Viele gute Gründe, den Philemonbrief zu lesen

Wer Paulus kennenlernen will, sollte mit dem Philemon-Brief anfangen.

Dafür sprechen viele Gründe:

  • Der Philemonbrief ist mit seinen jede Kapitelzählung überflüssig machenden 25 Versen der kürzeste aller Paulusbriefe und damit überschaubar.
  • Er ist ein sehr persönlich gehaltener Brief, weil er nicht eine ganze Gemeinde im Blick hat, sondern sich vorrangig an einen für das Evangelium gewonnenen Mitarbeiter des Paulus wendet.
  • Das erklärt den sehr emotionalen Grundton des Briefes, der ihn von den anderen Paulusschreiben unterscheidet. Zwar ist Paulus grundsätzlich ein emotionaler Mensch, was aber auch – wie besonders im Galaterbrief und in den Korintherbriefen erkennbar wird – in übermäßigen Zorn umschlagen kann. Davon ist im Philemonbrief gar nichts spürbar. Hier begegnet eher ein fast zärtlicher Paulus (allein dreimal spricht er von seinem „Innersten“: Verse 7.12.20).
  • So kurz der Brief auch sein mag, er lässt deutlich erkennen, welch gewiefter Briefscheiber  Paulus war. Er nutzt alle Mittel der Rhetorik, wie es in einem direkten Gespräch kaum wirkungsvoller geschehen könnte. Im Philemonbrief kann man dem Paulus als Schreiber sozusagen auf die Finger schauen.
  • Da Paulus auf den Glaubensbruder Philemon in einem konkreten Einzelfall, nämlich die Rücknahme eines entlaufenen Sklaven, einwirken will, entfällt der für den Apostel sonst typische Bereich der theologischen Argumentation und Darlegung. Paulus will weder religiöses Grundlagenwissen vermitteln noch muss er gegen Irrlehren angehen, sondern er will überzeugen und zu freiwilligem Handeln motivieren. So wird die erste Annäherung an Paulus nicht sofort mit seiner sehr spezifischen Begrifflichkeit („Rechtfertigung“, Sühne“ etc.) „belastet“ und es entfallen für dieses Mal auch die oft sehr komplizierten Argumentationsgänge.
  • Dabei darf man davon ausgehen, dass Paulus seine Verkündigungstheologie durchaus im Hinterkopf hat. Wie in kaum einem anderen Brief aber wird deutlich, dass für Paulus der von ihm verkündete Glaube nur dort zu seinem Recht kommt, wo er die konkrete Lebenspraxis bestimmt, auf welcher hier der Ton liegt. In seinem engagierten Einsatz für einen Sklaven geht Paulus mit leuchtendem Beispiel voran, fordert aber dieselbe Übereinstimmung von Glaube und Praxis auch von seinem "Bruder" Philemon (Vers 20). Dabei geht es um weit mehr als um fürsorgende Caritas oder auch um vergebende und nachsichtige Nächstenliebe. Es geht um gelebte gesellschaftliche Veränderung.

Damit gibt es auch gute Gründe, warum man den Philemonbrief überhaupt lesen sollte.

Auch wenn er nicht die Magna Charta der Aufhebung der Sklaverei ist (darauf wird im Laufe der Briefkommentierung eingegangen werden), ist der Philemonbrief

  • ein Plädoyer für den engen Zusammenhang von Glaube und Lebenspraxis.         Dies gilt individuell wie gesellschaftlich. Der im Gefängnis sitzende, von Todesgefahr bedrohte und auch um sein Missionswerk besorgte Paulus nimmt sich Zeit, sich für jemanden, der als Sklave dem untersten gesellschaftlichen Stand zugehört und intellektuell vermutlich vielfach unterlegen ist, mit aller Kraft einzusetzen und zu verwenden – mit Worten, aber zur Not auch mit finanziellen Mitteln (Vers 18). Ja, er möchte ihn sogar in sein Missionswerk integrieren: Verkündigung ist offensichtlich keinem Stand exklusiv vorbehalten. Solche Sicht vom Menschen wurzelt bei Paulus in seinem Christus-Verständnis.
  • ein Plädoyer, durchdachte Theologie und Autorität (die Paulus als Apostel und Gründer vieler christlicher Gemeinden hat) mit aufrichtiger Warmherzigkeit und menschlicher Nähe zu verbinden.                                                                Paulus zeigt, wie Seelsorge geht – auch heute noch.
  • ein Plädoyer für eine Kirche, die in der Welt als Kontrastgesellschaft erfahrbar wird.                                                                                                                       Paulus fordert mit dem Philemonbrief anhand eines konkreten Einzelfalls letztlich die Kirche auf, als eine Gemeinschaft von Gemeinden zu leben, die sich den Satz Jesu zu eigen gemacht haben: „42 Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und ihre Großen ihre Macht gegen sie gebrauchen. 43 Bei euch aber soll es nicht so sein, …“ (Mk 10 42-43). Hier wird deutlich: Der kleine, unscheinbare Brief aus dem 1. Jh. n. Chr. hat nichts von seiner Aktualität und Brisanz verloren. Im Gegenteil, es gilt, sein Potenzial immer neu wachzurufen.

