8 Minuten und 46 Sekunden kniete der Polizist auf dem Nacken von George Floyd. So zu Boden gedrückt, rief er mehrmals „„Ich kann nicht atmen!“, bevor er völlig regungslos war. Sein Tod ist – wie so viele andere unnötige Tode zuvor – ein Sinnbild für unverhältnismäßige Gewalt US-amerikanischer Polizisten gegen afroamerikanische Mitbürger. Auf Videos, aufgenommen mit Smartphones, sieht man das Leid – George Floyd, niedergedrückt und unterdrückt. Die folgenden Anti-Rassismus-Demonstrationen führten zu Randale, Plünderungen und Vandalismus. Die Unterdrückung ist umgeschlagen in Gegengewalt – aus den Machtlosen sind selbst Gewalttätige geworden. Die Mahnung der Familie George Floyds, dass die Demonstrationen Ausdruck des friedlichen Widertands sein sollten, verhallt ungehört und der US-amerikanische Präsident bezeichnet sie bereits als „inländischen Terror“ und redet von einem nötigen Militäreinsatz. Die Frage, wie es in den USA – aber auch weltweit – aufgrund der Hautfarbe zu Rassendiskriminierung kommen kann, verhallt im Lärm der Gewalt.
Im vierten Kapitel des Buches Genesis wird die Geschichte der beiden Brüdern Kain und Abel erzählt. Aus Eifersucht ermordet Kain seinen Bruder Abel – gemäß der Bibel der erste Mord der Menschheitsgeschichte. Gott verflucht Kain für seine Tat und verjagt ihn vom Ackerboden. Kain fürchtet um sein Leben. Damit er trotz des Fluches, nicht um sein Leben fürchten muss, verleiht Gott ihm das Kainsmal:
„Der HERR aber sprach zu ihm: Darum soll jeder, der Kain tötet, siebenfacher Rache verfallen. Darauf machte der HERR dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde.“ (Genesis 4,15).
In der amerikanischen Kultur des 19. Jahrhundert war unter Christen in den Südstaaten der USA eine Auslegung dieser Textstelle verbreitet, die das Kainsmal mit schwarzer Hautfarbe gleichsetzte. Im Endeffekt wurde behauptet, dass jeder „Schwarze“ die Folge des ersten Brudermords der Geschichte sei. In Genesis 4,15 steht jedoch kein Wort darüber, was das Kainsmal war und es dient auch nicht zur Verurteilung, sondern zum Schutz Kains.
Die Hautfarbe ist nicht mehr und nicht minder als einfach eine Hautfarbe. Sie gehört zu einer Person. Sie kann nicht einfach abgelegt werden:
„Kann ein Kuschit seine Hautfarbe oder ein Leopard die Flecken seines Fells verändern?“ (Jeremia 13,23)
Mit dieser rhetorischen Frage erklärt der Prophet Jeremia die kommende Strafe gegen Jerusalem. Die Schuld Jerusalems ist so groß, dass die Katastrophe nicht mehr abzuwenden ist. So wie Flecken zu einem Leopard gehören, so eng ist die Verbindung der Stadt Jerusalem mit ihrer Schuld. Die Bewohner haben sich so an das Böse gewöhnt, dass sie selbst zum Bösen geworden sind. Sie können das Böse nicht mehr abstreifen und werden daher verurteilt. Es wäre falsch daraus zu schließen, dass in Jeremia 13,23 angedeutet würde, dass die Hautfarbe ein Symbol für die Schuld der Bewohner Jerusalems sei – die Flecken des Leopard sind ja auch kein Symbol für Schuld. Es geht um die Hautfarbe als gegebene Unabänderlichkeit – sie sagt nichts über den Charakter einer Person aus.
In der alten Einheitsübersetzung gab es hier eine denkbar schlechte Wortwahl in der Übersetzung: „Ändert wohl ein Neger seine Hautfarbe oder ein Leopard seine Flecken?“ Das Wort „Neger“ ist eng mit dem Kolonialismus, der Sklaverei und der Rassentheorie verbunden und wird in der heutigen Umgangssprache als rassistische und abwertende Bezeichnung einer Person verwendet. Der hebräische Text hingegen spricht von einem כושי (gesprochen: kuschi), einem Kuschiter – wie es nun auch in der revidierten Einheitsübersetzung steht. Die Septuaginta, die griechische Übersetzung des hebräischen Alten Testaments nennt den „Kuschiter“ einen „Äthiopier“ Im Hebräischen ist jedoch wahrscheinlich mit diesem Namen die Region des heutigen Sudan gemeint bzw. der Begriff „Kuschiter“ benennt die Nubier, die in der damaligen Zeit u.a. im südlichen Ägypten siedelten und zwischen 712 und 671 v. Chr sogar über ganz Ägypten herrschten..
