Das Buch Jona

Jona 1,1-3: Gottes Wort und das Gegenteil

11Das Wort des HERRN erging an Jona, den Sohn Amittais:

2Mach dich auf den Weg und geh nach Ninive, der großen Stadt,

und rufe über sie aus, dass ihre Schlechtigkeit zu mir heraufgedrungen ist.

3Jona machte sich auf den Weg; doch er wollte nach Tarschisch fliehen, weit weg vom HERRN.

Er ging also nach Jafo hinab und fand dort ein Schiff, das nach Tarschisch fuhr.

Er bezahlte das Fahrgeld und ging an Bord, um nach Tarschisch mitzufahren, weit weg vom HERRN.

Überblick

Ist es möglich vor Gottes Wort zu fliehen? Diese Frage stellt sich auf dramatische Art und Weise direkt am Anfang des Buches Jona.

 

1. Verortung im Buch

Das Buch fängt im Hebräischen so an, als ob zuvor bereits etwas geschehen sei – wie der Fortgang einer Erzählung. Das erste Wort ist  וַֽיְהִי (gesprochen: wa-jehi), das man mit „und es geschah“ übersetzen könnte. Es ist ein abrupter Einstieg in eine Erzählung, die ebenso abrupt in Jona 4,11 mit einer Frage Gottes enden wird. So steht am Anfang und am Ende ein Gotteswort – es geht nicht um das prophetische Wort, sondern es wird eine Wort-Gottes-Geschichte erzählt. Wie verhält sich Jona gegenüber dem Wort Gottes? Gott fordert ihn auf „Mach dich auf den Weg“ und Jona „machte sich auf den Weg“ – aber in die entgegengesetzte Richtung. Sein Weg ist ein Abstieg, der am Anfang des Buches mit dem Wort ירד (gesprochen: jarad) nachgezeichnet wird: Zuerst hinab nach Jafo und hinab in das Schiff (Vers 3), dann hinab in den Bauch des Schiffes (Vers 5), um dann doch zu der Erkenntnis zu gelangen: „Bis zu den Wurzeln der Berge bin ich hinabgestiegen [ירד] in das Land, dessen Riegel hinter mir geschlossen waren auf ewig. Doch du holtest mich lebendig aus dem Grab herauf, HERR, mein Gott.“  (Jona 2,7). Erst in Jona 3,3 handelt er so, wie man es nach der Gottesrede in Jona 1,2 erwartet hätte –am Ende verzweifelt Jona dann aber doch an seinem Gott. 

 

2. Aufbau

Ein Kontrast steht am Anfang des Buches. Mit drei Befehlen wendet sich Gott an Jona – einer davon lautet: „Mach dich auf den Weg“. Und Jona reagiert mit fünf Handlungen; sie beginnen mit „Jona machte sich auf den Weg“. Diese scheinbare Entsprechung mündet in etwas, das im Alten Testament einmalig ist: der Flucht des von Gott Berufenen. Er soll nach Ninive gehen, aber der Erzähler betont in Vers 3 dreifach, dass Jona in die entgegengesetzte Richtung nach Tarschisch flieht und er fügt zweimal hinzu, dass Jona dies tut, um – wörtlich übersetzt – „fort vor JHWHs Angesicht“ zu gelangen. Die drei Befehle Gottes verdeutlichen den Auftrag und die fünf, schnell aufeinanderfolgenden Handlungen Jonas zeigen seine gehetzte Abwendung von Gott.

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 1: Das Buch Jona ist ein Prophetenbuch, aber nirgends – weder hier bei seiner ersten Nennung noch im restlichen Buch – wird er „Prophet“ genannt. Man erfährt anfangs nichts über ihn, außer seinem Namen und den Namen seines Vaters. Mit diesen beiden Namen ist jedoch bereits das spannungsvolle Thema des Buches definiert. Jona (Hebräisch: ‎יוֹנָה) bedeutet „Taube“. Mit diesen Tieren wird Israel im Buch des Propheten Hosea verglichen: „Efraim [d.i. Israel] ist wie eine Taube, leicht zu verlocken, ohne Verstand.“ Seinem Namen gerecht werdend flieht Jona kopflos, sozusagen naiv vor Gott, dem er doch nicht entfliehen kann. Seines Vaters Namen hingegen ist ein Bekenntnis zu Gott. Amittai (Hebräisch: ‎אֲמִתַּי) bedeutet „meine Treue [ist Gott]“. Im Buch Exodus beschreibt sich Gott gegenüber Mose selbst mit dem Begriff der Treue: „Der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber und rief: Der HERR ist der HERR, ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue.“ (Exodus 34,6) Und auf diese Selbstvorstellung bezieht sich Jona als er gegen Ende des Buches bekennt: „Ach HERR, habe ich das nicht schon gesagt, als ich noch daheim war? Eben darum wollte ich ja nach Tarschisch fliehen; denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langmütig und reich an Huld und dass deine Drohungen dich reuen.“ (Jona 4,2). So deutet sich bereits im ersten Vers an, dass das Buch Jona eine Geschichte von der Treue Gottes ist, vor der man nicht fliehen sollte, bzw. nicht fliehen kann.