 

Worum geht es?

Einige Fakten sind klar:

Paulus sitzt im Gefängnis, das man sich als Sicherheitsverwahrung vorstellen muss, die Besuch zuließ. So erklärt sich auch der Aufenthalt eines Sklaven namens Onesimus bei Paulus. Er ist seinem Herrn Philemon entlaufen und hat Paulus aufgesucht, vermutlich mit der Absicht, dass Paulus zwischen Onesimus und Philemon in irgendeiner Weise vermitteln soll. Paulus und Philemon kennen sich gut, sind vielleicht gar befreundet. Philemon konnte in früheren Zeiten von Paulus  für das Christentum gewonnen werden und stellt nun sein Haus einer kleinen christlichen Gemeinde für deren Versammlung zum Herrenmahl und zu sonstiger Zusammenkunft zur Verfügung. Diese Gemeinde ist eher eine Ortsgemeinde und nicht einfach mit der Familie des Philemon identisch. Denn Onesimus als einer der Sklaven des Philemon kommt noch als Nicht-Christ zu Paulus ins Gefängnis und lässt sich erst dort taufen. Das ist bereits vorausgesetzt, wenn Paulus zugunsten des Onesimus zur Feder greift.

Ohne die Auslegung schon komplett vorwegzunehmen: Zwei Absichten scheinen Paulus bei seinem Brief zu leiten.

1. Folgt man seinen Worten, will er zum einen den zwischenzeitlich für den christlichen Glauben gewonnenen Onesimus am liebsten für sich behalten, um ihn für die Evangeliumsverkündigung einzusetzen Verse 13-14). Das möchte er aber nicht ohne die ausdrückliche Zustimmung des Philemon tun, der nach wie vor der Rechtsherr über den Sklaven Onesimus ist. Der geplante Weg: Paulus schickt Onesimus mit dem Empfehlungsbrief zu Philemon und holt ihn vorn dort wieder ab und nimmt ihn mit, wenn er – Paulus – wieder in Freiheit ist, was er für die nächste Zukunft zu erhoffen scheint (Vers 22).

2. Mit diesem Weg verbindet sich die zweite Absicht. Denn Voraussetzung für den Plan des Paulus ist, dass Onesimus überhaupt von seinem Herrn wieder aufgenommen wird. Und genau hier liegt die eigentliche Pointe des Briefes: Denn Paulus bittet nicht um Strafnachlass für Onesimus oder freundliches Entgegenkommen. Vielmehr soll Philemon seinen Sklaven bei dessen Rückkehr  in denselben Rang erheben, den Paulus und Philemon bereits miteinander teilen: „geliebter Bruder“  und „in tiefer Gemeinschaft Verbundener“  sind die entscheidenden Stichworte. Welcher Sprengstoff sich dahinter verbirgt, wird die Auslegung von Vers 17 zeigen.

 

Die Strategie des Briefes

Wer gesellschaftsverändernde Ziele hat, muss sehen, wie er sie umsetzen kann. Hierzu nutzt Paulus alle Mittel der Briefschreibekunst. Der „cleverste“ Schachzug besteht darin, den Fall Onesimus – Philemon vor den Ohren der sich versammelnden Ortsgemeinde im Haus des Philemon zu verhandeln. Denn Paulus spricht zwar im Wesentlichen Philemon an, seiner Adresse nach aber wendet sich das Schreiben an die ganze Gemeinde, aus der einzelne Personen eingangs namentlich genannt werden. Vor ihnen soll der Brief mit den zugehörigen Grüßen vorgelesen werden.

