• Et // cetera

Hürden auslassen

… wenn Menschen mit Behinderung einfach verschwinden

Piqsels. Lizenz: gemeinfrei.
Piqsels. Lizenz: gemeinfrei.

Während in diesen Tagen in Tokio Menschen mit Behinderungen auf beeindruckende Art und Weise, die ihnen körperlich aufgestellten Hürden überspringen, bleiben die Hürden des Alltags doch für viele zu oft noch unüberwindlich. Seit der Zeit des Alten Testaments erklingt die Mahnung, dass Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, die in der Gesellschaft die Schranken der Behinderung fallen lassen: 

"Du sollst einen Tauben nicht verfluchen und einem Blinden kein Hindernis in den Weg stellen; vielmehr sollst du deinen Gott fürchten. Ich bin der HERR." (Levitikus 19,14)

In den Worten des gottesfürchtigen Ijob zeigt sich, wie eine solche Gottesfurcht praktisch auszusehen hat:

"Auge war ich für den Blinden, dem Lahmen wurde ich zum Fuß." (Ijob 29,15)

- dass die Realität eine andere ist, zeigt sich aber auch bereits im Alten Testament. Als zum Beispiel König David die Stadt Jerusalem, von den Jebusitern erobert, fordert er:

"David sagte an jenem Tag: Wer die Jebusiter schlagen will, muss den Zinnor erreichen, mit den Lahmen und den Blinden, die David verhasst sind. Daher sagt man: Ein Blinder und ein Lahmer kommt nicht ins Haus." (2 Samuel 5,8)

Gemäß der Erzählung hatten die Jebusiter zuvor die Uneinnehmbarkeit ihrer Stadt gepriesen und sich zugleich über König David lustig gemacht: Es würden die Lahmen und die Blinden in der Stadt genügen, um ihn und seine Krieger zu vertreiben (Vers 6). Die Forderung nach der Ermordung der Jebusiter mit all ihren Blinden und Lahmen könnte nun als geforderter Strafakt verstanden werden – schlimm genug! Doch der Text geht noch einen Schritt weiter. Die Blinden und Lahmen sind David verhasst – warum fragt man sich als Leser oder Leserin. Und dann wird eine Konsequenz gezogen, die die Leserschaft verwundert zurücklässt: „Ein Blinder und ein Lahmer kommt nicht ins Haus.“ Die antike, griechische Übersetzung dieser Stelle, verdeutlich sogar noch den Aufruf zur Ermordung der Menschen mit Behinderung und begründet dies klärend mit der Aussage, dass ‚solche‘ Menschen keinen Zutritt zum Heiligen Ort in Jerusalem, zum Tempel haben (den später der Sohn Davids, Salomo, bauen wird): „Blinde und Lahme werden nicht in das Haus des Herrn kommen.“ (Vers 5 gemäß LXX).

Diese Auslegung durch die griechischen Übersetzer wird bestärkt, wenn man das Vorkommen des Wortpaares „blind und lahm“ in der Hebräischen Bibel überprüft. Ein lahmes oder blindes Tier darf nicht im Jerusalemer Tempel geopfert werden (siehe Deuteronomium 15,21) und ein lahmer oder blinder Priester darf keine Opfer darbringen (siehe Levitikus 21,18).

Man könnte fast denken, eine Behinderung sei unheilig – doch im Buch des Propheten Jeremia verkündet Gott, dass aus dem Exil Gott auch die Lahmen und Blinden zurück in die Heilige Stadt, zurück nach Jerusalem geführt werden:

"Siehe, ich bringe sie heim aus dem Nordland und sammle sie von den Enden der Erde, unter ihnen Blinde und Lahme, Schwangere und Wöchnerinnen; als große Gemeinde kehren sie hierher zurück." (Jeremia 31,8)

Die Frage, ob und wie Menschen mit Behinderung einen Platz in der Gesellschaft – und auch im Kult – haben, wurde bereits in der Zeit der Bibel diskutiert. Die Autoren der Chronikebücher hatten eine einfache Lösung. Als sie die Geschichte Israels auf der Grundlage der Samuel- und Königebücher neuschrieben, änderten sie sowohl die Worte der Jebusiter als auch Davids – und zeigten damit selbst, wie falsch diese sind:

"Die Jebusiter aber sagten zu David: Du wirst nicht in die Stadt hereinkommen. Doch David eroberte die Burg Zion; sie wurde die Stadt Davids. Damals sagte David: Wer als Erster die Jebusiter schlägt, soll Hauptmann und Anführer werden." (1 Chronik 11,5-6)

Für sie hatte die Aussage, dass Blinde und Behinderte keinen Platz in der Mitte der Gesellschaft, keine Bedeutung mehr – sie konnte einfach verschwinden. Die zuvor aufgestellte Schranke, wurde wie eine Hürde einfach übersprungen, ausgelassen, aus dem Weg geräumt.

 

Die Meinung des Autors spiegelt nicht unbedingt die Meinung der Redaktionsleitung von In Principio wieder. Der Text erscheint parallel auf dem Blog "Dei Verbum".