Vers 2: „Mach dich auf den Weg, und geh …“ – diese Aufforderung erklingt immer wieder in den Büchern der Propheten. Doch das genannte Ziel ist ein Paukenschlag: Jona wird in eine Stadt geschickt außerhalb des Landes Israel, die zu einer Chiffre für eine gewalttätige Großmacht geworden ist. Ninive wurde unter Sanherib (705-681 v. Chr.) zur Hauptstadt des neuassyrischen Großreiches, das für den Untergang des Nordreiches Israel verantwortlich ist und Jerusalem belagerte (vgl. 2 Könige 18-19). Diese Stadt, die im heutigen Gebiet Mossuls im Irak liegt, wird jedoch nicht als blutrünstige, imperiale Macht benannt, sondern in den Worten Gottes als „große Stadt“ gewürdigt. Es ist eine bedeutende Stadt – und diese Bezeichnung stellt vielleicht einen Querverweis innerhalb der Bibel dar auf Jer 22,8-9, wo Jerusalem als eben eine solche bedeutende Stadt, „eine große Stadt“ bezeichnet wird. Im hebräischen Text ist es daher auch von Bedeutung, dass Gottes Wort nicht aufgrund der Bösartigkeit der Stadt als Metapher für das Reich, sondern durch die Schlechtigkeit ihrer Bürger [‎רָעָתָם – gesprochen: ra’atam] ausgelöst wird. Der Leser erfährt noch nicht, was Jona in Ninive verkünden soll, aber die Aufforderung Gottes verweist schon auf eine Konfrontation – man könnte auch übersetzen: „rufe gegen sie [d. i. die Stadt] aus“. Jona soll in der Stadt deren Bewohner mit einem noch unbekannten Gottes Wort konfrontieren.

Vers 3:  Während Gott von Jona verlangt nach Osten, nach Ninive zu gehen, flieht er in die entgegengesetzte Richtung: Tarschisch wird gemeinhin mit dem iberischen Tartessos, westlich der Straße von Gibraltar identifiziert. In Jesaja 66,19 ist es einer der Orte, von denen Gott sagt, dass sie „noch keine Kunde von mir gehört und meine Herrlichkeit noch nicht gesehen haben“. Jona will also an die Enden der bekannten Welt fliehen, in die Gottferne – „weit weg vom HERRN“. Zu dem genannten Ort „Jafo“ siehe die Rubrik „Kontext“.

Auslegung

Das Wort Gottes bricht unvermittelt als Auftrag in das Leben Jonas hinein. Gott beansprucht ihn. Und der Leser und die Leserin erwartet die typische Reaktion, wie sie zum Beispiel im Falle des Propheten Elija erzählt wird: „Da erging das Wort des HERRN an Elija: Mach dich auf und geh nach Sarepta, das zu Sidon gehört, und bleib dort! […] Er machte sich auf und ging nach Sarepta.“ (1 Könige 17,8-10). Doch die sich im direkten Wort Gottes scheinbar ausdrückende Nähe schlägt in Distanz um. Warum Jona vor Gott flieht, erfährt der Leser und die Leserin nicht. Das Faktum wird erzählt – so verdeutlicht sich, dass es auf Gottes Wort hin nur den Gehorsam oder die Flucht gibt. Ob Letzteres eine wirkliche Alternative ist? Dieser Frage geht das Buch Jona im Folgenden nach. Gibt es einen Ort, an dem man sich Gott entziehen kann – dem Gott, der selbst über die Schlechtigkeit Ninives urteilt?

Kunst etc.

Der Kopf zurückweichend mit weit offenen Augen, aber die Hände nach vorne ausstreckend. Diese Haltung hat der britische Maler George Frederic Watts gewählt, um den Propheten Jonas darzustellen. Es soll ihn zeigen, wie er den Bewohnern Ninives das Wort Gottes verkündet. Die angeprangerten Sünden werden im Hintergrund in drei parallelen Friesen dargestellt: Glücksspiel, Trunkenheit und Gier. Vor dem Hintergrund von Jona 1,1-3 könnte man das Bild aber auch anders interpretieren. Das erschrockene, zurückweichende Gesicht könnte den Moment des Gotteswortes darstellen (Vers 2) und die nach vorne strebenden Hände symbolisieren seine Flucht (Vers 3) – und die im Hintergrund benannten Sünden Ninives sind der Grund seiner Flucht. Doch wie im weiteren Verlauf der Erzählung deutlich werden wird, flieht Jona nicht primär vor seinem Auftrag, sondern er nimmt Reißaus vor seinem Gott.

„Jonah“, George Frederic Watts, 1894, Tate Museum (N01636) – Lizenz: gemeinfrei
„Jonah“, George Frederic Watts, 1894, Tate Museum (N01636) – Lizenz: gemeinfrei