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Vergib uns unsere Missbrauchstaten!

Vergebung in Zeiten der Missbrauchskrise

"Vergbung", fotografiert von jclk8888 - Lizenz: Pixabay
"Vergbung", fotografiert von jclk8888 - Lizenz: Pixabay

„Dann habe ich gesagt, dass ich es auch an der Zeit fände, dass unsere kirchlichen Hierarchen auch den Missbrauchstätern irgendwann vergeben würden,” erzählt Pfarrer Ulrich Zurkuhlen von seiner Predigt, die er im Juni gehalten hat und die von erbosten Gottesdiensteilnehmern durch Zwischenrufe unterbrochen wurde. Voller Zorn verließen ca. 70 Gläubige die Heilige Messer aufgrund dieser Predigt. In einer Kirche, die nicht zuletzt aufgrund der Missbrauchskrise am Boden liegt und nur noch zuckt, ist Vergebung für die Ohren der letzten Gläubigen keine denkbare Wiederbelebungsmaßnahme. Dabei wollte der Pfarrer doch nur die biblisch so wichtige Bedeutung von Vergebung hervorheben: „Wir beten ja nicht umsonst im Vaterunser: Vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.”

Bitte um Vergebung

Die Besonderheit dieser Vergebungsbitte lässt sich schon daran erkennen, dass sie im Grundgebet des Christentums die einzige Bitte ist, in der ausdrücklich das menschliche Tun und Handeln angesprochen werden: hierdurch wird die Bedeutung der zwischenmenschlichen Vergebung im Angesicht Gottes deutlich.

"Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben." (Matthäus 6,14-15)

Gottes Vergebung kann man sich nicht verdienen – die Kirche kann im Angesicht Gottes nur hoffen, dass Gott ihr die Taten der Priester vergibt. Aber gemäß dem Matthäus-Evangelium ist die zwischenmenschliche Vergebung eine notwendige Bedingung für den Empfang der göttlichen Vergebung. Dieser Gedanke ist bereits in einem nur auf Griechisch überlieferten Auszug aus dem Buch des Weisheitslehrers Jesus Sirach zu finden:

"Vergib deinem Nächsten das Unrecht, dann werden dir, wenn du bittest, deine Sünden vergeben! Ein Mensch verharrt gegen einen Menschen im Zorn, beim Herrn aber sucht er Heilung? Mit einem Menschen gleich ihm hat er kein Erbarmen, aber wegen seiner Sünden bittet er um Verzeihung? Er selbst – ein Wesen aus Fleisch, verharrt im Groll. Wer wird seine Sünden vergeben?" (Sirach 28,2-5)

Die Missbrauchstäter und diejenigen, die sie schützten, haben nicht nur gegen Gott oder die Kirche gesündigt, sondern sie haben sich gegen ihre Brüder und Schwestern gewendet, ihnen Unrecht, Leid und Qual zugefügt. Wie sollen die Opfer den Tätern vergeben können? Erst wenn sie den Tätern vergeben können, kann die Kirche um Vergebung für sich bitten – aber wer könnte sie zwingen? Nur wenn Du vergibst, werden Dir auch Deine Sünden vergeben – ein solcher moralischer Imperativ wäre in diesem Falle eine Vergewaltigung.

Ertragen?

In diesem Falle ist die Sprachwelt des Alten Testament vielleicht theologisch realistischer. Jemandem zu vergeben wird im Hebräischen durch das Verb סלח (gesprochen: salach) ausgedrückt und das einzige mögliche Subjekt dieses Verbes ist Gott. Nur Gott kann vergeben. Und die Voraussetzung der Bitte um Vergebung sind Reue, das Schuldbekenntnis und die Umkehr, wie es der Beter in einem Psalm formuliert:

"Selig der, dessen Frevel vergeben und dessen Sünde bedeckt ist. Selig der Mensch, dem der HERR die Schuld nicht zur Last legt und in dessen Geist keine Falschheit ist. Solang ich es verschwieg, zerfiel mein Gebein, den ganzen Tag musste ich stöhnen. Denn deine Hand liegt schwer auf mir bei Tag und bei Nacht; meine Lebenskraft war verdorrt wie durch die Glut des Sommers. Da bekannte ich dir meine Sünde und verbarg nicht länger meine Schuld vor dir. Ich sagte: Meine Frevel will ich dem HERRN bekennen. Und du hast die Schuld meiner Sünde vergeben." (Psalm 32,1-5)

Doch dabei gilt immer, dass der Täter sich keine Vergebung erwirken oder verdienen kann. Die alleinige Macht zu Vergebung liegt bei Gott.

Nun könnte man beim Durchblättern des Alten Testaments einwenden: Auch dort findet sich die zwischenmenschliche Aufforderung zum Vergeben! Die Brüder Josefs, die ihn misshandelt und verstoßen hatten, so dass er als Sklave nach Ägypten kam, wo er zu einem mächtigen Mann aufstieg, hatten nach dem Tod ihres Vaters eine große Sorge – nämlich das ihnen Gerechtigkeit widerfährt:

"Als Josefs Brüder sahen, dass ihr Vater tot war, sagten sie: Wenn sich Josef nun feindselig gegen uns stellt und uns tatsächlich alles Böse vergilt, das wir ihm getan haben." (Genesis 50,15)

Darum entscheiden sie sich dazu im Namen ihres toten Vaters zu handeln und ließen Josef wissen:

"Dein Vater hat uns, bevor er starb, aufgetragen: So sagt zu Josef: Ach, vergib doch deinen Brüdern ihre Untat und Sünde, denn Schlimmes haben sie dir angetan. Nun also vergib doch die Untat der Knechte des Gottes deines Vaters! Als man ihm diese Worte überbrachte, weinte Josef. Seine Brüder gingen dann auch selbst hin, fielen vor ihm nieder und sagten: Hier sind wir als deine Knechte. Josef aber antwortete ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes Stelle?" (Genesis 50,16-19)

Josef wird ihnen ihre bösen Taten nicht vergelten – dies steht ebenso wie die Vergebung nur Gott zu. Aber auch vergeben wird er ihnen nicht – denn um Vergebung bitten sie nicht. Im Hebräischen Text ist nicht das Verb סלח zu finden, sondern die Aufforderung ‎שָׂא נָא פֶּשַׁע (gesprochen: sa na pescha); wörtlich bedeutet dies: „Trage doch das Vergehen!“ Die Taten der Brüder lassen sich nicht rückgängig machen und auch nicht vergeben, aber sie können vielleicht rückblickend „ertragen“ werden. Aber auch dies ist keine Antwort, die die Kirche den Missbrauchsopfern geben kann: „Leb damit, ertrage es!“. Aber vielleicht wird die Kirche erkennen, dass die Vergehen der Priester an den Gläubigen Gottes ein Leid sind, das sie fortan durch die Geschichte tragen müssen. Die Kirche kann diese schrecklichen Taten nicht vergeben – ob Gott der Kirche vergeben wird, liegt allein in seiner Hand. Daher sollte jeder Priester, ob Täter oder nicht, im Namen der Kirche vor Gott und den Opfern des klerikalen Missbrauchs um Vergebung bitten, sodass die sündige Kirche den Weg zum gnädigen und barmherzigen Gott finden möge. Und wenn die Kirche dort eines Tages ankommen sollte, wird Gott vielleicht die Missbrauchsopfer fragen: Kann ich ihnen vergeben?

 

Die Meinung des Autors spiegelt nicht unbedingt die Meinung der Redaktionsleitung von In Principio wieder.