Das setzt Philemon natürlich unter einen gewissen Druck.  Dabei ist das Arrangement nicht zufällig: Denn Paulus versteht sich nicht einfach als Sozialarbeiter, der einen Sklaven unterstützt. Ein den ganzen Brief durchziehendes Hauptargument lautet vielmehr: Das, was die Glaubensgemeinschaft als Gemeinschaft zusammenhält  und was jede und jeden Einzelnen erfüllt – der Christusglaube, der die Existenz maß-gebend und Hoffnung schenkend prägen soll -, ist genau der Grund, weshalb der ansonsten schon so vorbildliche Philemon (großzügig stellt er sein Haus zur Verfügung und Paulus lobt eingangs überhaupt seine praktizierte Liebe) nun auch den Sklaven Onesimus als gleichrangiges Glied der Gemeinschaft aufnehmen soll.

Darüber hinaus traut sich Paulus, das komplizierte Beziehungsgeflecht der drei Hauptpersonen in Begriffe aus dem weltlichen Geschäftsleben zu kleiden (Vers 17: "schulden; "auf die Rechnung setzen"). Paulus  wagt, aus der Hinführung des Philemon zum Christentum eine Art (geistliches) Schuldverhältnis abzuleiten. Dieses zuspitzende Gedankenspiel ergibt sich, weil Onesimus als entlaufener Sklave gegenüber seinem Herrn in einem tatsächlichen Verschuldungsverhältnis steht. Sollte es da materielle Anteile geben, wäre Paulus bereit, sie aus eigener Tasche zu erstatten. Im Übrigen soll das geistliche Schuldverhältnis das weltliche offensichtlich aufheben. Grundlage dafür ist, dass Philemon zwar weiterhin rechtlich der Herr des Onesimus ist, Paulus aber dem Onesimus durch dessen Taufe zum „Vater“ geworden ist (Vers 10), wie Paulus auch „Vater“ des Philemon ist, den er jetzt allerdings "Bruder" nennt (Verse 7.20), um die Gleichrangigkeit "in Christus" (Vers 20) zu betonen. Diese geistliche „Vaterschaft“/"Bruderschaft" bzw. das, was durch sie begründet ist (christliche Existenz), wiegt stärker als alle Rechtsbegriffe von „Herr“ und „Schuld“. Sie fordert Gleichrangigkeit!

Nicht zuletzt argumentiert Paulus auch noch damit, dass Philemon dem Paulus dadurch einen Gefallen täte (Vers 20: „Nutzen“), dass er bei erfolgreicher Bekehrung des Philemon am Ende seines Lebens vor Gott etwas vorzuweisen hätte, das im göttlichen Endgericht für ihn spräche. So wird man Paulus von einem gewissen „Heilsegoismus“ nicht ganz freisprechen können. Aber immerhin setzt er ihn zugunsten eines Anderen, des schwachen Sklaven Onesimus ein!

 

Zwei offene Fragen

Ort und Zeit

Während die Verfasserschaft des Paulus für den Philemonbrief unbestritten ist, bleibt unklar, wann er an welchem Ort geschrieben wurde. Im Wesentlichen werden zwei Alternativen diskutiert, die kaum definitiv zu entscheiden sind. Entweder gehört der Brief in die Gefangenschaft des Paulus in Ephesus (ca. 55 n. Chr) oder er wurde während seiner letzten Gefangenschaft in Rom verfasst (ca. 62 n. Chr.).

Das Hauptargument für Ephesus ist leider insofern ein sehr schwaches, weil alle Gründe dafür im Kolosserbrief legen. Hier taucht der Name Onesimus (zusammen mit anderen Namen des Philemonbriefes) wieder auf (Kolosser 4,9), und zwar in der Gemeinde von Kolossä. Es lag nahe, damit anzunehmen, dass die Gemeinde des Philemon in Kolossä beheimatet war, von wo Onesimus in das 170 km entfernte Ephesus geflohen sei, um schließlich von Paulus zurückgeschickt zu werden. Der  Kolosserbrief würde  dann den erfolgreichen Einsatz des Paulus bezeugen.

