet und so eine Klammer um das Kapitel 3 bildet.

Damit sind besonders die Verse Am 3,1 – 4,5 als eine Einheit fixiert, die im Übrigen zusammengehalten werden durch Gottes „Ich“ in Am 3,1.2.14.15, an das die späte Einfügung Am 4,6-12 nahtlos anknüpft. Einen deutlichen Wechsel wird erst der nächste Höraufruf Am 5,1 bringen. Hier erhebt erstmals der Prophet mit seinem eigenen „Ich“ die Stimme.  

Auslegung

Das sind nach dem Völkergedicht ganz neue Töne: Israel wird nicht länger verglichen mit anderen Völkern, sondern es ist schlichtweg unvergleichlich. Seine Verbrechen sind nicht furchtbar, weil sie an die Kriegsverbrechen anderer erinnern, sondern weil Israel mit ihnen seiner eigenen Bestimmung widerspricht. Diese wird mit der Anrede „Söhne Israels“ zur Sprache gebracht. Schon in Am 2,12 tauchte sie erstmals in einer Frage auf. Und diese Frage hatte dasselbe Ereignis zum Hintergrund, auf das auch Am 3,1-2 anspielt: die Herausführung aus Ägypten. „Söhne Israels“ bezieht sich nicht einfach auf eine geschichtliche Erinnerung, sondern auf eine unableitbare Bevorzugung: „Nicht weil ihr zahlreicher als die anderen Völker wäret, hat euch der HERR ins Herz geschlossen und ausgewählt … weil der HERR euch liebt … deshalb hat der HERR euch mit starker Hand herausgeführt“  (Deuteronomium 7,7-8). „Erwählung“ ist der theologische Fachausdruck für diese „Bevorzugung“, die allerdings zwei Seiten hat: Sie adelt den Erwählten, aber dieser Adel verpflichtet auch. Die Erwählten sollen ihrem Erwähler entsprechen. Schon der Rückblick auf Am 2,6-8 macht klar: Wenn kennzeichnende Wesenszüge des erwählenden Gottes „ins Herz schließen“ und „lieben“ sind, dann kann davon bei den „Söhnen Israels“ mit ihren Verbrechen keine Rede sein. Übrigens dürfte es heutige Lesende eher überraschen: Genau diese Dimensionen „ins Herz schließen“, „lieben“ und  „erwählen“ sind mit dem Verb „kennen“  (hebr.  yādaʽ) gemeint. Es ist ein Verb der innersten Zuwendung, nicht allein des Bescheid Wissens.

Aus solcher Erwählung erwächst auch die berechtigte Erwartung, dass Gott die einst gewährte Freiheit (aus dem Sklavenhaus Ägypten) weiterhin sichert und die Seinen schützt. Aber es handelt sich nicht um einen automatisch und voraussetzungslos einklagbaren  Anspruch. Ohne ein Leben gemäß der Erwählung entfallen auch die mit der Erwählung verbundenen „Annehmlichkeiten“ der göttlichen Unterstützung. Gott droht in diesem Eingangswort Am 3,1-2, bei seinem Vorzugspartner Israel besonders genau hinzuschauen und ihn nicht aus seiner Verantwortung zu entlassen. Wir wissen aus anderen biblischen Büchern, dass dies im Volk zum Teil anders gesehen wurde. Man setzte eher auf einen Erwählungsautomatismus, der freie Bahn für jegliches Unrechtsverhalten ließ (s. dazu die unter Kontexte wiedergegebene Tempelrede des Propheten Jeremias: Jer 7,1-15). Am 3,1-2 entlarvt diese Haltung als ein großes Missverständnis.

Die eigentliche Fortsetzung, nämlich die konkrete Nennung von Vergehen, erfolgt erst ab Vers 9.Vorher gibt es eine grundsätzliche Überlegung eigener Art.