Die einzige wertende Aussage in der Bibel über Hautfarbe als Merkmal eines Menschen findet sich im Hohelied. Dort verkündet die Protagonistin voller Stolz:
„Schwarz bin ich, doch schön, ihr Töchter Jerusalems, wie die Zelte von Kedar, wie Salomos Decken.“ (Hohelied 1,5).
Diese Wiedergabe des Verses in der Einheitsübersetzung ist irreführend. Im hebräischen Text liegt ein Wort vor, das üblicherweise mit „und“ übersetzt wird, aber auch mit „doch“ übersetzt werden kann. Dass die „schwarze“ Hautfarbe und die Attraktivität der Frau kein Widerspruch sind, wie das Wort „doch“ anzeigen könnte, wird durch die Vergleiche deutlich. Die „Zelte Kedars“ sind schwarze Ziegenhaarzelte. Textlich gibt es keinen Grund einen Widerspruch zwischen der Hautfarbe und der Attraktivität anzunehmen.
Doch Rassismus aufgrund der Hautfarbe ist kein Phänomen der Moderne, sondern darin drückt sich die irrationale Angst des Menschen vor dem Fremden aus. Eine Hautfarbe ist nicht mehr und nicht minder als einfach eine Hautfarbe und sie kann nicht einfach abgelegt werden. Auch in der Bibel kann die Hautfarbe für das Fremde stehen, gegen das sich ein Widerwort erhebt. Gemäß dem Buch Numeri hatte Mose eine Kuschiterin als Frau und dies wurde für seine Geschwister Mirjam und Aaron zum Stein des Anstoßes:
„Als sie in Hazerot waren, redeten Mirjam und Aaron gegen Mose wegen der kuschitischen Frau, die er sich genommen hatte. Er hatte sich nämlich eine Kuschiterin zur Frau genommen.“ (Numeri 12,1)
Mose hat eine Kuschiterin geheiratet – auch seine erste Frau Zippora war eine Nicht-Israelitin (siehe Exodus 2,21), sie stammte aus Midian. Das hervorstechende äußere Merkmal der Kuschiter war ihre Hautfarbe und es ist davon auszugehen, dass der Aufruhr Mirjams und Aarons gegen die zweite Frau Moses von der durch die Hautfarbe erkennbaren „Andersartigkeit“ herrührt. Der Text betont bewusst zweimal innerhalb des ersten Verses, dass Mose eine Kuschiterin geheiratet hat und markiert damit bewusst den Kritikpunkt – allerdings geht es in der folgenden Rede Mirjams und Aarons um etwas ganz Anderes: das Prophetenamt Moses.
„Sie sagten: Hat der HERR etwa nur durch Mose gesprochen? Hat er nicht auch durch uns gesprochen? Das hörte der HERR.“ (Numeri 12,1)
Plötzlich scheint die Erzählung ein ganz anderes Thema zu behandeln. Im Folgenden redet Gott zu Mirjam und Aaron und bekräftigt das besondere Amt Mose. Er ist nicht nur ein Prophet, sondern Gottes Knecht, dem er sein ganzes Haus anvertraut hat. Eine mögliche Erklärung für den plötzlichen Themenwechsel ist die Annahme, dass ein Redaktor den Text überarbeitet hat und die Thematik Moses Prophetentum in Verse 2-9 sekundär eingefügt hat. Für eine solche Leseweise spricht der Umstand, dass im Folgenden nur Mirjam bestraft wird, obwohl Mirjam und Aaron gemeinsam gegen Mose gesprochen haben. Diese Vermutung passt zu einer grammatikalischen Auffälligkeit in Vers 1: hier bezieht sich das Verb im Singular nur auf Mirjam und Aaron ist ohne Bezug nur angefügt – wörtlich heißt es in Vers: […] und es sprach Mirjam – und Aaron – über/gegen Mose […]. So könnte man annehmen, dass es zuerst nur eine Erzählung über Mirjam gab (Verse 1.9*.10b-15), die dann ergänzt wurde. Auffallend ist, dass die Strafe, die Mirjam widerfährt, sie in starken Kontrast zur Kuschiterin setzt:
„Als die Wolke vom Zelt gewichen war, siehe, da war Mirjam weiß wie Schnee vor Aussatz. Aaron wandte sich Mirjam zu und siehe, sie war aussätzig.“ (Numeri 12,10)
Durch das Widerwort gegen die schwarze Kuschiterin lässt Gott Mirjam krankhaft weiß werden – wodurch ihre eigene Hautfarbe zum Makel wird. Aber auch wenn Verse 2-9 auf den ersten Blick zwischen dieser engen Verbindung stören, stehen sie doch – selbst wenn man der genannten Redaktionstheorie folgt – bewusst an dieser Stelle. Inwiefern ist also die Heirat Moses mit einer Kuschiterin problematisch in Bezug auf sein Prophetenamt? In den Worten Mirjams und Aaron weisen sie daraufhin, dass Gott nicht nur exklusiv mit Mose gesprochen hat, sondern auch mit Ihnen. In Exodus 15,20-21 wird Mirjam sogar als Prophetin bezeichnet. Betrachtet man nur die Worte Mirjams und Aarons lesen sie sich als Kritik am Anspruch und der Autorität Moses. Aus dem Widerstand gegen die Kuschiterin erwächst somit die Kritik an der Autorität – aus dem Rassismus ersteht die Systemkritik.
