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Vom Brüdermord zum erstgeborenen Bruder

Ein bibel-theologische Gedanke zu "Fratelli tutti"

“Vergehen – beleidigt“, fotografiert von Victoria Borodinova- Lizenz: Pixabay Lizenz.
“Vergehen – beleidigt“, fotografiert von Victoria Borodinova- Lizenz: Pixabay Lizenz.

Dass alle Menschen Brüder werden, wie es in der „Ode an die Freude“ besungen wird, ist im Angesicht des ersten Brüderpaars der Bibel eine Drohung: Kain erschlägt Abel und sagt zu Gott:

"Bin ich der Hüter meines Bruders?" (Genesis 4,9)

Diesen pessimistischen Blick auf die Menschen als Brüder und Nächsten teilt auch der Prophet Jeremia. Von seinen eigenen Brüdern treulos behandelt blickt er auf den Zustand des Volkes Israel zu seiner Zeit – dieser „Festversammlung von Treulosen“, wie er sie benennt – und warnt:

"Nehmt euch in Acht vor eurem Nächsten, keiner traue seinem Bruder! Denn jeder Bruder betrügt und jeder Nächste verleumdet."(Jeremia 7,3)

Ganz anders klingen da die Worte Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Fratelli tutti“: Die Brüderlichkeit fügt der Freiheit und Gleichheit noch positiv etwas hinzu. Was geschieht ohne eine bewusst kultivierte Brüderlichkeit, ohne einen politischen Willen zur Brüderlichkeit, der konkret wird in einer Erziehung zur Brüderlichkeit, zum Dialog, zur Entdeckung des Wertes der Gegenseitigkeit und wechselseitiger Bereicherung?“ (Fratelli tutti Nr. 103). Das Alte Testament erzählt an vielen Stellen, wo zu Brüder und Geschwister fähig sind. Abimelech tötet seine Brüder (Richter 9,5). Amnon vergewaltigt seine Schwester Tamar (2 Samuel 13,14). Josef wird von seinen Brüdern in die Sklaverei verkauft (Gen 37,28) – doch er vergibt Ihnen, erbarmt sich ihrer und zeigt damit die positive Seite der Brüderlichkeit. Trotz der scheinbar gegenläufigen Realität gibt es dieses Ideal der Brüderlichkeit, bzw. Geschwisterlichkeit. Das Volk Israel, das sind – egal in welcher Generation -, theologisch die Kinder Israels, des Erzvaters:

"Aber was eure Brüder, die Israeliten (‎בְּנֵֽי־יִשְׂרָאֵל֙, gesprochen: bnei Israel – wörtlich: Söhne/Kinder Israels), angeht, so soll keiner über den andern mit Gewalt herrschen." (Levitikus 25,46)

Mehrere der Sozialgesetze in den Büchern Levitikus und Deuteronomium verlangen von den Israeliten eine solidarische Geschwisterlichkeit untereinander. Sie sollen handeln wie ideale Brüder und Schwestern. Das Gesetzt weis den Weg zum Ideal. Im Neuen Testament ist es eine der Seligpreisungen, die den Weg zu diesem Ideal weist und die Grenzen Israels überschreitet:

"Selig, die [d.h. alle Menschen, die] Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden." (Matthäus 5,9)

Ja, wir Christen verstehen uns nicht nur als Kinder Gottes, sondern als Brüder und Schwestern im Glauben – so, wie bereits der Apostel Paulus die damaligen Christen als „meine Brüder und Schwestern“ angeredet hat.

"Ebenso seid auch ihr, meine Brüder und Schwestern, durch das Sterben Christi tot für das Gesetz, sodass ihr einem anderen gehört, dem, der von den Toten auferweckt wurde, damit wir Gott Frucht bringen." (Römer 7,4)

Den Tod Christi, an dem Christen durch die Taufe teilhaben, denkt Paulus als Befreiung – nicht zur Narrenfreiheit, sondern zur Nachfolge Jesu und zur Erfüllung Gottes Willen. Die Taufe schafft eine neue Art von Familienbande. Wir, die Brüder und Schwestern im Glauben, sind Kinder Gottes mit einem besonderen „big brother“:

"… denn diejenigen, die er im Voraus erkannt hat, hat er auch im Voraus dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben, damit dieser der Erstgeborene unter vielen Brüdern sei." (Römer 8,29)

Es fällt schwer, das Ideal der Geschwisterlichkeit zu predigen, wenn bereits unter den christlichen Brüdern und Schwestern Zwist herrscht. Ideal und Wirklichkeit klaffen oft auseinander. Der Weg von der Warnung Jeremias zur Bruderschaft mit Jesus ist lang. Geschwisterlichkeit hat ihre Licht- und Schattenseiten. Was bedeutet es schon, wenn wir uns Brüder und Schwestern nennen? Ziehen wir damit nicht neue Grenzen? Sind nur die Christen geschwisterlich miteinander verbunden? Sind wir nicht alle Nachfahren Noahs? Sind wir nicht alle Geschöpfe Gottes, denen er sich lieben zuwendet? Doch der Mensch ist in seiner Liebe zu oft begrenzt und davor warnt Papst Franziskus eindrücklich mit dem Verweis auf die Geschwisterlichkeit. Christen, seid wie Josef, erbarmt Euch Eurer Brüder! Erbarmen ist das Ideal der Geschwisterlichkeit und die Nachahmung göttlichen Handelns:

"Das Erbarmen eines Menschen gilt seinem Nächsten, das Erbarmen des Herrn aber gilt allen Lebewesen. Er weist zurecht, erzieht und lehrt und führt wie ein Hirt seine Herde zurück." (Sirach 18,13)

Lebt so, dass alle Menschen Kinder Gottes sind, und betet mit Papst Franziskus: „Herr und Vater der Menschheit, du hast alle Menschen mit gleicher Würde erschaffen. Gieße den Geist der Geschwisterlichkeit in unsere Herzen ein.“ (Fratelli Tutti, Gebet zum Schöpfer) – das Ideal, nicht die Wirklichkeit!

 

Die Meinung des Autors spiegelt nicht unbedingt die Meinung der Redaktionsleitung von In Principio wieder. Der Text erscheint parallel auf dem Bibelblog "Dei Verbum".