Ob eine Flucht über 170 km realistisch ist, bleibt Ermessensfrage. Im Übrigen gilt mittlerweile aber  als ziemlich sicher, dass der Kolosserbrief nicht von Paulus selbst stammt, vielmehr in die Jahre 70 – 80 n. Chr. gehört und auf der Fiktion aufbaut, man habe nach seinem Martyrium (64 n. Chr. ?) einen Brief des Paulus an die Gemeinde von Kolossä gefunden. Hinter dieser Fiktion verbirgt sich der uns unbekannte Autor des Kolosserbriefs, der bewusst auf den Philemonbrief als echten Paulusbrief zurückgreift und ihn offensichtlich als „Ersten Brief an die Gemeinde von Kolossä“ ausgeben will. Tatsächlich ist aber Kolossä zur Zeit des Kolosserbriefs schon längst zerstört (61 n. Chr.), ein Wiederaufbau scheint erst im nächsten Jahrhundert erfolgt zu sein.

Damit bleibt für den Philemonbrief alles offen und es lässt sich keine sichere Argumentation aus dem Kolosserbrief für den Philemonbrief ableiten.

Da die Situation der Gefangenschaft aber erkennbar zum Philemonbrief gehört, lässt sich genau so plausibel machen, dass das letzte Schreiben des Paulus aus dem römischen Hausarrest stammt. Die im Brief nicht genannte Gemeinde wäre dann eher im Umkreis Roms anzusiedeln, was für Onesimus eine wesentlich kürzere (und damit auch realistischere?) Fluchtsstrecke bedeuten würde. Dass Paulus auch hier noch auf Freilassung aufgrund eines entsprechenden kaiserlichen Urteilsspruches hoffte, ist nicht auszuschließen.

Die Tradition allerdings lenkt die Spur im Gefolge des Kolosserbriefs – der früher als Paulusbrief angesehen wurde – nach Ephesus: In dem außerhalb des Neuen Testaments stehenden Ignatiusbrief an die Kirche von Ephesus (1,3; 2,1; 6,2) ist Onesimus zum Bischof von Ephesus aufgerückt (dieser ignatianische Epheserbrief stammt aus Beginn oder Mitte des 2. Jh. n. Chr.). Ob der Bischof Onesismus identisch ist mit dem im Philemonbrief erwähnten Sklaven oder ob nur eine (zufällige oder absichtliche) Namensgleichheit (bei einem im Altertum relativ häufig belegten Vornamen) vorliegt, kann man nicht sicher entscheiden.

An der unterschiedlichen Datierung hängt für das Verstehen des Philemonbriefes nicht viel. Bei seiner Ansiedlung in Rom hätte er den besonderen Charme, das letzte Wort des Paulus zu sein, das wir von ihm haben.

 

Die Rechtsstellung des Onesimus

Die zweite Unsicherheit im Philemonbrief bleibt Onesimus selbst: Wie ist sein Rechtsstatus genau einzuordnen? Hat er sich dem Sklavendienst durch Flucht entzogen, hat er seinen Herrn bestohlen und floh deshalb, oder fühlte er sich einfach ohne Schuld schlecht behandelt und suchte einen geeigneten Vermittler, den er in Paulus vermutete als jemandem, der seinem Herr eng verbunden war? Die letzte Variante scheint die plausibelste. Paulus selbst scheinen die dahinter stehenden möglichen juristischen Feinheiten nicht zu interessieren, da es ihm nicht um Strafmilderung oder –aufhebung geht, sondern um einen viel tiefgreifenderen Wandel bei Philemon (s. o.). Deshalb bleibt der Brief in dieser Frage wohl absichtlich unbestimmt.

 

Aufbau des Briefes

Hier gibt es wenig Diskussionsbedarf. Der Brief folgt, inhaltlich sich zwischen Empfehlungsschreiben und vor allem Bittbrief bewegend, dem klassischen Briefaufbau der Zeit:

Verse  1-7:  Brieferöffnung

                   Verse 1-3: sog. Präskript (Absender, Adressat, Segensgruß)

                   Verse 4-7: sog. Proömium (in diesem Fall: grundsätzliche                                                                  Gewogenheitserklärung)

 

Verse 8-20: Briefcorpus (die eigentlichen inhaltlichen Ausführungen)

                    Verse 8-17: Bittschreiben mit dem Zielsatz „Nimm ihn                                                                            auf wie mich“ (Vers 17)

                    Verse 18-20: Zusatzklauseln (Bürgschaftsgarantie,                                                                                  Eigenhändigkeitsgarantie, Bitte in                                                                                      eigener Sache [Vers 20: „erquicke mich!“})

 

Verse 21-24: Briefschluss

                     Verse 21-22: Epilog (Vertrauensäußerung und weitere Bitte)

                     Verse 23-24: sog. Postskript (Grußliste und Segenswunsch)