Weder die Kuschiterin noch Mose geben einen Anslass für Mirjams und Aarons Kritik. Gott stellt sich ihnen entgegen:
„und der HERR sprach: Hört meine Worte! Wenn es bei euch einen Propheten gibt, so gebe ich mich ihm in einer Vision als der HERR zu erkennen, im Traum rede ich mit ihm. 7 Anders bei meinem Knecht Mose. Mein ganzes Haus ist ihm anvertraut. 8 Von Mund zu Mund rede ich mit ihm, in einer Vision, nicht in Rätseln. Die Gestalt des HERRN darf er sehen. Warum habt ihr euch nicht gefürchtet, gegen meinen Knecht, gegen Mose, zu reden?“ (Numeri 12,6-8)
In dem Gotteswort wird indirekt Mirjams und Aarons besonderer Status als Propheten hervorgehoben, dem jedoch Mose als Knecht Gottes übergeordnet ist. Aber Gott verurteilt nicht nur ihre Worte, sondern macht es ihnen auch zum Vorwurf, dass sie gegen seinen Knecht Mose geredet haben. Diese vorwurfsvolle Frage nimmt die Formulierung aus Vers 1 auf, dergemäß sie „gegen Mose wegen der kuschitischen Frau“ gesprochen hatten. Gott verurteilt somit in dieser Erzählung den Rassismus Mirjams und Aarons. Und so wie man eine Hautfarbe man sich nicht aussuchen und ebenso wie ein Leopard seine Flecken nicht einfach abstreifen kann, so kann man auch seine Hautfarbe nicht einfach ablegen. Was einen Menschen in seiner Würde definiert, steht am Anfang der Bibel in Gen 2,26-27: Jeder Mensch ist ein Abbild Gottes.
„Nicht wer zuerst die Waffen ergreift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer dazu nötigt“, schrieb Machiavelli. Doch Gewalt führt zur Unterdrückung und Unterdrückung zur Gewalt – das ist die Spirale der Hilflosigkeit. In den Psalmen erheben die Unterdrückten immer wieder ihre Worte und bitten Gott um Hilfe – doch in der strukturellen, rassistischen Gewalt einer Gesellschaft ist scheinbar kein Platz für Gott und die Würde seines Ebenbildes. So sind Gebetsworte auf den ersten Blick nutzlose Waffen.
Sei mir gnädig, HERR! Sieh doch mein Elend, wie sie mich hassen, du, der mich emporhebt aus den Pforten des Todes! (Ps 9,14)
Wären dies „passende“ letzte Worte George Floyds gewesen? Ein letzter Hilfeschrei? Im biblischen Hebräisch ist das hier mit „mein Elend“ übersetzte Wort bemerkenswert: עָ֭נְיִי (gesprochen: oni). Die Grundbedeutung ist „Erniedrigung / Demütigung / erfahrene Gewalt“. So beschreibt es passender als jedes deutsche Wort, was Unterdrückung – sowohl sozial als auch physisch – bedeutet. Zudem erklärt dieser Begriff wie kein anderer, dass Gott parteiisch auf der Seite der Unterdrückten steht. Die hebräische Sprache besteht aus Wortwurzeln, aus denen sich Nomen, Verben, Adjektive etc. ergeben. Und das Wort, das die Unterdrückung, sei es als Erniedrigung, Demütigung oder erfahrene Gewalt, ausdrückt, stammt aus derselben Wortwurzel wie das hebräische Wort für „Antwort“ und „antworten / erhören“ (ענה).
"Ich habe zu dir gerufen, denn du, Gott, gibst mir Antwort." Psalm 17,6
Gott erhöht den Unterdrückten. Das sollte Warnung und Zuspruch zugleich sein – je nachdem, auf wessen Seite man steht. Doch diese theologische Weisheit verstummt in der Spirale der Gewalt, wenn sie nicht gelebt wird: Gott erhöre die unerhört Unterdrückten!
Die Meinung des Autors spiegelt nicht unbedingt die Meinung der Redaktionsleitung von In Principio wieder.